SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Das Schisma und die sächsische
Symbiose – Musik im „Kernland“ des
Protestantismus in den zwei
Jahrhunderten nach Luther (4)
Von Frieder Reininghaus
Sendung:
Donnerstag 12. Januar 2017
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 Musikstunde mit Frieder Reininghaus
Das Schisma und die sächsische Symbiose – Musik im „Kernland“
des Protestantismus in den zwei Jahrhunderten nach Luther (4)
SWR 2, 09. Januar – 13. Januar 2017 - 9h05 – 10h00
Signet SWR2 Musikstunde
Das Schisma und die sächsische Symbiose – Musik im „Kernland“ des
Protestantismus. Dazu begrüßt Sie Frieder Reininghaus.
Titelmusik
Keine Frage: Die Reformation in vielen Regionen nördlich der Alpen erwies sich
auch in kirchenmusikalischer Hinsicht als Erneuerungsbewegung. Auf produktive
Momente des Lutherischen Chorals im weiteren Verlauf der Musikgeschichte vor
allem im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten Tagen immer wieder
verwiesen. Doch wie alle großen Umbrüche auf dem Gebiet der Satzkunst und
Stilistik – z.B. der Siegeszug der Monodie und des Generalbasses um 1600 oder der
mitteleuropäische Moderne vor dem ersten Weltkrieg – bedeutet auch das, was
sich im Auftrag und Namen des Protestantismus entwickelte, Zugewinn und
Verlust. Die kunstvoll komponierte Musik hatte sich seit dem Hochmittelalter vor
allem in Wechselwirkung zwischen Errungenschaften Italiens und denen im
Nordwesten Europas, im „franco-flämischen Raum“, so gut wie ausschließlich im
kirchlichen Raum entwickelt. Auch wenn die Hofmusik dann von dieser Evolution
profitierte: Der religiöse Kontext war die Basis – und die besaß, bei allen speziellen
regionalen und individuellen Ausprägungen ein bemerkenswertes Maß an
Einheitlichkeit. Damit war es nun fürs erste vorbei. Das Separatistische der neuen
Glaubens- und Gottesdienstformen zog auch musikalische „Sonderwege“ nach
sich.
Fünfzig Jahre nach dem Beginn der Reformation galt Jan Pieterszoon Sweelinck
als der talentierteste Organist der Niederlande. Schon in jungen Jahren wurde er,
in Nachfolge seines Vaters, Organist an der Oude Kerk in Amsterdam. Als die
Stadt 1578 zum Calvinismus übertrat, ging auch die Oude Kerk in deren Eigentum
über und Sweelinck wurde städtischer Angestellter. Da im calvinistischen
Gottesdienst unbegleitet gesungen wurde, fing er an, täglich öffentliche
Orgelkonzerte zu geben. Die entwickelten europaweit Ausstrahlung. Jungen
Musikern in Sachsen – wie z.B. Samuel Scheidt – oder Johann Praetorius in
Hamburg wurde empfohlen, sich bei Sweelinck fortzubilden. Als Beispiel seiner
Schreibweise hier die Echo Fantasia in a.
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Musik 1: Jan Pieterszoon Sweelinck, Echo Fantasia in a; Susanne Rohn, Orgel;
CD-Collection Luther und die Musik, note1music; Christoperus CHR 77403;
CD 8, Track 3; Dauer: 4’11“
Jan Pieterszoon Sweelinck, Echo Fantasia in a, komponiert am Ende des 16.
Jahrhunderts – an der Orgel Susanne Rohn.
Johann Walter, nachmals Kantor, Komponist und Mitglied der damals noch in
Thorgau ansässigen sächsischen Hofkapelle, wurde 1521 Bassist der kurfürstlichen
Kapelle in Altenburg und Anhänger der Reformation. In engem Schulterschluss
mit Martin Luther veröffentlichte er bereits 1524, im Jahr 7 der Reformation, in
Wittenberg ein Geystliches gesangk Buchleyn, das eine erste Sammlung von
Luther-Chorälen enthält. Im folgenden Jahr half Walter dem Mitherausgeber bei
der Fertigstellung von dessen Deutscher Messe. In Chorsätzen wie Christum wir
wollen loben schon von Johann Walter wird hörbar das Erbe der
vorreformatorischen Kontrapunktik fortgeschrieben – parallel zu den Modellen
der ‚neuen Einfachheit’. Dies geschah in völliger Übereinstimmung mit den
musikpolitischen Zielen der Wittenberger Reformation. Ohnedies verband die
katholische und evangelische Kirchenmusik dann in den folgenden
Jahrhunderten mehr, als gemeinhin angenommen wird. Lateinischsprachige
Kirchenmusik wurde in den lutherischen Städten durch die Lateinschulen
fortgeführt, z.B. in den Vespern oder durch Psalm-Motetten. Teil II von Johann
Walters Geystlichem gesangk Buchleyn enthält auch Kompositionen mit
lateinischen Texten. Freilich in erster Linie das genuin Neue.
