Der Tunnel Der Tunnel

 Der Tunnel E
inst lebten zwei Geschwister, die waren sich gar nicht ähnlich. Sie waren in allem
verschieden.
Die Schwester saß allein zuhause, las und träumte. Der Bruder spielte draußen mit seinen
Freunden, schrie und lachte und raufte sich mit den anderen Jungs.
Nachts schlief er friedlich in seinem Zimmer. Sie aber lag wach und lauschte den
Geräuschen der Nacht. Manchmal schlich er sich in ihr Zimmer, um sie zu erschrecken,
denn er wusste, dass sie sich im Dunkeln fürchtete.
Immer wenn sie zusammen waren, stritten und zankten sie sich lautstark.
Die ganze Zeit.
Eines morgens wurde es ihrer Mutter zu bunt. „Raus mit euch“, sagte sie, „und versucht
wenigstens dieses eine Mal, nett zueinander zu sein. Und kommt pünktlich zum
Mittagessen zurück.“
Aber der Junge wollte nicht, dass seine kleine Schwester mit ihm ging.
Sie gingen zu einem Abfallplatz.
„Warum musstest du bloß mitkommen?“ murrte er.
„Es ist nicht meine Schuld“, sagte sie. „Ich wollte nicht an diesen schrecklichen Ort
kommen. Er macht mir Angst.“
„Ach du Baby” sagte der Bruder. „Du fürchtest dich vor allem.“ Er ging auf
Entdeckungsreise.
„He! Komm her!“ schrie er nach einer Weile. Sie ging zu ihm hinüber.
„Schau mal!“ sagte er „Ein Tunnel! Komm, lass uns nachsehen, was am anderen Ende
ist.“
„N-nein, das darfst du nicht“, sagte sie. „Vielleicht gibt es Hexen... oder Geister... oder
irgendwas dort unten.“
„Sei nicht albern“, sagte der Bruder. „Das ist doch Kinderzeug.“
„Wir müssen zum Mittagessen zurück sein...“, sagte sie.
Seine Schwester fürchtete sich vor dem Tunnel. Deshalb wartete sie, bis er wieder
herauskäme. Sie wartete und wartete. Aber er kam nicht. Sie war den Tränen nahe. Was
konnte sie tun? Sie musste ihm in den Tunnel nachgehen.
Der Tunnel war dunkel, und feucht, und schleimig. Zum Fürchten.
Am anderen Ende fand sie sich in einem stillen Wald wieder. Doch von ihrem Bruder
keine Spur. Der Wald wurde bald dichter und dunkler. Sie dachte an Wölfe und Riesen
und Hexen und wollte umkehren. Aber sie konnte nicht. Was würde aus ihrem Bruder
werden, wenn sie's täte? Sie hatte jetzt große Angst und fing an zu rennen, schneller und
schneller...
Gerade als sie nicht mehr weiter laufen konnte, kam sie an eine Lichtung.
Da stand eine Gestalt wie aus Stein gegossen. Es war ihr Bruder.
„O nein!“ schluchzte sie. „Ich bin zu spät gekommen.“
Sie schlang ihre Arme um die kalte, harte Gestalt und weinte. Allmählich veränderte die
Gestalt ihre Farbe, wurde weicher und wärmer.
Dann, nach und nach, begann sie sich zu bewegen. Ihr Bruder war da.
„Rosi! Ich habe gewusst, dass du kommst“, sagte er. Sie rannten den ganzen Weg zurück.
Durch den Wald, in den Tunnel und wieder hinaus.
Zusammen.
Als sie zuhause ankamen, deckte ihre Mutter gerade den Tisch.
„Hallo“, sagte sie, „ihr beide seid so still. Ist alles in Ordnung?“
Rosi lächelte ihren Bruder an.
Und Hans lächelte zurück.
Anthony Browne: Der Tunnel.
Oldenburg: Lappan Verlag, 1989