SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Luther, das Ereignis –
Einige Auswirkungen der Reformation
für Musik und Musikleben (1)
Von Frieder Reininghaus
Sendung:
Montag 09. Januar 2017
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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SWR2 Musikstunde mit Frieder Reininghaus
Luther, das Ereignis –
Einige Auswirkungen der Reformation für Musik und Musikleben
SWR 2, 09. Januar – 13. Januar 2017 - 9h05 – 10h00
Signet SWR2 Musikstunde
Luther, das Ereignis – Einige Auswirkungen der Reformation für Musik und
Musikleben. Dazu begrüßt Sie Frieder Reininghaus.
Titelmusik
Das Reformations-Jubiläum, datiert mit dem Publikationstermin von Luthers 95
Thesen gegen den Ablass-Handel, steht Ende Oktober dieses Jahres auf der
Tagesordnung. Doch schon Ende 2016 haben die Erörterungen und Ereiferungen
zum Reformator, seinen Schriften und Taten sowie den historischen
Konsequenzen bei Teilen des Publikums Müdigkeit oder sogar Überdruss
ausgelöst. Die erste große Welle des medialen Gedenkens scheint inzwischen
jedoch abgeebbt. Und so ist diese Woche womöglich gar kein so schlechter
Zeitpunkt, um die Aufmerksamkeit der Ohren auf einen Aspekt Martin Luthers zu
lenken, der den Wenigsten bei den Stichwortworten „Reformation“ und
„Reformator“ primär in den Sinn kommen dürfte: Seine breit gefächerten
musikalischen Interessen und Aktivitäten sowie deren Nachhall in der
Musikgeschichte.
Hier und heute nun ein erster kursorischer Überblick zu verschiedenen Schichten
der auf Luthers theologisches Denken und kompositorisches Schaffen sich
beziehenden musikalischen Werke – guten und schlechten. Offensichtlich halten
vitale Interessen des Weiterarbeitens an diesem Kontingent bis heute an.
Musik 1:
Christian Sprenger, Orchestral Fantasies on Protestant Chorales; StaatsKapelle Weimar, Dirigent: Christian Sprenger; Genuin 16440; Track 8,
Lamb of God („Christe, du Lamm Gottes”);
Dauer: 3’13”
Die eben verklungene Orchester-Fantasie über die Melodie, die Martin Luther
1528 zur deutschen Übersetzung des Agnus Dei aus der Mess-Liturgie schrieb,
bedient sich bewährter Instrumental-Gesten. Die Komposition stammt freilich
nicht aus der Max Reger-Nachfolge oder von Jean Sibelius, sondern von Christian
Sprenger. Der unterrichtet aktuell als Professor für Posaune an der Hochschule
Franz Liszt in Weimar. „Lamb of God“ wurde vor wenigen Monaten unter
3
Sprengers Leitung von der Staatskapelle Weimar eingespielt und vom Leipziger
CD-Label Genuin veröffentlicht unter dem kessen Titel Lutheran Symphonix.
Nicht alle Tracks auf der neuen Scheibe mit Lutherisch-Symphonischem üben sich
in Lammsgeduld. Die Titel-Nummer erinnert an den Choral „Nun danket alle
Gott“. Seine Melodie stammt aus der Zeit, in der sich das Ende des
Dreißigjährigen Kriegs abzeichnete. Das Lied wurde später in der preußischen und
deutschen Geschichte in besonderer Weise in Dienst genommen für
Kriegsgottesdienste und Siegesfeiern – das vom Booklet beschworene „über
Jahrhunderte gewachsene kollektive Gedächtnis“ leidet offensichtlich bei der
Vereinnahmung durch Militarismus und Chauvinismus an Gedächtnisschwund.
Christian Sprengers großer Dankgesang funktioniert wie ein KostümfilmSoundtrack zum Big Trail, zum großen Treck in den weiten Westen von Gods Own
Country: Sakropop kennt keine Grenzen! Und stilistische Hemmungen schon gar
nicht.
