Eine umfassendere Version des Interviews.

Interview: Tobias Graden
Christine Beerli, wie verbringen Sie das nächste Wochenende?
Christine Beerli: Ich werde es vor allem den Solothurner Filmtagen widmen. Am Donnerstag
werde ich an meiner letzten Eröffnung als Präsidentin sein, am Freitag arbeite ich, am Samstag
bin ich am Filmtage-Anlass mit dem Kunstmuseum Aarau.
Freuen Sie sich darauf?
Sehr! Ich bin nun seit zwölf Jahren Präsidentin – deswegen höre ich auch auf, ich habe mir
vorgenommen, ein Mandat nie länger als zwölf Jahre zu bekleiden.
Warum?
Es ist gut, wenn man Sachen so lange macht, dass sie sich nicht zu wiederholen beginnen. Und
ich will der jungen Generation die Gelegenheit zum Nachrücken geben. Ich will nicht so lange in
einem Amt bleiben, bis ich selber nicht mehr merke, dass ich gehen sollte.
In der Öffentlichkeit nimmt man vor allem Filmtage-Direktorin Seraina Rohrer wahr.
Das ist auch gut so.
Was war denn Ihre Aufgabe?
Das ist wie an anderen Orten mit strategischer und operativer Führung: Man soll vor allem die
Direktorin wahrnehmen. Ich habe mit dem Vorstand des Vereins die strategische Ausrichtung
stark beeinflusst. Gerade bei der Wahl der neuen Direktorin habe ich entscheidend mitwirken
können.
Die Wahl von Seraina Rohrer war mutig, mit Ivo Kummer hat ja ein sehr starkes Aushängeschild die Filmtage
verlassen.
Ivo Kummer und die Filmtage, das war wie eine Einheit. Man wünschte sich einen nächsten Ivo
Kummer, wir hatten sehr viele Bewerbungen, entschieden uns aber ganz bewusst für den Bruch.
Man darf sagen, es war ein Erfolg, Seraina Rohrer leistet ausgezeichnete Arbeit.
Die Filmtage sind in den letzten zehn Jahren gemessen an den Zuschauerzahlen um über 50 Prozent gewachsen.
Worauf ist das zurückzuführen?
Der Film ist ein Medium, das nach wie vor stark interessiert. Das Schweizer Filmschaffen hat
sich gut entwickelt. Und wir konnten mit den Neuerungen mithalten, nicht nur technisch,
sondern wir konnten auch ein neues, junges Publikum ansprechen – gerade dank Seraina Rohrer.
Jetzt haben wir einen guten Mix zwischen dem vertrauten, treuen Publikum und neuen Leuten.
Der Filmpreis zog 2009 nach Luzern, in diesem Jahr müssten Besitzer von Tageskarten und Abonnementen
erstmals im Voraus online reservieren, was das Festivalfeeling einschränkt. Werden die Filmtage zu gross für den
Austragungsort Solothurn?
Das denke ich nicht. Aber es ist in der Tat eine Herausforderung, dass wir nicht vom eigenen
Erfolg aufgefressen werden. Das Ticketing nicht klappte nicht optimal, man musste anstehen, um
dann doch keinen Platz zu kriegen. Dem wollen wir mit dem elektronischen Ticketing und der
App begegnen, aber auch mit neuen Sälen. Die Diskussion, die Filmtage an einem anderen Ort
zu veranstalten, ist aber vom Tisch. Die Atmosphäre in Solothurn ist zu wichtig für die Filmtage.
Allerdings haben die Filmtage Mühe, genug Sponsoren zu finden.
So kann man das nicht sagen. Wie bei allen ähnlichen Organisationen ist die Sponsorensuche eine
Daueraufgabe. Wir haben gute Sponsoren, die uns über die Jahre treu geblieben sind. Der
weggefallene Hauptsponsor hörte nicht auf, weil er unzufrieden gewesen ist, sondern weil er sich
neu ausgerichtet hat. Die Filmtage sind gut finanziert, wir haben auch Reserven. Einen neuen
Hauptsponsor suchen wir nicht in Panik, sondern in einem ordentlichen Verfahren.
Wie oft sind Sie ausserhalb der Filmtage im Kino anzutreffen?
