SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Luther, das Ereignis – Einige Auswirkungen der Reformation für Musik und Musikleben (1) Von Frieder Reininghaus Sendung: Montag 09. Januar 2017 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Und so ist diese Woche womöglich gar kein so schlechter Zeitpunkt, um die Aufmerksamkeit der Ohren auf einen Aspekt Martin Luthers zu lenken, der den Wenigsten bei den Stichwortworten „Reformation“ und „Reformator“ primär in den Sinn kommen dürfte: Seine breit gefächerten musikalischen Interessen und Aktivitäten sowie deren Nachhall in der Musikgeschichte. Hier und heute nun ein erster kursorischer Überblick zu verschiedenen Schichten der auf Luthers theologisches Denken und kompositorisches Schaffen sich beziehenden musikalischen Werke – guten und schlechten. Offensichtlich halten vitale Interessen des Weiterarbeitens an diesem Kontingent bis heute an. Musik 1: Christian Sprenger, Orchestral Fantasies on Protestant Chorales; StaatsKapelle Weimar, Dirigent: Christian Sprenger; Genuin 16440; Track 8, Lamb of God („Christe, du Lamm Gottes”); Dauer: 3’13” Die eben verklungene Orchester-Fantasie über die Melodie, die Martin Luther 1528 zur deutschen Übersetzung des Agnus Dei aus der Mess-Liturgie schrieb, bedient sich bewährter Instrumental-Gesten. Die Komposition stammt freilich nicht aus der Max Reger-Nachfolge oder von Jean Sibelius, sondern von Christian Sprenger. Der unterrichtet aktuell als Professor für Posaune an der Hochschule Franz Liszt in Weimar. „Lamb of God“ wurde vor wenigen Monaten unter 3 Sprengers Leitung von der Staatskapelle Weimar eingespielt und vom Leipziger CD-Label Genuin veröffentlicht unter dem kessen Titel Lutheran Symphonix. Nicht alle Tracks auf der neuen Scheibe mit Lutherisch-Symphonischem üben sich in Lammsgeduld. Die Titel-Nummer erinnert an den Choral „Nun danket alle Gott“. Seine Melodie stammt aus der Zeit, in der sich das Ende des Dreißigjährigen Kriegs abzeichnete. Das Lied wurde später in der preußischen und deutschen Geschichte in besonderer Weise in Dienst genommen für Kriegsgottesdienste und Siegesfeiern – das vom Booklet beschworene „über Jahrhunderte gewachsene kollektive Gedächtnis“ leidet offensichtlich bei der Vereinnahmung durch Militarismus und Chauvinismus an Gedächtnisschwund. Christian Sprengers großer Dankgesang funktioniert wie ein KostümfilmSoundtrack zum Big Trail, zum großen Treck in den weiten Westen von Gods Own Country: Sakropop kennt keine Grenzen! Und stilistische Hemmungen schon gar nicht. Musik 2: Christian Sprenger, Orchestral Fantasies on Protestant Chorales; Staats-kapelle Weimar, Dirigent: Christian Sprenger; Genuin 16440; Track 1, Now thank wie all our God („Nun danket alle Gott”); Anfang; Dauer: 1’25” So weit die ersten Kostproben aus dem heutigen zeitgenössischen kompositorischen Schaffen, das sich aus dem gnädigen Brunnquell der Lutherischen Kampf- und Kirchenlied-Tradition speist. Von Weimar, wo diese Art des Gotteslobs das Staatsorchester beschäftigt, soll es nun ins nahe gelegene Jena gehen – allerdings in einem großen Sprung vierhundert Jahre zurück. In Jena schrieb der Theologe, Kantor und Komponist Michael Altenburg 1617 – zum 100. Jahrestag der Reformation – eine Festmusik nach der Art der damals international bewunderten venezianischen Mehrchörigkeit: Gaudium Christianum – das ist: Christliche musikalische Freude. Hier der erste Satz von Michael Altenburgs Das Lutherische Jubelgeschrey – zu fünf Stimmen. Musik 3: Michael Altenburg, Gaudium Christianum; Festmusik zur Reformationsfeier 1617; Johann Rosenmüller Ensemble, Kammerchor Bad Homburg, Leitung Susanne Rohn; CD-Collection Luther und die Musik, note1music Christoperus CHR 77403; CD 8, Track 1 Dauer: 3’34“ Das Johann Rosenmüller Ensemble und der Kammerchor Bad Homburg, geleitet von Susanne Rohn, präsentierte Michael Altenburgs Gaudium Christianum. Der mitteldeutsche Tonsetzer orientierte sich