Musik 2:
Christian Sprenger, Orchestral Fantasies on Protestant Chorales; Staats-kapelle
Weimar, Dirigent: Christian Sprenger; Genuin 16440; Track 1,
Now thank wie all our God („Nun danket alle Gott”); Anfang; Dauer: 1’25”
So weit die ersten Kostproben aus dem heutigen zeitgenössischen
kompositorischen Schaffen, das sich aus dem gnädigen Brunnquell der
Lutherischen Kampf- und Kirchenlied-Tradition speist.
Von Weimar, wo diese Art des Gotteslobs das Staatsorchester beschäftigt, soll es
nun ins nahe gelegene Jena gehen – allerdings in einem großen Sprung
vierhundert Jahre zurück. In Jena schrieb der Theologe, Kantor und Komponist
Michael Altenburg 1617 – zum 100. Jahrestag der Reformation – eine Festmusik
nach der Art der damals international bewunderten venezianischen
Mehrchörigkeit: Gaudium Christianum – das ist: Christliche musikalische Freude.
Hier der erste Satz von Michael Altenburgs Das Lutherische Jubelgeschrey – zu
fünf Stimmen.
Musik 3:
Michael Altenburg, Gaudium Christianum; Festmusik zur Reformationsfeier
1617; Johann Rosenmüller Ensemble, Kammerchor Bad Homburg,
Leitung Susanne Rohn; CD-Collection Luther und die Musik, note1music
Christoperus CHR 77403; CD 8, Track 1
Dauer: 3’34“
Das Johann Rosenmüller Ensemble und der Kammerchor Bad Homburg, geleitet
von Susanne Rohn, präsentierte Michael Altenburgs Gaudium Christianum. Der
mitteldeutsche Tonsetzer orientierte sich bei dieser Komposition auch an der
Concerto-Technik von Andrea und Giovanni Gabrieli und wahrte so, bei aller
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scharfen ideologischen Abgrenzung des Textes von den katholischen Gegnern
und den calvinistischen Brüdern in musikalischer Hinsicht die Einheit christlicher
Musik.
Das historische Mittellot zwischen Michael Altenburgs schlicht-grob-körniger
Festmusik und dem weichgespülten Symphonix aus dem Jahr 2016 markiert die
hoch artifizielle Symphonie in d/D von Felix Mendelssohn Bartholdy. Man feierte
im frühen 19. Jahrhundert in den protestantischen Ländern die Reformation
zweimal: Einmal 1817 das Jubiläum des Thesenanschlags (Goethe plante zu
diesem Anlass eine Reformationskantate, verwarf das Projekt dann aber).
Ergänzend wurde ein Dutzend Jahre später der 300. Jahrestag der Confessio
Augustana fokussiert – die Grundsatz-Debatte bezüglich der theologischen
Richtungsentscheidung auf dem Augsburger Reichtag 1530. Als für 1830 in Berlin
die einschlägigen Feierlichkeiten vorbereitet wurden, bot es sich an, den
einundzwanzigjährigen Mendelssohn für die Gestaltung des musikalischen Parts
heranzuziehen. Er hatte mit der Berliner Singakademie bereits Johann Sebastian
Bachs Matthäus-Passion aus hundertjährigem Vergessen erweckt und sich damit
weit über den lokalen Horizont hinaus als Meister der musikalischen
Erinnerungskultur profiliert.
Die Luther-Jubiläums-Musiken wären sein Metier gewesen. Er avisierte die eben
bereits erwähnte Symphonie in d/D, die thematisch Bezug nahm. Doch wurde in
seiner Heimatstadt bei der Ausarbeitung des Festprogramms aus taktischen
Erwägungen von rein instrumentalen Stücken Abstand genommen. Dadurch
erledigte sich Mendelssohns Mitwirkung: Ohne dass dies öffentlich
ausgesprochen wurde, war der Grund für die Verhinderung, dass er und sein
Christentum den offiziösen Veranstaltern in Berlin zu jung erschien. Eine
Realisierung der Reformations- oder Glaubensrevolutions-Symphonie scheiterte
kurz darauf auch in Paris.
