LUTHER ODER DIE ERFINDUNG DES NEUHOCHDEUTSCHEN Ach, ihr Deutschen! Eure Überheblichkeit manchmal uns Tirolern gegenüber, als wären wir der Sprache nicht mächtig, und dazu die Verlagslektoren, wenn sie im Manuskript wieder einen vermeintlichen Austriazismus bemängeln, als gehörten solche ein für allemal ausgemerzt. Jedesmal entgegne ich zwar, dass das Hoch im Hochdeutschen geographisch gemeint und somit eine Frage der Meereshöhe ist - weshalb man im Norden Nieder- oder Plattdeutsch, in der Mitte Mitteldeutsch und in den Bergen folglich längst jenes Hochdeutsch spricht, welches die mittelniederdeutschen Piefkes von uns einfordern - aber es nützt natürlich nichts. Zu fest und falscherorts verwurzelt ist die Vorstellung eines Hochdeutschen, mit dem man eigentlich die Standardsprache eines überregionalen Schriftdeutschs meint. Dieses Standarddeutsche jedoch rührt nun wirklich von einem Mittelniederdeutschen, der uns dazu noch den Protestantismus eingebrockt hat: Martin Luther. Für das heutige Sprachverständnis, wo scheinbar falsche Dative immer noch erbitterte Leserbriefe hervorzurufen vermögen, ist schwer vorstellbar, dass es um 1500 nicht eine deutsche Sprache gab, sondern hunderte von Dialekten, deren Vokabular und Orthographie dauerndem Wandel unterlagen. Im Westen redete man von Minne, im Osten von Liebe, im Norden von Leevte; statt 'dicke' sagte man woanders 'oft'. Noch um 1566 beklagte sich ein Chronist in der damals größten Stadt nördlich der Alpen, dass 'jetzt in Köln in anderer Pronunciation und Manier zu reden ist als vor 60 Jahren; die Lettern werden versetzt… oberländische und niederländische Worte statt der alten kölnischen Sprache gebraucht'1. Und was das Staatliche betraf: Es gab zwar einen römisch-deutschen Kaiser, doch kein richtiges Reich. Als Habsburger waren seine Länderein zu verstreut, als dass sie bereits eine Nation hätten aufkeimen lassen; dazu wurde er jeweils von sieben der größten Fürstentümer als primus inter pares gewählt. Somit gab es in deutschen Landen weder eine einheitliche Sprache noch ein einheitliches Reich - vielmehr freie Reichsstädte wie Hamburg, Augsburg oder Basel und eine Kleinstaaterei von gut 300 eigenständigen Territorien, deren Grenzen ständig wechselten. Offizielle überregionale Kommunikation wurde durch die lingua franca des Latein gewährleistet, das die politische und religiöse Elite sprach. Mit dem Aufkommen der Städte (die sich zwischen 1200 und 1500 von 250 und auf rund 3000 vervielfachten) und ihres Bürgertums wurden die Kinder jedoch zunehmend weniger in Domschulen, sondern in die lokalen deutschen Schriftschulen geschickt. Das machte den Flickenteppich von Dialekten in den zahlreichen Fürstentümern zwischen Alpen und Nordsee umso sichtbarer. Dieser Regionalisierung entgegen arbeiteten die Schreiber in den Kanzleien und Kontoren, welche Briefe, Verträge, Protokolle und Gerichtsurteile möglichst allgemeinverständlich auszufertigen hatten. 1 Krischke 69 1 Nördlich der Linie Köln-Breslau wurde durch die Hansestädte und ihre Handelssprache das Niederdeutsche - wo man für Zeit 'Tid' sagte - allmählich standardisiert. Südlich davon waren drei andere Zentren von Bedeutung. Im sächsischen Raum bildete sich die 'meißnische' Kanzleisprache in den Schreibstuben des Wettiner Fürstengeschlechts heraus. Im süddeutschen Raum zwischen Wien, Augsburg und Innsbruck etablierten die Habsburger hingegen unser "gemeines Deutsch" - auch "Hochdeutsch" genannt -, in dem Österreichisches, Bairisches, Fränkisches und Mitteldeutsches aufging. Dadurch kamen etwa regionale Phänomene wie Doppelvokale breit in Umlauf: womit aus 'Zit' bald 'Zeit' wurde, aus Hus ein Haus und aus Fründ der Freund. Da das Reich der Habsburger politisch überlegen und prestigeträchtiger