bei dieser Komposition auch an der Concerto-Technik von Andrea und Giovanni Gabrieli und wahrte so, bei aller 4 scharfen ideologischen Abgrenzung des Textes von den katholischen Gegnern und den calvinistischen Brüdern in musikalischer Hinsicht die Einheit christlicher Musik. Das historische Mittellot zwischen Michael Altenburgs schlicht-grob-körniger Festmusik und dem weichgespülten Symphonix aus dem Jahr 2016 markiert die hoch artifizielle Symphonie in d/D von Felix Mendelssohn Bartholdy. Man feierte im frühen 19. Jahrhundert in den protestantischen Ländern die Reformation zweimal: Einmal 1817 das Jubiläum des Thesenanschlags (Goethe plante zu diesem Anlass eine Reformationskantate, verwarf das Projekt dann aber). Ergänzend wurde ein Dutzend Jahre später der 300. Jahrestag der Confessio Augustana fokussiert – die Grundsatz-Debatte bezüglich der theologischen Richtungsentscheidung auf dem Augsburger Reichtag 1530. Als für 1830 in Berlin die einschlägigen Feierlichkeiten vorbereitet wurden, bot es sich an, den einundzwanzigjährigen Mendelssohn für die Gestaltung des musikalischen Parts heranzuziehen. Er hatte mit der Berliner Singakademie bereits Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion aus hundertjährigem Vergessen erweckt und sich damit weit über den lokalen Horizont hinaus als Meister der musikalischen Erinnerungskultur profiliert. Die Luther-Jubiläums-Musiken wären sein Metier gewesen. Er avisierte die eben bereits erwähnte Symphonie in d/D, die thematisch Bezug nahm. Doch wurde in seiner Heimatstadt bei der Ausarbeitung des Festprogramms aus taktischen Erwägungen von rein instrumentalen Stücken Abstand genommen. Dadurch erledigte sich Mendelssohns Mitwirkung: Ohne dass dies öffentlich ausgesprochen wurde, war der Grund für die Verhinderung, dass er und sein Christentum den offiziösen Veranstaltern in Berlin zu jung erschien. Eine Realisierung der Reformations- oder Glaubensrevolutions-Symphonie scheiterte kurz darauf auch in Paris. Schließlich wurde Mendelssohns erstes wirklich großes symphonisches Werk mit zweijähriger Verspätung in Berlin „zur Feier der Kirchen-Revolution“ angekündigt und aufgeführt. Hier zunächst die Introduktion des Kopfsatzes. Sie intoniert eine altkirchliche Melodie-Floskel, den Anfang des Magnificat tertii toni und steigt mit ihr und vier Fugato-Einsätzen nach oben. Musik 4: Felix Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 5 D-Dur op. 107, 1. Satz (Introduktion) Andante; London Symphony Orchestra, Claudio Abbado SWR M0014842 W02, DG 415 353-2 Dauer: 3’18“ Soweit der Kopfsatz der Reformations-Symphonie von Felix Mendelssohn Bartholdy. Beendet wird diese Introduktion von einem (wiederholten) Zitat: dem Dresdner Amen. Die kurze Akkordfolge stammt vom Sächsischen HofOberkapellmeister Johann Gottlieb Naumann. Komponiert wurde sie als Antwort 5 des Chores auf die liturgische Formel des Geistlichen „Der Herr sei mit euch“ in den Messen der katholischen Dresdner Hofkirche. Das Amen, von Mendelssohn raffinierter harmonisiert und auch vor der Reprise des Symphonie-Hauptsatzes noch einmal ‚eingeschaltet’, wurde von hellhörigen Kollegen als exquisiter Kunstgriff wahrgenommen und adaptiert. Der Wagner-Gemeinde z.B. wurde das wundersame viertaktige Streicher-Pianissimo ab 1882 als Grals-Motiv im Parsifal ein Begriff. Es kehrte nochmals wieder im Schluss-Satz von Gustav Mahlers Erster Symphonie von 1889 sowie als zentrales Thema des unvollendeten dritten Satzes von Anton Bruckners Neunter (1894). Der junge Mendelssohn war der erste, der die magische Wirkung der Naumannschen Formel erkannte und steigerte. Bevor er den Orchester-Furor eines Allegro con fuoco hereinbrechen ließ, der wohl auf die Heftigkeit der geistlichen und weltlichen gesellschaftlichen Verwerfungen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hinweist, erinnerte er an den „alten Kirchenton“ – an das, was Luther zu reformieren (oder revolutionieren) trachtete. Hier