Schließlich wurde Mendelssohns erstes wirklich großes symphonisches Werk mit
zweijähriger Verspätung in Berlin „zur Feier der Kirchen-Revolution“ angekündigt
und aufgeführt. Hier zunächst die Introduktion des Kopfsatzes. Sie intoniert eine
altkirchliche Melodie-Floskel, den Anfang des Magnificat tertii toni und steigt mit
ihr und vier Fugato-Einsätzen nach oben.
Musik 4:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 5 D-Dur op. 107, 1. Satz
(Introduktion) Andante; London Symphony Orchestra, Claudio Abbado
SWR M0014842 W02, DG 415 353-2
Dauer: 3’18“
Soweit der Kopfsatz der Reformations-Symphonie von Felix Mendelssohn
Bartholdy. Beendet wird diese Introduktion von einem (wiederholten) Zitat: dem
Dresdner Amen. Die kurze Akkordfolge stammt vom Sächsischen HofOberkapellmeister Johann Gottlieb Naumann. Komponiert wurde sie als Antwort
5
des Chores auf die liturgische Formel des Geistlichen „Der Herr sei mit euch“ in
den Messen der katholischen Dresdner Hofkirche. Das Amen, von Mendelssohn
raffinierter harmonisiert und auch vor der Reprise des Symphonie-Hauptsatzes
noch einmal ‚eingeschaltet’, wurde von hellhörigen Kollegen als exquisiter
Kunstgriff wahrgenommen und adaptiert. Der Wagner-Gemeinde z.B. wurde das
wundersame viertaktige Streicher-Pianissimo ab 1882 als Grals-Motiv im Parsifal
ein Begriff. Es kehrte nochmals wieder im Schluss-Satz von Gustav Mahlers Erster
Symphonie von 1889 sowie als zentrales Thema des unvollendeten dritten Satzes
von Anton Bruckners Neunter (1894).
Der junge Mendelssohn war der erste, der die magische Wirkung der
Naumannschen Formel erkannte und steigerte. Bevor er den Orchester-Furor
eines Allegro con fuoco hereinbrechen ließ, der wohl auf die Heftigkeit der
geistlichen und weltlichen gesellschaftlichen Verwerfungen in der ersten Hälfte
des 16. Jahrhunderts hinweist, erinnerte er an den „alten Kirchenton“ – an das,
was Luther zu reformieren (oder revolutionieren) trachtete.
Hier nun das doppelte „katholische“ Amen und der folgende SymphonieHauptsatz Allegro con fuoco, der es gleichsam ‚aufmischt’ – gespielt vom
London Symphony Orchestra unter Leitung von Claudio Abbado.
Musik 5:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 5 D-Dur op. 107, 1. Satz
(Schluss Introduktion ab Takt 33 und Allegro con fuoco); Ausführende
SWR M0014842 W02
Dauer: 9’35“
Das London Symphony Orchestra unter Leitung von Claudio Abbado spielte den
Hauptsatz der Reformations-Symphonie.
Der Komponist Mendelssohn ließ keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser
großsymphonischen Initial-„Zündung“ aus den späten 1820er Jahren um
historisch-literarisch inspirierte Programm-Musik handelte (er rückte bald wieder
von diesem Kompositions-Konzept ab, zu dem ihn Hector Berlioz animierte). Das
Werk und der Kontext seiner Entstehung hatten Bekenntnischarakter. Der zielte
auf den religiösen, politischen und sozialen Umbruch im Europa des 16.
Jahrhunderts, der traditionell als „revolutionär“ begriffen wurde und – gerade
auch von Mendelssohn – in besonderer Weise als „deutsch“.
Musik 6: Felix Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 5 D-Dur op. 107,
4. Satz Andante con moto; London Symphony Orchestra, Claudio Abbado
SWR M0014842 W02, DG 415 353-2; frei stehend ca. 1’00“
Die allgemeine Geschichte des nördlichen Europa im 16. Jahrhunderts und die
seiner Tonkünste lassen sich am plausibelsten als eine Phase der Umbrüche
begreifen: Allgemein im Zeichen von Reformation und Gegenreformation (oder,
6
nach neuerer Sprachregelung, „Konfessionalisierung“). Auf dem Terrain der Musik
verabschiedeten sich die im Mittelalter ausgeprägten Formen des Singens und
Musizierens und am Ende siegte fast auf ganzer Linie die Oberstimme, die auf
den Generalbass gestützte Monodie. Es entstanden neue Instrumente wie Violine
und Klavier, der Notendruck, neue musikalische Empfindungen, Formen und
Gattungen – vornan das dramma per musica, die Oper.