war, glich sich die meißnische Kanzleisprache zunehmend an dieses erste, noch rudimentäre Schriftdeutsch an: was von den Habsburger Kanzleien favorisiert wurde, setzte sich zumeist auch im restlichen deutschen Sprachraum durch. Gegen diesen Trend stemmten sich allein die autonomen Schweizer Schreiber im Südwesten und die Alemannen und Elsässer ringsum. Sie übernahmen beispielsweise diese neumodische Diphtongierung erst Ende des 16. Jahrhunderts und auch dann nur in ihre Schriftsprache, entwickelten ihre Umgangssprache jedoch unabhängig und eigenständig weiter. Sie verschmähen deshalb Doppelvokale bis heute – weshalb es nicht Schweizerdeutsch sondern Schwyzerdütsch heißt –, sie betonen Worte anders – Béton und Bállet – und sagen statt „es klingt anders'“ „es tönt anders“. Ein zweiter Faktor für die einsetzende Vereinheitlichung des Deutschen ergab sich dadurch, dass am Ende des Mittelalters zwischen 10 und 20 % der Menschen lesen und schreiben konnten2 und Gutenberg 1454 erstmals Seiten seiner gedruckten Bibel auf der Frankfurter Messe präsentierte. Darauf etablierten sich schnell allerorts meist kurzlebige Druckerpressen - heutigen Kleinverlagen vergleichbar -, die für ihre kleinräumigen Absatzmärkte Vokabular und Orthographie der lokalen Umgangssprache fixierten. In den Städten mit mehr als 30 000 Einwohnern jedoch - Köln, Leipzig, Augsburg, Nürnberg, Straßburg und Basel - kamen langlebigere größere Pressen auf. Zwischen ihnen entstanden allmählich Vertriebswege3 für den Handel mit einem neuen Luxusgut: dem Buch, das zwar einfach zu drucken war, jedoch kapitalintensive Investitionen in Papier, Arbeit und Transport erforderte, ohne dass der Absatzmarkt einschätzbar gewesen wäre.4 Ein lohnendes Geschäft ergab sich für die Druckereien erst durch Flugschriften und Ablasszertifikate. Die Flugschriften riefen nach dem Fall Konstantinopels 1453 in mehreren Kampagnen zu Kreuzzügen gegen die Türken auf. Für die Teilnahme daran wurde ein pauschaler Sündenerlass versprochen – bis ab 1515 ein solcher erkauft werden konnte, gegen Geld, welches bald für Rom und die Renovierung der Peterskirche bestimmt wurde. Dieser Abfluss von Finanzen aus Deutschland in das für seine 2 Krieschke 64 für lateinische Bücher galt dies europaweit; die Druckzentren im Ausland waren dort Venedig, Mailand, Florenz und Rom sowie Paris und Lyon; Petteegree 10-11 4 Pettegree 9-10 3 2 Korruption berüchtigte Rom war ein nicht nur vom Volk, sondern auch bei den deutschen Fürsten viel diskutiertes Thema5. Der überregionale Handel mit den hunderttausenden für die einzelnen Kampagnen gedruckten Ablasszetteln6 etablierte somit jenes Netzwerk, das Luther dann für sich nutzte - um darüber zugleich das Hochdeutsche herauszubilden. Seine privilegierte Stellung hatte Luther dem Wettiner Fürstengeschlecht zu verdanken, dessen Ländereien 1485 zweigeteilt worden waren: und zwar in das reiche Territorium um Meißen und in eine ärmere Peripherie, der jedoch der Titel Elector des deutsch römischen Kaisers zustand. Diesen schmalen Landstreifen, mit Wittenberg als einzig nennenswerter Stadt, hatte Friedrich der Weise ab 1486 zu einem kulturellen Zentrum aufzubauen begonnen, das sich eines solchen Elektorats würdig erweisen konnte. Im Zuge dessen gründete er 1502 jene Universität, in welcher der 30jährige Augustiner Martin Luther 1513 eine Professur erhielt7; der Wirbel, den Luther daraufhin europaweit machte, war Friedrich dem Weisen offenbar Werbung für sein Land genug, um ihm auch in schwierigen Zeiten den Rücken freizuhalten. Und mit der Universität kam auch eine kleine, noch dilettantisch betriebene Druckerpresse nach Wittenberg. Die durch Flugschriften und Ablasszertifikate nunmehr etablierten Vertriebswege machten Luthers 