Recht häufig, wenn ich dazukomme. Entweder in Genf unter der Woche, oder am Wochenende
in Biel.
Haben Sie einen Lieblingsfilm?
Das wechselt. Zuletzt habe ich «Paterson» gesehen von Jim Jarmusch, das ist ein sehr schöner,
ruhiger Film.
Wenn Sie das Jahr 2016 Revue passieren lassen, dürften Sie als Vizepräsidentin des IKRK eher das Gefühl
gehabt haben, in einem schlechten Film zu sitzen.
Das IKRK war ausserordentlich gefordert, schon 2015, und ich gehe davon aus, dass 2017 nicht
besser wird. Wir sind in sehr vielen Konfliktherden tätig, haben zum Glück aber praktisch überall
Zugang und können unsere Hilfeleistungen erbringen. Es ist enorm viel Arbeit, es sind viele
Herausforderungen, und diese werden immer schwieriger.
Inwiefern?
Es geht um Fragen des Zugangs: Können wir dort sein, wo die Not am grössten ist? Wie können
wir unser Mandat erfüllen und dort präsent sein, wo es am gefährlichsten ist, und gleichzeitig
unsere Verantwortung als Arbeitgeber für unsere Leute wahrnehmen? Die Art der heutigen
Konflikte macht dies auch nicht einfacher, denn häufig handelt es sich nicht mehr um Konflikte
zwischen zwei Staaten, sondern zwischen Staaten und Oppositionsgruppierungen. In Syrien sind
es zum Beispiel hunderte verschiedene Gruppierungen. Um unsere Akzeptanz und so den
Zugang erwirken zu können, müssen wir mit allen in Kontakt sein. Das ist eine hochkomplexe
Situation.
Was ist Ihnen aus dem Jahr 2016 besonders in Erinnerung geblieben?
Eine enorme Belastung ist es, wenn Mitarbeitende des IKRK als Geiseln genommen werden. Das
ist auch 2016 vorgekommen. In Syrien sind drei Mitarbeitende immer noch in Geiselhaft, aktuell
haben wir gerade eine Geiselnahme in Afghanistan.
Das IKRK sollte von allen Parteien als neutrale, rein helfende Kraft anerkannt werden. Was sagt es aus über die
Konfliktparteien, wenn sie IKRK-Leute als Geiseln nehmen?
Es zeigt, dass die Situationen häufig sehr chaotisch sind, dass es auch eine Vermischung gibt
zwischen politisch motivierten Konfliktparteien und schlicht kriminellen Elementen. Letztere
versuchen, mit Ausländern in ihrem Gebiet ein Geschäft zu machen.
Wie muss man sich Ihre Arbeit als Vizepräsidentin des IKRK eigentlich vorstellen?
Präsident Peter Maurer ist das Gesicht des IKRK gegen aussen, er ist auch unser Chefdiplomat
und hat den Kontakt zu Regierungen. Ich bin eher für die inneren Angelegenheiten zuständig,
bin eher in der strategischen Führung und Aufsicht des «Unternehmens» IKRK tätig. Und ich
kümmere mich schwergewichtig um den Kontakt mit dem «Movement», also den nationalen
Rotkreuz- oder Halbmondgesellschaften, die sich mit den Themen in ihren Ländern und
Naturkatastrophen beschäftigen, während das IKRK bei Konflikten zum Zug kommt.
Reisen Sie auch ins Ausland?
Ja, die Arbeitsteilung zwischen mir und dem Präsidenten ist fliessend. Ich mache auch
diplomatische Besuche vor Ort. Am Sonntag zum Beispiel gehe ich an eine internationale
Veranstaltung über Migration in Paris.
Gehen Sie auch in Krisenregionen?
Ich war letztes Jahr im Südsudan, ich war schon in Kolumbien und mehrmals in Afghanistan. Die
ganz aktuellen grossen Krisen aber deckt der Präsident ab. Peter Maurer ist gerade aus dem Irak
zurückgekommen und er ist auch häufig in Syrien.
Ihre Aufgaben dürften auch belastend sein. Wie gehen Sie damit um? Afghanistan etwa ist ja eine hoffnungslose
Geschichte.