nun das doppelte „katholische“ Amen und der folgende SymphonieHauptsatz Allegro con fuoco, der es gleichsam ‚aufmischt’ – gespielt vom London Symphony Orchestra unter Leitung von Claudio Abbado. Musik 5: Felix Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 5 D-Dur op. 107, 1. Satz (Schluss Introduktion ab Takt 33 und Allegro con fuoco); Ausführende SWR M0014842 W02 Dauer: 9’35“ Das London Symphony Orchestra unter Leitung von Claudio Abbado spielte den Hauptsatz der Reformations-Symphonie. Der Komponist Mendelssohn ließ keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser großsymphonischen Initial-„Zündung“ aus den späten 1820er Jahren um historisch-literarisch inspirierte Programm-Musik handelte (er rückte bald wieder von diesem Kompositions-Konzept ab, zu dem ihn Hector Berlioz animierte). Das Werk und der Kontext seiner Entstehung hatten Bekenntnischarakter. Der zielte auf den religiösen, politischen und sozialen Umbruch im Europa des 16. Jahrhunderts, der traditionell als „revolutionär“ begriffen wurde und – gerade auch von Mendelssohn – in besonderer Weise als „deutsch“. Musik 6: Felix Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 5 D-Dur op. 107, 4. Satz Andante con moto; London Symphony Orchestra, Claudio Abbado SWR M0014842 W02, DG 415 353-2; frei stehend ca. 1’00“ Die allgemeine Geschichte des nördlichen Europa im 16. Jahrhunderts und die seiner Tonkünste lassen sich am plausibelsten als eine Phase der Umbrüche begreifen: Allgemein im Zeichen von Reformation und Gegenreformation (oder, 6 nach neuerer Sprachregelung, „Konfessionalisierung“). Auf dem Terrain der Musik verabschiedeten sich die im Mittelalter ausgeprägten Formen des Singens und Musizierens und am Ende siegte fast auf ganzer Linie die Oberstimme, die auf den Generalbass gestützte Monodie. Es entstanden neue Instrumente wie Violine und Klavier, der Notendruck, neue musikalische Empfindungen, Formen und Gattungen – vornan das dramma per musica, die Oper. Musik 6: wie Musik 5 SWR M0014842 W03, ca. 20“ Mitten im Umwälzungsprozess des frühen 16. Jahrhunderts, als dessen zunehmend wichtiger Katalysator, steht jener Mann Luther – umstritten wie wenig andere in seiner Gewichtsklasse: Luther, „das Ereignis“. Von Martin Luther stammt neben zahlreichen anderen bis heute präsenten Texten auch der des Kampflieds „Ein feste Burg ist unser Gott“. Die gleichfalls von Luthers entwickelte oder arrangierte Melodie liegt dem Finalsatz von Mendelssohns Reformations-Symphonie zugrunde. Hier sollen nun die auch für Luthers Stellung in der Musikgeschichte wirksamen Ambivalenzen der historischen, theologischen und politischen Figur noch etwas näher beleuchtet werden: Das Subjektive und Individuelle in einer Zeit der Umbrüche und Übergänge. Deren Rahmenbedingungen im Großen wie im Kleinen prägte auch die Protagonisten der Ära. „O Jahrhundert, o Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben“, rief der Poet und Warlord Ulrich von Hutten zu Beginn des 16. Jahrhun-derts seinen Zeitgenossen zu. Er scheint damit die Aufbruchsstimmung auf den Punkt gebracht zu haben. Vor dem Hintergrund der ziemlich allgemeinen Erkenntnis, dass die herrschenden Verhältnisse in weiten Teilen Europas unsäglich bis unerträglich schienen, schlugen die Botschaften des jungen Martin Luther wie Donnerhall ein. „Eine merkwürdige Leuchtkraft strahlt von den damaligen Zuständen auf uns aus“, diagnostizierte Egon Friedell vor neunzig Jahren in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit – und leuchtete die Kontraste aus: „Das Leben jener Zeit hatte offenbar noch schneidendere Kontraste: hellere Glanzlichter und tiefere Schlagschatten, frischere und sattere Komplementärfarben“, schrieb Friedell. Der Grund für den Unterschied liege „zum Teil darin, daß die Menschen damals unbewusster und kritikloser lebten. Das Mittelalter erscheint uns düster, beschränkt, leichtgläubig. Und in der Tat: damals glaubte man wirklich an alles. Man glaubte an jede Vision, jede Legende, jedes Gerücht, jedes Gedicht, man glaubte an Wahres und Falsches, Weises und Wahnsinniges, an Heilige und Hexen, an Gott und den Teufel.