Musik 6:
wie Musik 5
SWR M0014842 W03, ca. 20“
Mitten im Umwälzungsprozess des frühen 16. Jahrhunderts, als dessen zunehmend
wichtiger Katalysator, steht jener Mann Luther – umstritten wie wenig andere in
seiner Gewichtsklasse: Luther, „das Ereignis“.
Von Martin Luther stammt neben zahlreichen anderen bis heute präsenten
Texten auch der des Kampflieds „Ein feste Burg ist unser Gott“. Die gleichfalls von
Luthers entwickelte oder arrangierte Melodie liegt dem Finalsatz von
Mendelssohns Reformations-Symphonie zugrunde.
Hier sollen nun die auch für Luthers Stellung in der Musikgeschichte wirksamen
Ambivalenzen der historischen, theologischen und politischen Figur noch etwas
näher beleuchtet werden: Das Subjektive und Individuelle in einer Zeit der
Umbrüche und Übergänge. Deren Rahmenbedingungen im Großen wie im
Kleinen prägte auch die Protagonisten der Ära. „O Jahrhundert, o
Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben“, rief der Poet und Warlord Ulrich von
Hutten zu Beginn des 16. Jahrhun-derts seinen Zeitgenossen zu. Er scheint damit
die Aufbruchsstimmung auf den Punkt gebracht zu haben. Vor dem Hintergrund
der ziemlich allgemeinen Erkenntnis, dass die herrschenden Verhältnisse in weiten
Teilen Europas unsäglich bis unerträglich schienen, schlugen die Botschaften des
jungen Martin Luther wie Donnerhall ein. „Eine merkwürdige Leuchtkraft strahlt
von den damaligen Zuständen auf uns aus“, diagnostizierte Egon Friedell vor
neunzig Jahren in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit – und leuchtete die
Kontraste aus: „Das Leben jener Zeit hatte offenbar noch schneidendere
Kontraste: hellere Glanzlichter und tiefere Schlagschatten, frischere und sattere
Komplementärfarben“, schrieb Friedell. Der Grund für den Unterschied liege „zum
Teil darin, daß die Menschen damals unbewusster und kritikloser lebten. Das
Mittelalter erscheint uns düster, beschränkt, leichtgläubig. Und in der Tat: damals
glaubte man wirklich an alles. Man glaubte an jede Vision, jede Legende, jedes
Gerücht, jedes Gedicht, man glaubte an Wahres und Falsches, Weises und
Wahnsinniges, an Heilige und Hexen, an Gott und den Teufel.“
7
Da hinein also platzte nun Luther als ein nicht nur vom Glaubenseifer
Getriebener, sondern auch von Wahrheitssuche Durchdrungener. Er war sich
seiner Sache einerseits burgfelsensicher, verfiel andererseits angesichts dessen,
was er sich im Auftrag seines Gottes an Herkules- und -Augiasstall-Arbeit
aufgebürdet hatte, immer wieder in so tiefe Selbstzweifel und Depressionen, dass
ihn der Wegbegleiter und Freund Johannes Bugenhagen therapieren musste. Der
Reformator gilt den einen „als der ‚deutsche Catilina’, den anderen als der
‚größte Wohltäter der Menschheit’“ – um es mit den Worten Egon Friedells zu
sagen: „Schiller nennt ihn einen Kämpfer für die Freiheit der Vernunft, Friedrich
der Große einen ‚wütenden Mönch und barbarischen Schriftsteller’.“ – So weit
das Resümee zum „Gegenpapst von Wittenberg“.
Auf einem Terrain erscheint dieser freilich unumstritten: dem der Musik.