Afghanistan ist ein sehr faszinierendes Land. Es ist sehr einnehmend, und wenn man erst mal das
Vertrauen der Menschen gewonnen hat, sind sie sehr verlässlich. Aber die Lage ist ein Drama.
Das IKRK ist seit 40 Jahren präsent. Nun ist die nternationale Koalition grösstenteils weg, und
die Situation wird nicht besser, sondern täglich schlechter. Die Lage ist gefährlicher als noch vor
zwei Jahren, und neu kommt der Einfluss des islamischen Staates hinzu, während die Taliban
stark territorial ausgerichtet waren. Natürlich bedrückt mich das. Aber wir können wenigstens
etwas beitragen, um zu helfen.
Kennen Sie denn keine Resignation?
Je besser man die Situation kennt, desto schlechter kann man eine resignative Haltung
einnehmen. Denn dann kennt man die Menschen persönlich, bringt Gesichter mit dem Land in
Verbindung und sieht, dass es Menschen gibt, die an Lösungen arbeiten. Mich motiviert das zu
helfen. Hinzu kommt: Die Welt ist so klein geworden, dass uns Afghanistan etwas angehen muss.
Die Migrationsströme in den letzten beiden Jahren bestanden auf der Balkanroute zu einem
Drittel aus Menschen aus Afghanistan.
Wie sähe aus Ihrer Sicht eine mögliche Lösung für Afghanistan aus?
Es wäre völlig vermessen, wenn ich eine Lösung präsentieren würde. Niemand hat diese. Es ist
eine hochkomplexe Situation, zumal das Land im Spannungsfeld zwischen Indien und Pakistan
liegt. So lange dieses Spannungsfeld besteht, wird Afghanistan dazwischen aufgerieben, weil
immer eine Partei kein Interesse an einer Beruhigung hat. Ob die Lösung von aussen kommen
kann, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich ist, dass die umliegenden Länder Einfluss nehmen –
Russland, China und der Iran.
Das IKRK wird zu einem guten Teil von den USA finanziert. Nun werden die USA mit Donald Trump einen
Präsidenten haben, der sich offenbar um die internationale Verantwortung und die Führungsrolle des Westens
foutiert und ohnehin nicht einen sehr humanistischen Eindruck macht. Welche Auswirkungen wird dies auf das
IKRK haben?
Die USA sind in der Tat seit Jahren der grösste Geldgeber. Sie zahlen 450 Millionen Dollar an
das Budget von 1,8 Milliarden – die nächstgrössten Geldgeber sind Grossbritannien und die
Schweiz. Wir sind also stark «okzidental» finanziert, haben aber 60 Prozent unserer Einsätze in
muslimischen Ländern. Wir versuchen, die Finanzierung breiter abzustützen. Die USA sind
einerseits Donator, anderseits Gesprächspartner in den Konfliktregionen. Diese Ebenen sind
bislang nie vermischt worden,weder unter republikanischen noch demokratischen Regierungen.
Die USA haben nie versucht, Druck auszuüben, obwohl wir harte Diskussionen hatten –
Stichworte Guantànamo oder Abu Ghraib. Wir gehen davon aus, dass dies auch in Zukunft so
möglich ist. Aber wir wissen auch nicht, was mit der neuen Regierung auf uns zukommt.
Können Sie bei China und Russland überhaupt Verständnis wecken für die Vision des IKRK?
Die Möglichkeiten sind gestiegen, seit China und Russland aussenpolitisch aktiver sind. China
beispielsweise hat grosse Interessen in Afrika, und wir konnten auch schon zur Befreiung
chinesischer Geiseln in Afrika beitragen. So kommt man ins Gespräch, und die Regierung sieht,
dass wir in der Lage sind, Leistungen zu erbringen, die für China von Interesse sind.
Chinas Politik leitet sich also in jedem Fall von den eigenen Interessen ab.
Alle Staaten sind interessengeleitet. Wir halten uns aus der Politik raus. Wir sind neutral,
unparteiisch, unabhängig und rein humanitär, das gilt auch im Umgang mit Konfliktparteien. Wir
halten den Kontakt mit allen Parteien, um helfen zu können. Das hat man letzten Monat in
Aleppo gesehen, als wir 50’000 Menschen evakuieren konnten.