“ 7 Da hinein also platzte nun Luther als ein nicht nur vom Glaubenseifer Getriebener, sondern auch von Wahrheitssuche Durchdrungener. Er war sich seiner Sache einerseits burgfelsensicher, verfiel andererseits angesichts dessen, was er sich im Auftrag seines Gottes an Herkules- und -Augiasstall-Arbeit aufgebürdet hatte, immer wieder in so tiefe Selbstzweifel und Depressionen, dass ihn der Wegbegleiter und Freund Johannes Bugenhagen therapieren musste. Der Reformator gilt den einen „als der ‚deutsche Catilina’, den anderen als der ‚größte Wohltäter der Menschheit’“ – um es mit den Worten Egon Friedells zu sagen: „Schiller nennt ihn einen Kämpfer für die Freiheit der Vernunft, Friedrich der Große einen ‚wütenden Mönch und barbarischen Schriftsteller’.“ – So weit das Resümee zum „Gegenpapst von Wittenberg“. Auf einem Terrain erscheint dieser freilich unumstritten: dem der Musik. Musik 7: J.S. Bach, Kantate Christ lag in Todesbanden BWV 4; Fuga Es war ein wunderlicher Krieg; Bach Without Words, Lautten-Compagney, Wolfgang Katschner, CD dhm (Deutsche Harmonia Mundi) 88875194672, Take 11, Dauer: 1:53 Prominente musikalische Zeitgenossen wie Ludwig Senfl und Johann Walter haben Martin Luther zugearbeitet, etliche aus den unmittelbar nachfolgenden Generationen seine Texte und Weisen aufgegriffen und fortgeschrieben – Johann Eccard, Johann Hermann Schein, Samuel Scheidt. Ein Jahrhundert später im Besonderen Johann Sebastian Bach. Der Strom der auf die Werke des Reformators sich beziehenden Kompositionen erscheint zwar nicht ungebrochen. Doch versiegt ist er nie. Und da in der sich säkularisierenden oder weitgehend laizistisch gewordenen Gesellschaft z.B. die auf Luther basierenden Texte von Bach-Kantaten zumindest anachronistisch und sperrig wirken mögen, werden diese immer wieder auch unter Verzicht auf Singstimmen aufbereitet. Wolfgang Katschner hat dies – wie soeben zu hören – mit seiner Berliner lautten compagney für die deutsche harmonia mundi und die CD Bach Without Words unternommen und Highlights aus der Kantate Bach-Werke-Verzeichnis 4 – Christ lag in Todesbanden – arrangiert. Die Ambivalenzen bleiben: Die breite Spur des ‚alten’, des mittelalterlichen Denkens beim Reformator und sein obrigkeitskonformes Handeln –gleichzeitig das Faszinosum des Mannes, der sich da in Erfurt und Wittenberg mit einer bis dahin nicht gekannten Leuchtkraft zu gewaltiger kultureller Ausstrahlung erhob. Diese Doppelgesichtigkeit und Widersprüchlichkeit hat vor ein paar Jahren ein Musical freigespielt – m.E. umsichtiger und plausibler, als andere auf die Person Luthers abhebende musikdramatische Arbeiten oder Oratorien. Die Open-AirProduktion mit dem Text von Øystein Wiik und einer branchenüblichen Cross- 8 Over-Musik von Gisle Kverndokk kam vor der Kulisse des Erfurter Doms und der Severi-Kirche auf der imposanten Treppe zum Einsatz. Musik 8: Gisle Kverndokk, Luther – das Musical (Erfurt 2008); O-Ton des Theaters Yngve Gasoy-Romdal (Luther) u.a.; Ausschnitt CD 2: „Hier stehe ich ...“ von 5’35“ bis 6’03“, Privataufnahme, Dauer: 0’28“ Das aus Norwegen importierte Projekt Luther – das Musical legte den Anfangsverdacht nahe, dass in Thüringen die Erinnerung an die Reformation bei schönem Wetter im Musical stattfinde. Doch erstens regnete es gelegentlich – was die vielen Interessierten aber nicht irritierte, die sich da mit der religionsgeschichtlichen Leistung Luthers und der Bedeutung des Glaubens auseinandersetzten: ein Publikum, das heute wohl kaum etwas mit Kirchen im Sinn hat. Leute, die vom Theater nur im Freien erreicht werden, schmökerten unterm Schirm im informativen und sorgfältig ausgestatteten Programmheft. Solches wechselseitige Interesse kann als diskreter Beitrag zur Reetablierung von „Volkskirche“ verstanden werden. Luther, der seine frühen evangelischen Choräle aus den unterschiedlichsten Schichten der Überlieferung unterm Aspekt der Eingängigkeit und Massenwirksamkeit zusammenschneiderte, dürfte (wenn man ihn denn noch fragen könnte) gegen das Kompositionsverfahren von Gisle Kverndokk wenig einzuwenden haben. Musik 9: Gisle Kverndokk, Luther – das Musical (Erfurt 2008); O-Ton des Theaters Yngve Gasoy-Romdal (Luther) u.a.; Ausschnitt CD 2: (Kampf und Zorn) von 7’20“ bis 10’00, Privataufnahme Dauer: 2’40“ Nach der Exkursion zum Musical nun noch eine Coda mit Mozart und Mendelssohn. Auch an Stellen, an denen es gar nicht zu vermuten ist, hinterließ Luther – wenn auch mitunter indirekt – Spuren im kompositorischen Schaffen späterer Epochen. In Emanuel Schikaneders und Mozarts Zauberflöte z.B. beim Gesang der Geharnischten. Im 2. Aufzug, der sich in ein – aus heutiger Sicht absurdes – Prüfungs-Ritual für die zwei Liebenden aus der Upperclass verstrickt, zitierte Mozart eine Melodie von Wolff Heintz. Der Magdeburger Organist hat sie 1537 zu Luthers Choral Ach Gott vom Himmel sieh darein komponiert. Mozart übernahm sie so gut wie unverändert und verarbeitete sie kontrapunktisch. In einer „Kasperloper“ wirkte dies zumindest auf die Theatergeher der ersten Aufführungs-Serie im Freihaustheater auf der Wieden als „Fremdkörper“. Das Publikum hat sich freilich in der langen Rezeptionsgeschichte an den tiefschürfenden Kunstgriff gewöhnt. Mit ihm unterstrich der Komponist drastisch den Ernst der „Liebesprüfung“ – oder eben auch die quasi-religiöse tödlich ernste 9 Anmaßung der Anweisung an Tamino. Eine Prüfung wie die, die Sarastro dem Prinzen und der von ihm auf den ersten Blick begehrten Tamina aufnötigt, mag dem Erotomanen Mozart als Zumutung erschienen sein. So ist das Zitat und die mit ihm bewerkstelligte kompositorische Verfahrensweise möglicherweise als ironische Volte zu begreifen: Als kleiner Seitenhieb auf „die Protestanten“, aus deren ideologischer Küche eine solche nicht sonderlich humane Versuchsanordnung stammen mag. Wäre diese Annahme zutreffend, dann würde der jener Melodie zugrunde liegende Luther-Text nicht zufällig die abgründige Pointe in Papagenos Welt konstituieren: Ach Gott vom Himmel sieh darein – und lass, bittschön, Gnade walten. Ja, die unberechenbare Gnade waltet dann intensiv im seraphisch schönen F-Dur-Quartett. Musik 10: W. A. Mozart, Die Zauberflöte, 2. Aufzug; Gesang der GeharnischtenWolfgang Schmidt, Hans Franzen, Uwe Heilmann, Ruth Ziesak; Wiener Philharmoniker; Musikalische Leitung: Georg Solti. Decca 433 210-2, CD 2; Track 14 (0’24“–4’36“) und Track 15 (0’00–3’04“) M0322536 W03 Dauer gesamt: 7’16“ Im Ausschnitt aus dem 2. Finale der teutschen Oper Die Zauberflöte von Emanuel Schikaneder und Wolfgang A. Mozart sangen Wolfgang Schmidt und Hans Franzen die Partien der Geharnischten Männer, Uwe Heilmann den Tamino und Ruth Ziesak die Prinzessin Tamina; es spielten die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Georg Solti. Nach der ironischen Volte oder mehrdeutig-eleganten Parodie Mozarts soll eine ernste Strophe Luthers über gottgefälliges Leben in einer „argen Welt“ die heutige Sendung beschließen. Unter den kleineren, aber orchestral groß besetzten Kirchenmusiken Mendelssohns findet sich auch die Choralbearbeitung Ach Gott, vom Himmel sieh darein – unterwegs auf der Reise 1832 nach Paris und London geschrieben. Musik 11: Felix Mendelssohn Bartholdy, Ach Gott vom Himmel sieht darein; 6. Strophe Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius; Carus 83.469, SWR M0116704 W02 Dauer: 1’23“ Zum Abschluss der Sendung Luther – das Ereignis sang der Kammerchor Stuttgart unter Leitung von Frieder Bernius die letzte Strophe der Choralbearbeitung Ach Gott vom Himmel sieht darein von Felix Mendelssohn Bartholdy. Und damit verabschiedet sich Frieder Reininghaus – bis morgen!
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