Musik 2: Johann Walter, Christum wir wollen loben schon; Athesinius Consort
Berlin, Leitung: Klaus-Martin Bresgott; Doppel-CD Luthers Lieder, Carus 83 469;
CD 1, Track 20, : 2’12“
Es sang das Athesinius Consort Berlin, Leitung: Klaus-Martin Bresgott.
Luther war keineswegs der einzige und auch nicht der erste, der Modelle für
massenwirksame protestantische Kirchenlieder entwickelte. Um Nasenlänge
zuvorgekommen war ihm Ulrich Zwingli. Der war von Haus aus Soldat und
Feldprediger. 1519 kam er nach Zürich. In der Stadt wütete die Pest. Als
„Leutpriester“ am Großmünsterstift kümmerte er sich um Kranke und Sterbende,
bis er sich selbst infizierte. Sein Pestlied Hilff, Herr Gott, hilff in dieser Not war ein
Hilferuf, die Erfahrung der Genesung ein Wendepunkt in seinem Leben. Anlässlich
des Ersten Kappelerkriegs – des ersten Religionskriegs der Neu- gegen die
Altgläubigen, ergänzte Zwingli 1529 den Choral Herr, nun heb den Wagen selb.
Auch der von Martin Luther gehasste Gegenspieler in Thüringen, Thomas Müntzer,
wird als Urheber von Choral-Texten und -Melodien genannt: Das Bekenntnislied
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Singen wir heut mit einem Mund geht wohl auf ihn zurück. Es entstand 1523, als
Müntzer als Pfarrer in Allstedt (Thüringen) die Deutsche evangelische Messe
einführte. Von den Gegnern als „Schwärmer“ inkriminiert, wurde er 1525 Anführer
der aufständischen Bauern. Luther verdammte die räuberischen und
mörderischen Rotten der Bauern und mit ihnen Müntzer, der bei Frankenhausen
in Thüringen gefangen und geköpft wurde.
Ein Dutzend Jahre nach diesem deutschen Massaker setzte die Mitwirkung Jean
Calvins an der Neuordnung des Gemeindegesangs ein. 1539 erschien sein Erster
Psalter in Straßburg – mit eigenen Übersetzungen und Übertragungen von
Clément Marot. Claude Goudimel wurde zum wohl wichtigsten musikalischen
„Transmissionsriemen“ der Calvinschen Musik-Politik.
Musik 3: Claude Goudimel, Du fond de ma pensée; chant 1450; CD-Collection
Luther und die Musik, note1music; Christoperus CHR 77403; CD 8,
Track 6; Dauer: 0’49“
Jean Calvin definierte geistliche Musik als ein Mittel, das Herz zu bewegen; der
Text müsse allzeit verständlich sein. Damit wandte sich der francophone
Reformator gegen die Unverständlichkeit bzw. angebliche. „Zügellosigkeit“ der
katholischen Kirchenmusik und suchte das unbedingte Primat der Worte
festzuschreiben.
1551 versammelte der Genfer Psalter die Übertragung von sieben Dutzend
Psalmen ins Französische durch Clément Marot und Théodor Bèze. Der Erfolg
dieser Choral-Sammlung veranlasst zahlreiche Musiker, sie mit Melodien und vieroder mehrstimmigen Harmonisierungen zu versehen. Unter diesen Zulieferern
befanden sich Claude Goudimel und Claude Lejeune. Deren Sätze trugen zur
weiteren Popularisierung des Psalters und zur Herausbildung einer
protestantischen kulturellen Identität wesentlich bei. Beliebtheit erlangen
insbesondere die schlichten vierstimmigen Sätze Goudimels. Durch sie vor allem
verbreitet sich gegen Calvins ursprüngliches Plädoyer für den einstimmigen
Gemeindegesangs der mehrstimmige Psalmengesang in reformierten Kirchen.