Fällt einem diese neutrale Haltung nicht manchmal schwer? In Aleppo war ja offensichtlich, wer die Stadt
bombardiert hat.
Ein IKRK-Delegierter hat natürlich immer eine persönliche Meinung. Aber er muss diese für
sich behalten können, darf sie nicht gegen aussen tragen und muss in seiner Arbeit dem Mandat
folgen. In Aleppo haben wir mit der Schweizerin Marianne Gasser eine wunderbare
Delegationsleiterin. Ich habe grosse Achtung, wie sie es schafft, gegenüber allen Seiten eine
konsequente Haltung zu vertreten, aber auch stets gesprächsbereit zu sein.
Die Menschen in Aleppo haben sich gerade vom Westen vernachlässigt gefühlt. Wie bewerten Sie die Rolle des
Westens im Syrien-Konflikt?
Ich möchte sie nicht bewerten. Es spricht aber Bände, dass die anstehenden Gespräche in Astana
von Russland, der Türkei und dem Iran organisiert sind. Doch am meisten Sorgen macht mir,
dass sich für die Menschen in Syrien keine Beruhigung abzeichnet. Es sind weiterhin unglaublich
viele Interessierte in diesem Konflikt aktiv.
Auf welchem Weg sehen Sie Europa in näherer Zukunft? Unter dem Eindruck von Terrorismus, Identitätssuche
und Migration erstarken die nationalistischen Kräfte.
Wir haben in Europa den Eindruck, Migration sei erst seit 2015 aktuell. Dabei ist sie seit Jahren
ein sehr grosses Thema weltweit, es gibt riesige Migrationsströme. Weltweit gibt es 60 Millionen
Gewaltflüchtlinge, davon sind 40 Millionen innerhalb ihrer eigenen Länder auf der Flucht. Wenn
man die Million, die nach Europa gekommen ist, ins Verhältnis setzt mit der Wohnbevölkerung
in Europa, dann liegt das Problem in der Unfähigkeit Europas, damit umzugehen. Dass man es
nicht geschafft hat, die Menschen relativ zur Wohnbevölkerung auf die einzelnen Länder zu
verteilen, ist ein Armutszeugnis. Das hat auch dazu geführt, dass man diese Frage bewirtschaften
und mit ihr Politik machen kann. Europa ist destabilisiert worden, es besteht die Gefahr, dass
jene Kräfte, die Probleme bewirtschaften statt Lösungen aufzuzeigen, weiteren Erfolg haben
werden.
Europa droht in der Entwicklung um Jahrzehnte zurückzufallen.
Ja. Mir machen die anstehenden Wahlen durchaus Sorgen. Wenn die nationalistischen Kräfte
gewinnen, hat Europa ein grosses Problem.
Hat das auch damit zu tun, dass nun die letzten Menschen aussterben, die den zweiten Weltkrieg noch erlebt
haben – dass die Kriegserfahrung aus der Lebenswirklichkeit der Menschen verschwindet?
Es mangelt uns grundsätzlich an historischem Bewusstsein, überall. Die Geschichte mag sich
zwar nicht direkt wiederholen, doch der Mensch fällt offenbar immer wieder in ähnliche Muster
zurück. Hinzu kommt, dass wir unseren Medienkonsum zunehmend so ausrichten, dass wir nur
noch wahrnehmen, was der eigenen Meinung entspricht. Das halte ich für eine grosse Gefahr.
Begünstigt diese Entwicklung die Tendenz zum Autoritarismus?
Wenn man nicht mehr auf andere zugeht und sich nur noch in seiner eigenen Meinung bestärken
lässt, ist man leichter manipulierbar. Wer noch eine Tageszeitung liest, kriegt immerhin noch
Themen mit, die er reflektieren muss.
Kann man vom jetzigen Zeitpunkt aus denn überhaupt optimistisch sein für das 21. Jahrhundert?
Als liberaler Mensch habe ich grundsätzlich eine positive Einstellung gegenüber der
Wandlungsfähigkeit des Menschen und seinem Bestreben, eine bessere Welt zu schaffen. Darin
werde ich gerade in meinen Feldbesuchen bestärkt, wenn ich die jungen Leute vor Ort im
Südsudan, in Palästina oder Afghanistan sehe, aber auch jene, die in unserer Institution arbeiten.