95, noch in Latein verfasste Thesen gegen den Ablasshandel 1517 binnen Wochen überregional bekannt, indem die in Wittenberg gedruckte Flugschrift in Leipzig, Nürnberg und Basel frei nachgedruckt wurde. Entscheidend für die Entstehung des Standarddeutschen war jedoch, dass Luther den Disput um den Ablasshandel nicht nur im akademischen Rahmen austrug sondern sich dafür auch direkt an die Öffentlichkeit wandte: und zwar auf deutsch. Sein achtseitiges Pamphlet vom April 1518 – Sermon von Ablass und Gnade –, das seine Thesen volksnah in klaren Sätzen und in der Theologie bis dahin nicht gekannter Kürze präsentierte, wurde sofort ein Renner. In Wittenberg wurde es mindestens 2mal aufgelegt und dann bis Jahresende in Leipzig 4mal, und je 2mal in Nürnberg, Augsburg und Basel nachgedruckt8. Luther verlegte die Debatte damit auf ein Feld, auf dem seine im Umgangsdeutschen wenig eloquenten theologischen Gegner im Nachteil waren. Zugleich erschloss er sich damit einen neuen Absatzmarkt: das lesende Laienpublikum. Dem trug Luther Rechnung, indem er 1520 eine zweite professionell betriebene Druckerei nach Wittenberg holte und mit Lucas Cranach einen Illustrator für seine zahlreichen Flugschriften gewann. Der machte daraus ein neues soziales Medium, dem er mit seinen Holzschnitten und Portraits zu einem hohen Wiedererkennungswert verhalf und somit die Marke Luther prägte. Da die Flugschriften ohne große Investitionen schnell herzustellen waren und relativ billig verkauft wurden, fanden sie reißenden Absatz. 5 Pettegree 54-57, 125-127 Pettegree 58-59 7 Pettegree 14- 18 8 Pettegree 75, 80-81 6 3 Zwischen 1518 und 1519 war Luther Europas meist publizierter Autor mit 25 lateinischen und 20 deutschen Schriften, die an ihren jeweiligen Druckorten gezählte 291 Auflagen erlebten. Der von Luther betriebene theologische Disput belebte die gesamte deutsche Druckindustrie und beförderte auch den Handel mit umfangreicheren Büchern9. Vor dem Disput, 1513, waren im deutschen Sprachraum weniger als 100 Bücher pro Jahr gedruckt worden; nach dem Disput, 1523, waren es bereits 900 – die Hälfte davon Bibeln und theologische Literatur in Auflagen zwischen 1000 und 1500 Exemplaren10. Und waren zuvor hauptsächlich lateinische Schriften gedruckt worden, waren es nun größtenteils deutsche Werke. So Erasmus von Rotterdam im Jahre 1523: „Die schreiben alles deutsch… Bei den Deutschen lässt sich kaum noch etwas verkaufen außer lutherischen und antilutherischen Büchern“.11 Ein wesentlicher Impetus für den an der Universität lehrenden Professor Luther, sich von der Gelehrtensprache Latein abzuwenden, war ein deutsches Traktat mystischen Inhalts eines anonymen Deutschordenspriesters aus dem 14. Jahrhundert gewesen, welches Luther dann 1516 unter dem Titel Eine deutsche Theologie drucken ließ In seinem Vorwort dazu bekannte er, dass ihn keine andere Schrift – außer der Bibel und Augustinus – mehr über die christliche Religion und die Menschheit gelehrt habe und dass er es dem einfachen deutschen Vokabular darin verdanke, „seinen Gott in der deutschen Zunge zu hören und zu finden“.12 Der didaktische Impuls Luthers richtete sich somit bald darauf, die Bibel dem 'gemeinen Mann' nahezubringen. Realisiert wurde dies erstmals in der 1518 veröffentlichten Übersetzung Die sieben Bußpsalmen, die „nicht für gelehrte Geister, sondern für die Ungebildeten herausgegeben“ wurden. Als Luther 1520 aufgrund seiner reformatorischen Tendenzen (und einer von ihm veranlassten Bücherverbrennung päpstlicher Literatur in Worms) mit dem Reichsbann belegt wurde und Friedrich der Weise ihn deshalb auf der Wartburg in Schutzhaft nahm, begann er in seiner Isolation mit der Übersetzung der Bibel. In 11 Wochen entstand dort seine Übertragung des Neuen