Allerdings waren Dreiertakte bei diese Form des Gesangs wegen der Nähe zu
Tanzrhythmen ebenso verpönt wie Punktierungen. Die Melodienvorlagen
entstammen unterschiedlichen Quellen, gingen entweder auf gregorianische
Choräle oder Volksmusik zurück (einige Weisen sind ungeachtet der Differenzen
Übernahmen von lutherischen Liedern).
Das Ensemble chant 1450 (mille quatre cent cinquante) interpretiert Claude
Goudimels Les cieux en chacun lieu, das auf Psalm 19 basiert.
Musik 4: Claude Goudimel, Les cieux en chacun lieu; chant 1450;
CD-Collection Luther und die Musik, note1music; Christoperus CHR 77403; CD 8,
Track 12, Dauer: 1’29“
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Das Kurfürstentum Sachsen nahm im religiös-politischen Umbruchprozess der
Reformation ab den 1520er Jahren eine Schlüsselstellung ein. Diese ist im
besonderen verknüpft mit den Namen der Kurfürsten Friedrich III. des Weisen und
Johann des Beständigen . Das Land im Herzen des Heiligen Römischen Reichs
deutscher Nation war mächtig und bereits relativ souverän durch den Reichtum
an Edelmetall – und auch kulturpolitisch in besonderer Weise handlungsfähig. Es
leistet sich mit Mattheus Le Maistre und Antonio Scandello hochkarätige
Kapellmeister aus den Niederlanden bzw. Oberitalien. Dann mit dem in Venedig
ausgebildeten Henricus Sagittarius – Heinrich Schütz, der 1616 aus Kassel
abgeworben wurde. In dessen lange Amtszeit fällt der kriegsbedingte große
ökonomische Einbruch. Die Kosten des 1618 in Böhmen ausbrechenden
30jährigen Kriegs zwangen Sachsen von 1620 an zu Sparmaßnahmen. Die
Aufwendungen für die Hofkapelle wurden drastisch reduziert, drei Jahre später
die Gehaltszahlungen für sämtliche Musiker gänzlich ausgesetzt. Schütz wich
dreimal für zwei oder drei Jahre nach Kopenhagen aus.
Hier nun (der Schluss-Abschnitt der/die) vielstimmige(n), an den damals neuesten
Arbeiten der Gabrielis in Venedig schulte(n) Motette zum Michaelisfest, deren
Komposition Heinrich Schütz von Heinrich Spitta zugeordnet wurde. Das mit
Mehrchörigkeit und Blechbläserglanz prunkende Werk nach Versen aus Luthers
Übersetzung der Offenbarung des Johannes stammt offensichtlich aus einer Zeit,
in der die Musiker bezahlt werden konnten.
Musik 5: Heinrich Schütz, Es erhub sich ein Streit im Himmel; Johann Rosenmüller
Ensemble, Kammerchor Bad Homburg, Leitung Susanne Rohn; CDCollection Luther und die Musik, note1music / Christoperus CHR 77403;
CD 8, Track 9; Dauer max.: 7’53“ / ggf. nur 0’45“
[Die 18stimmige Motette Es erhub sich ein Streit im Himmel von Heinrich Schütz; es
sang der Kammerchor Bad Homburg, begleitet vom Johann Rosenmüller
Ensemble – prunkvolle Hofkirchenmusik aus den fetten Jahren des
Kurfürstentums.]
Nach dem Westfälischen Frieden erholt sich Sachsen rascher als andere
Landstriche vom Dreißigjährigen Krieg, von Hunger und Pest. [Doch offensichtlich
gab es beim Reinstallieren einer ordentlichen Hof- und Kirchenmusik zunächst
Probleme. Aus dem Jahr 1650 ist ein Dokument erhalten: Ihm zufolge wollten die
Behörden in Dresden gegen „diejenigen untüchtigen Gesellen und andere die
sich der Trommeten ungebührend gebrauchen“ vorgehen (vermutlich auch
gegen die in Folge des Kriegs undiszipliniert gewordenen wohlbestallten Musiker);
in Aussicht gestellt wurde „ernste Bestrafung der Verbrecher“.