Es ist aber nicht zuletzt auch die junge Generation, die Konflikte am Leben erhält.
Gewiss, aber das war schon früher so. Wenn wir unser Gespräch 1939 geführt hätten, hätten wir
uns sehr pessimistisch geäussert. Doch es gab immer Menschen, die mit einer humanistischen
Grundhaltung für eine bessere Welt gekämpft haben und welche, die auf der anderen Seite
standen. Es wäre defätistisch zu sagen, im Moment habe eben das Böse die Überhand.
Ein Kernanliegen des IKRK ist die Wahrung der Würde des Menschen, auch in Konflikten. Hat der Begriff der
Würde heute überhaupt noch Gewicht? Die USA haben einen Präsidenten, der Behinderte veräppelt, Russland
bombardiert Zivilisten, in der muslimischen Welt bestehen teils ganz andere Wertvorstellungen.
Wir müssen immer wieder darauf hinarbeiten, dass die Würde des Menschen geachtet wird. Jeder
Einzelne muss das tun, aber auch die Politik und die Institutionen wie das IKRK. Wir tun das
etwa mit unseren Besuchen bei mehr als 400’000 Gefangenen in über 2500 Gefängnissen
weltweit jährlich. Nun kann man sagen, dies sei ein Tropfen auf den heissen Stein, die
Bedingungen der Gefangenen verbessern sich oft nicht. Aber schon Nelson Mandela hat gesagt:
Das IKRK ist nicht nur wichtig, weil es Gutes tut, sondern auch deshalb, weil es Böses
verhindert. Im breiten Bild heisst das: Es war auf der Welt nie einfach. Wir kommen nicht weiter,
wenn wir die heutige Situation als übermässig schrecklich darstellen und uns so lähmen lassen. Im
Endeffekt kommt es häufig zu einem Sieg der Freiheit.
Länder wie Polen und Ungarn haben ihre neu gewonnene Freiheit gerade mal 25 Jahre genossen und drohen nun
in den Autoritarismus zurückzufallen.
Das ist in der Tat sehr enttäuschend. Doch es gibt auch dort eine grosse Opposition, in die ich
meine Hoffnungen setze – das gilt auch für die USA, wo übrigens eine Mehrheit nicht Trump
gewählt hat.
In der Schweiz will eine Regierungspartei das Land zum Teil vom internationalen Rechtssystem abkoppeln. Ist
auch die Schweiz nicht gefeit vor autoritären Tendenzen?
Eine Annahme der «Selbstbestimmungsinitiative» wäre verheerend, gerade aus Sicht des
humanitären Völkerrechts, das wir als IKRK von der Schweiz aus in die Welt tragen. Das
Völkerrecht schützt im Übrigen gerade die kleinen Länder – die grossen Mächte können sich mit
Macht durchsetzen. Ich habe überhaupt kein Verständnis für Bestrebungen in der Schweiz, die
sich gegen das Völkerrecht richten.
Ist die Demokratie als Ganzes ein zu abstraktes Konzept, als dass man sie den jungen Menschen von heute noch
nahebringen könnte?
Ich finde, gerade in der Schweiz ist das Gegenteil der Fall. Die direkte Demokratie ist zwar
komplex, stellt hohe Anforderungen und zeitigt manchmal unerwünschte Resultate, doch
grundsätzlich ist sie ein Bollwerk gegen den Populismus. Wer mehrmals jährlich über Sachfragen
abstimmen kann, hat eine grössere Nähe zur Politik als jemand, der alle vier Jahre mal wählen
darf.
Sie haben das offizielle Pensionsalter im IKRK bereits überschritten. Wie lange sind Sie noch Vizepräsidentin?
Noch dieses Jahr. Ich bin zuletzt noch einmal für zwei Jahre gewählt worden und habe dann
zehn Jahre in dieser Funktion verbracht.
Haben Sie noch ein spezielles Ziel für dieses letzte Jahr?
Ich will an den bestehenden Projekten mit voller Kraft weiterarbeiten. Und ich möchte noch
einmal nach Afghanistan gehen.