Musik 7:
J.S. Bach, Kantate Christ lag in Todesbanden BWV 4; Fuga Es war ein
wunderlicher Krieg; Bach Without Words, Lautten-Compagney,
Wolfgang Katschner, CD dhm (Deutsche Harmonia Mundi) 88875194672, Take 11,
Dauer: 1:53
Prominente musikalische Zeitgenossen wie Ludwig Senfl und Johann Walter
haben Martin Luther zugearbeitet, etliche aus den unmittelbar nachfolgenden
Generationen seine Texte und Weisen aufgegriffen und fortgeschrieben – Johann
Eccard, Johann Hermann Schein, Samuel Scheidt. Ein Jahrhundert später im
Besonderen Johann Sebastian Bach. Der Strom der auf die Werke des
Reformators sich beziehenden Kompositionen erscheint zwar nicht ungebrochen.
Doch versiegt ist er nie. Und da in der sich säkularisierenden oder weitgehend
laizistisch gewordenen Gesellschaft z.B. die auf Luther basierenden Texte von
Bach-Kantaten zumindest anachronistisch und sperrig wirken mögen, werden
diese immer wieder auch unter Verzicht auf Singstimmen aufbereitet. Wolfgang
Katschner hat dies – wie soeben zu hören – mit seiner Berliner lautten compagney
für die deutsche harmonia mundi und die CD Bach Without Words unternommen
und Highlights aus der Kantate Bach-Werke-Verzeichnis 4 – Christ lag in
Todesbanden – arrangiert.
Die Ambivalenzen bleiben: Die breite Spur des ‚alten’, des mittelalterlichen
Denkens beim Reformator und sein obrigkeitskonformes Handeln –gleichzeitig
das Faszinosum des Mannes, der sich da in Erfurt und Wittenberg mit einer bis
dahin nicht gekannten Leuchtkraft zu gewaltiger kultureller Ausstrahlung erhob.
Diese Doppelgesichtigkeit und Widersprüchlichkeit hat vor ein paar Jahren ein
Musical freigespielt – m.E. umsichtiger und plausibler, als andere auf die Person
Luthers abhebende musikdramatische Arbeiten oder Oratorien. Die Open-AirProduktion mit dem Text von Øystein Wiik und einer branchenüblichen Cross-
8
Over-Musik von Gisle Kverndokk kam vor der Kulisse des Erfurter Doms und der
Severi-Kirche auf der imposanten Treppe zum Einsatz.
Musik 8:
Gisle Kverndokk, Luther – das Musical (Erfurt 2008); O-Ton des Theaters
Yngve Gasoy-Romdal (Luther) u.a.; Ausschnitt CD 2: „Hier stehe ich ...“
von 5’35“ bis 6’03“, Privataufnahme, Dauer: 0’28“
Das aus Norwegen importierte Projekt Luther – das Musical legte den
Anfangsverdacht nahe, dass in Thüringen die Erinnerung an die Reformation bei
schönem Wetter im Musical stattfinde. Doch erstens regnete es gelegentlich –
was die vielen Interessierten aber nicht irritierte, die sich da mit der
religionsgeschichtlichen Leistung Luthers und der Bedeutung des Glaubens
auseinandersetzten: ein Publikum, das heute wohl kaum etwas mit Kirchen im
Sinn hat. Leute, die vom Theater nur im Freien erreicht werden, schmökerten
unterm Schirm im informativen und sorgfältig ausgestatteten Programmheft.
Solches wechselseitige Interesse kann als diskreter Beitrag zur Reetablierung von
„Volkskirche“ verstanden werden. Luther, der seine frühen evangelischen
Choräle aus den unterschiedlichsten Schichten der Überlieferung unterm Aspekt
der Eingängigkeit und Massenwirksamkeit zusammenschneiderte, dürfte (wenn
man ihn denn noch fragen könnte) gegen das Kompositionsverfahren von Gisle
Kverndokk wenig einzuwenden haben.