Relativ rasch ging es dann im Kernland des Protestantismus ökonomisch und
kulturell wieder aufwärts.] 1659 erschienen in Zittau und Dresden Andreas
Hammerschmidts Fest- Bus und Dancklieder für 5 Singstimmen, 5 Instrumente ad
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libitum und Basso continuo – hörbar unter Einfluss des katholischen Südens. Die
Besetzung (und damit der Aufwand in jeder Hinsicht) steigerten sich rasch: 1663
fordert Hammerschmidts Missae […] tam vivae voci quam instrumentis varijs
accomodatae die Mitwirkung von 5 bis12 Stimmen (und mehr).
Ein Jahr zuvor war in Dresden mit Il Paride, einem Werk in venezianischem Stil von
Giovanni Andrea Bontempi (1642–1707), wohl erstmals nördlich der Alpen opera
italiana gegeben und unmittelbar im Anschluss daran mit dem Bau des
Opernhauses am Taschenberg begonnen worden (Einweihung 1667). Dieses
„Komödienhaus“ war einer der größten Theaterbauten der Zeit, konnte bis zu
2000 Besucher fassen. Es wurde mit zunehmender, wahrhaft
gegenreformatorischer „katholischer“ Opulenz bespielt. Mit Margherita Salicola
trat 1686 erstmals eine Sopranistin – eine Frau! – an der Dresdener Hofoper auf
und machte Sensation.
1697 trat August (der Starke), Kurfürst von Sachsen, zum Katholizismus über (dies
war Voraussetzung für seine Wahl zum König in Polen). Es dauerte zwar mehrere
Jahre, bis in Dresden eine katholische Hofkirche erbaut und für sie Kirchenmusik
eingerichtet wurde, unter Jan Dismas Zelenka (1679–1745) dann – parallel zur
Tätigkeit von Johann Sebastian Bach in Leipzig – höheres Niveau erreichte.
Ohnedies leistete sich die Hofhaltung Augusts den erdenklich größten Luxus: Der
Altus Senesino, in Venedig, Bologna und Neapel zum Star aufgestiegen, wurde
mit der enormen Gage von 7.000 Talern nach Dresden engagiert (die
Umrechnung erweist sich als schier unlösbares Problem, da auch in der
Wissenschaft strittig ist, welche Koordinaten angelegt werden; ich schlage fünf bis
sieben Millionen Euro vor).
Damit Dresden aber konkurrenzfähig zu Paris und Wien werden konnte, bedurfte
es nicht nur der erheblichsten finanziellen Mittel und eines neuen prächtigen
Opernhauses, das 1719 nebst dem Zwinger mit Antonio Lottis Giovi in Argo
eröffnet wurde, sondern auch eines musikalischen Kopfes, der als Komponist und
Dirigent das Dresdner Profil schärfte. Er wurde mit dem heute weithin
unterschätzten Johann Adolf Hasse gefunden. Hasse stellt sich 1731 mit Cleofide
vor und sorgte 32 Jahre lang für Glanz und Gloria. 1753 kam sein orientalisch
kolorierter Solimano zur Uraufführung, mit „würcklichen Pferden“, dazu
„Elephanten, Cameele, Dromedaires, so insgesamt der Königl. Stall hierzu
hergegeben, nach Asiatischem Gebrauch aufs prächtigste ausgeputzet“. Und
zwischen den Akten – in der Sprache der Zeit – nach „jeder Haupt-Handlung
wurden von denen Königl. Täntzern die allerinventieusten Täntze vorgestellt“. Hier
die Ouverture zu ..., gespielt von ...
unter Leitung von ...
Musik 6: Johann Adolf Hasse, Ouverture zu Cleofide
Musica Antiqua, Leitung: Reinhard Goebel
SWR M0012567 W01, Dauer: ca. 5’00“
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Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Cleofide in Dresden wurde deren Prunk
noch getoppt: Bei Hasses Ezio waren auf der Bühne rund 100 Pferde, Dromedare,
Maultiere, Kamele, vierspännig gezogene Triumphwagen sowie 400 Komparsen
im Einsatz. Es hat, gerechnet vom Ende des Dreißigjährigen Krieg, hundert Jahre
gedauert, bis die Dresdner Hofoper den Musiktheatern in London, Neapel, Paris
und Wien ebenbürtig wurde – und es bedurfte der durch besondere finanzielle
Aufwendungen nach Sachsen gelockten Künstler, um das Haus in die
Spitzenklasse zu bringen. Das große Glück freilich zerstob erst einmal, als 1760
Truppen des Preußenkönigs Friedrich II. Dresden verwüsteten. Auch Hasses Haus
ging in Flammen auf – vernichtet wurden sämtliche Manuskripte und die zum
Stich vorbereitete Gesamtausgabe der Werke.
Doch trotz dieses schweren Rückschlags für das blühende sächsische Kulturleben
kann festgehalten werden, dass die Parallelität und im Wesentlichen produktive
Konkurrenz von lutherischer und katholischer Kultur im Kernland des
Protestantismus eine wesentliche Voraussetzung für das Prosperieren von Hofund Kirchenmusik waren. Gerade auch für den Glanz der Bachschen Musik, bei
der die Faktur der weltlichen jener der geistlichen zum Verwechseln ähnelt.
Musik 7: Johann Sebastian Bach, „Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“
Kantate BWV 214, No.1, Coro;
Collegium Vocale Gent, Leitung Philip Herreweghe
SWR M0073590 W02,Dauer: ca, 6’30“
„Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“ – Der Eingangschor der Kantate zum
Geburtstag der Königin von Polen und Kurfürstin zu Sachsen am 8. Dezember
1733 – im folgenden Jahr umgearbeitet als Einleitung des Weihnachts-Oratoriums
von Johann Sebastian Bach.
[Der württembergische Pianist, Komponist, Dichter, politische Publizist und
Protestant Christian Friedrich Daniel Schubart schrieb aus der Distanz von
zweihundert Jahren: „Als Luther auftrat, da war die Kirchenmusik der Deutschen
bereits in leere, strotzende Pracht ausgeartet. Man maß die Musik nicht mehr
nach ihrer einfältigen Wirkung, sondern nach dem Aufwande.“ Schubart brachte
zum Ausdruck, was ‚die Evangelischen’ in der Mitte des 18. Jahrhunderts von der
kontrapunktisch artifiziellen Chor-Polyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts
dachten (die sie aber kaum mehr kannten): Die vorlutherische Musik war
abgetan.]
Dass so manches von der Kunstfertigkeit der vorreformatorischen Alten Meister
oder der zeitgenössischen Italiener und Franzosen im 17. Jahrhundert in die Werke
der protestantischen Organisten und Komponisten nördlich der Alpen Eingang
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fand, war nicht nur der fortdauernden Mobilität der Musiker geschuldet, die in
vielen Fällen Italien bereisten – Heinrich Schütz ebenso wie G.F. Händel –,
wenigstens aber allemal in Amsterdam, Hamburg, Leipzig oder Dresden die
neuesten Notendrucke der italienischen Zeitgenossen studierten. Dass sich die
musikalische Spaltung zwischen Nord- und Südeuropa nicht so lang anhaltend
und grundsätzlich vollzog (wie die im Gefolge des Schismas zwischen Ost- und
Westkirche), ist auch der von Luther betriebenen „Musikpolitik“ geschuldet.
Anders als die der Calvinisten vermied sie den vollständigen Bruch.
Ein frühes Dokument für die sächsische Symbiose von protestantischem und
katholischem „Ton“ stellt Michael Altenburgs Jenaer Festmusik zur
Reformationsfeier 1617 dar, die u.a. auch auf Luthers Apokalypse-Übersetzung
rekurrierte. Hier nochmals präsentiert vom Johann Rosenmüller Ensemble unter
Leitung von Susanne Rohn.
Musik 8: Michael Altenburg, Englische Schlacht; Festmusik zur Reformationsfeier
1617; Johann Rosenmüller Ensemble, Kammerchor Bad Homburg, Leitung
Susanne Rohn; CD-Collection Luther und die Musik, note1music /
Christopherus CHR 77403; CD 8, Track 6; Dauer: 2’15“
In Abgrenzung zu vorangegangenen kirchenreformatorischen Bewegungen wie
der im 14. Jahrhundert in England von John Wyklif initiierten oder der von Jan Hus
im Böhmen des frühen 15. Jahrhunderts ausgehenden erörterte Egon Friedell –
wie dann auch Thomas Mann – den Protestantismus als „die deutsche Religion“.