Musik 9:
Gisle Kverndokk, Luther – das Musical (Erfurt 2008); O-Ton des Theaters
Yngve Gasoy-Romdal (Luther) u.a.; Ausschnitt CD 2: (Kampf und Zorn)
von 7’20“ bis 10’00, Privataufnahme
Dauer: 2’40“
Nach der Exkursion zum Musical nun noch eine Coda mit Mozart und
Mendelssohn. Auch an Stellen, an denen es gar nicht zu vermuten ist, hinterließ
Luther – wenn auch mitunter indirekt – Spuren im kompositorischen Schaffen
späterer Epochen. In Emanuel Schikaneders und Mozarts Zauberflöte z.B. beim
Gesang der Geharnischten. Im 2. Aufzug, der sich in ein – aus heutiger Sicht
absurdes – Prüfungs-Ritual für die zwei Liebenden aus der Upperclass verstrickt,
zitierte Mozart eine Melodie von Wolff Heintz. Der Magdeburger Organist hat sie
1537 zu Luthers Choral Ach Gott vom Himmel sieh darein komponiert. Mozart
übernahm sie so gut wie unverändert und verarbeitete sie kontrapunktisch. In
einer „Kasperloper“ wirkte dies zumindest auf die Theatergeher der ersten
Aufführungs-Serie im Freihaustheater auf der Wieden als „Fremdkörper“. Das
Publikum hat sich freilich in der langen Rezeptionsgeschichte an den
tiefschürfenden Kunstgriff gewöhnt. Mit ihm unterstrich der Komponist drastisch
den Ernst der „Liebesprüfung“ – oder eben auch die quasi-religiöse tödlich ernste
9
Anmaßung der Anweisung an Tamino. Eine Prüfung wie die, die Sarastro dem
Prinzen und der von ihm auf den ersten Blick begehrten Tamina aufnötigt, mag
dem Erotomanen Mozart als Zumutung erschienen sein. So ist das Zitat und die
mit ihm bewerkstelligte kompositorische Verfahrensweise möglicherweise als
ironische Volte zu begreifen: Als kleiner Seitenhieb auf „die Protestanten“, aus
deren ideologischer Küche eine solche nicht sonderlich humane
Versuchsanordnung stammen mag. Wäre diese Annahme zutreffend, dann
würde der jener Melodie zugrunde liegende Luther-Text nicht zufällig die
abgründige Pointe in Papagenos Welt konstituieren: Ach Gott vom Himmel sieh
darein – und lass, bittschön, Gnade walten. Ja, die unberechenbare Gnade
waltet dann intensiv im seraphisch schönen F-Dur-Quartett.
Musik 10:
W. A. Mozart, Die Zauberflöte, 2. Aufzug; Gesang der GeharnischtenWolfgang
Schmidt, Hans Franzen, Uwe Heilmann, Ruth Ziesak; Wiener Philharmoniker;
Musikalische Leitung: Georg Solti.
Decca 433 210-2, CD 2; Track 14 (0’24“–4’36“) und Track 15 (0’00–3’04“)
M0322536 W03
Dauer gesamt: 7’16“
Im Ausschnitt aus dem 2. Finale der teutschen Oper Die Zauberflöte von Emanuel
Schikaneder und Wolfgang A. Mozart sangen Wolfgang Schmidt und Hans
Franzen die Partien der Geharnischten Männer, Uwe Heilmann den Tamino und
Ruth Ziesak die Prinzessin Tamina; es spielten die Wiener Philharmoniker unter der
Leitung von Georg Solti.
Nach der ironischen Volte oder mehrdeutig-eleganten Parodie Mozarts soll eine
ernste Strophe Luthers über gottgefälliges Leben in einer „argen Welt“ die
heutige Sendung beschließen. Unter den kleineren, aber orchestral groß
besetzten Kirchenmusiken Mendelssohns findet sich auch die Choralbearbeitung
Ach Gott, vom Himmel sieh darein – unterwegs auf der Reise 1832 nach Paris und
London geschrieben.
Musik 11:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Ach Gott vom Himmel sieht darein; 6. Strophe
Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius; Carus 83.469,
SWR M0116704 W02
Dauer: 1’23“
Zum Abschluss der Sendung Luther – das Ereignis sang der Kammerchor Stuttgart
unter Leitung von Frieder Bernius die letzte Strophe der Choralbearbeitung Ach
Gott vom Himmel sieht darein von Felix Mendelssohn Bartholdy. Und damit
verabschiedet sich Frieder Reininghaus – bis morgen!