Um die „Stimmung im Volk“ zu charakterisieren, zitierte er Hans Sachs und dessen
Wittenbergisch Nachtigall von 1523: „Wacht auf, es nahet sich der Tag! Ich höre
singen im grünen Hag / die wonnigliche Nachtigall; / ihr Lied durchklinget Berg
und Tal [...] Die rotbrünstige Morgenröt / her durch die trüben Wolken geht“. Das
ist – nach 345 Jahren – dröhnend wirksame große Musik geworden (mit
Nachwirkungen, die hier und heute ausgeblendet bleiben sollen). Als der aus
Sachsen stammende Dichterkomponist Richard Wagner 1868 mit seiner Großen
Komischen Oper Meistersinger Traditionsbindung und Innovation des
kunstfertigen Singens verhandelte, tat er dies im Kontext des frühen
Protestantismus und aus dem Verständnis der Reformation als „deutscher
Revolution“: „Wacht auf!“ – „Deutschland erwache!“
Musik 9: Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, 3. Aufzug; „Wacht
auf“; Deutsche Oper Berlin, Eugen Jochum; DG 415 278-2; CD 4, Track 10, Dauer:
1’05“
Man geht wohl nicht ganz in die Irre mit der Erwägung, dass Entstehung und
besondere Wege einer spezifisch „deutschen Musik“ mit der Ausbreitung und
Konsolidierung des Protestantismus zusammenhängen – eben kraft der
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nationalen Komponente im reformatorischen Prozess als „deutscher Religion“
und „deutscher Revolution“.
Zur Hypertrophie des deutschen Musikdenkens trug eine literarische Figur nicht
unwesentlich bei, die für Musiker und Musik seit dem späten 18. Jahrhundert
besondere Bedeutung gewann: „Faust – ein deutscher Mann“. Der
jungdeutsche Literat Ferdinand Gustav Kühne resümierte 1834: „Der Faust sitzt
dem Deutschen wie Blei auf den Schultern, hat sich ihm ins Herz genistet, in sein
Blut eingesogen; wir sitzen und dichten und dämmern über das Schicksal, das wir
in uns selbst tragen, wir käuen und käuen daran und können uns selbst nicht
verdauen.“ Es sei ein großer Fehler der Sage und der bisherigen Dichtungen,
dass sie Faust nicht mit der Musik in Verbindung bringen, monierte Thomas Mann
1945, wiewohl er längst die größte Kraftanstrengung aufgebracht hatte, seinen
abgründigen Roman-Helden Dr. Adrian Leverkühn dies Ver¬säumte nachholen
zu lassen. „Soll Faust der Repräsentant der deutschen Seele sein“, erläuterte der
Romancier, „so müßte er musikalisch sein; denn abstrakt und mystisch, d.h.
musikalisch, ist das Verhältnis der Deutschen zur Welt.“ Konsequenterweise
machte Thomas Mann die Titelfigur seines Faustus-Romans zu einem „deutschen
Tonsetzer“ des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts.
1945, wenige Tage nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, tarierte der
Romancier in seiner Grundsatzrede über Deutschland und die Deutschen nicht
nur die Ambivalenz der historischen Figur des „konservativen Revolutionärs“
Luther aus, sondern auch seine eigene ambivalente Haltung zu ihr; er verwies auf
das von ihm verkörperte „Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische,
Anti-Europäische“ – und auf die diabolischen politischen und kulturellen Folgen
der europäischen Nord-Süd-Spaltung.
Am Punkt des in der Musik kulminierenden „Deutschen in Reinkultur“ hatte sich
Thomas Mann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Saulus zum Paulus
gewandelt – vom Fürsprecher der Dominanz Deutschlands zum vehementen
Kritiker des hybride Nationalistischen und zum Protagonisten eines europäisch
orientierten Kulturdenkens. Ziemlich am Anfang der zwiespältigen
Selbstüberhöhung von kontrapunktisch geprägter Musik als spezifischer
„tönender Ausdruck“ deutscher Kultur steht die Vereinnahmung Johann
Sebastian Bach durch den Göttinger Universitäts-Musikdirektor Johann Nikolaus
Forkel als „Nationalangelegenheit“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Gerade aber
der in theologischer Hinsicht so streng auf Luther sich beziehende Sachse Bach,
der auch in „italienischem Gusto“ schrieb (und viel von den italienischen
Kollegen lernte), der die zu seiner Zeit neuesten französischen, englischen und
polnischen Schreibweisen in seine Arbeit adaptierte, lässt sich nur mit Ranküne für
eine „deutsche Musik in Reinkultur“ vereinnahmen.
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Musik 10: Johann Sebastian Bach, Italienisches Konzert; Schluss-Satz: Presto
Richard Egarr
SWR M0378836 W05, Dauer: 3‘46
Sie hörten abschließend den dritten Satz des Italienischen Konzerts von Johann
Sebastian Bach in einer Aufnahme mit Richard Egarr.