Testaments, die gerade noch rechtzeitig für die Frankfurter Messe 1522 gedruckt werden konnte (und in Folge als 'September-Testament' bekannt wurde)13. Die Startauflage war hoch für ein Buch – 3000 Stück –, konnte aber durch den Erfolg der Flugschriften riskiert werden; der Stückpreis betrug 1 Gulden, was dem Marktpreis eines Kalbes oder zwei Monatsgehältern eines Schulmeisters entsprach.14 Danach folgten in weiteren Installationen, welche das Investitionsrisiko gering hielten, die einzelnen Abschnitte des Alten Testaments, die jeweils mehrfach überregional nachgedruckt wurden. Insgesamt 9 Pettegree 104-108 Sanders 120-121 11 Krischke 84 12 Hendrix 72 13 Pettegree 186-187 14 Sanders 139 10 4 erschienen derart ab 1522 erstaunliche 443 Teil- und Gesamteditionen der Bibel15, deren Ausgabe letzter Hand mit Luthers Tod 1545/46 vorlag16: sie wurde allein in Wittenberg hunderttausendmal gedruckt, im Rest des deutschen Sprachraumes in Lizenz oder als Raubdruck weitere fünfhunderttausendmal.17 Selbst wenn man einrechnet, dass sich die Bevölkerung des deutschen Sprachraums zwischen 1470 und 1600 auf 20 Millionen verdoppelte und ein gutes Drittel davon lesen und schreiben gelernt hatte18, belegen diese Verkaufszahlen auch nach heutigen Maßstäben einen historisch außergewöhnlichen Bestseller – dessen Sprache sich allmählich ins Standarddeutsche verwandelte. Für die Übersetzung des Alten Testaments hatte Luther einen Beraterstab von Expertenkollegen in Wittenberg: Matthäus Arrogallus, Professor für Hebräisch, und Caspar Creuziger, Professor der Theologie und Philosophie, beide für die hebräischen Texte und rabbinischen Kommentare zuständig; seinen engen Weggefährten Philipp Melanchthon, Professor für Griechisch, und Johannes Bugenhagen, Stadtpriester und Lektor für Theologie, die sich der griechischen Fassung respektive der lateinischen Vulgata annahmen; sowie Justus Jonas, Professor für kanonisches Recht, und Georg Rörer, Pastor, der als Luthers Sekretär fungierte. Sie trafen sich für die Erstfassung allein zwischen Jänner und März 1531 15mal und für die Revision der bereits vorliegenden Übersetzungen zwischen Juli 1540 und Februar 1541 70mal, um Textstellen sowie den deutschen Wortlaut der Reihe nach zu kommentieren.19 Verantwortlich für die deutsche Fassung zeichnete jedoch Luther allein. Seine Übersetzungsmaxime berief sich generell auf die Lehre der deutschen Schulmeister, „dass nicht der Sinn den Worten, sondern die Worte dem Sinn dienen und folgen sollen“20. Was Luther damit zum Ausdruck brachte, ist ein modernes Verständnis von linguistischer Pragmatik: ein und derselbe Sinn wird je nach Sprache und Kultur anders ausgedrückt, wobei die Worte nur Vehikel darstellen, über welche eine Idee vermittelt werden soll. Dazu muss der Wortlaut eines Ausgangstextes zunächst hinterfragt und interpretiert werden - um darauf in der Zielsprache ein möglichst wirkungsgleiches Äquivalent zu suchen. Einen in Psalm 68 im hebräischen Wortlaut „fett“ genannten Berg übersetzt Luther deshalb mit „fruchtbarer Berg“: „Weil wir im deutschen auch ein gut fruchtbares Land ein fettes Land und eine Schmalzgrube nennen, ohne dass sie mit Schmalz geschmiert sei oder von Fettem triefe“. Und aus dem „gehügelten“ Berg macht Luther einen „großen Berg“, weil bei einem solchen doch „viele Hügel aneinander und immer einer über den anderen, bis auf den höchsten Hügel“ sind.21 Das heißt, dass nach der philologischen Erschließung eines Textes der Vorgang des Verdolmetschens 15 Pettegree 188, 190-191 Beutel 259-60 17 Sanders 142 18 Sanders 121 19 Hendrix, 262-3; Sanders 140 20 Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschen 1531/33; Beutel 232 21 ibid. 16 5 einsetzt, der auch auf spezifische Sprechsituationen eingeht: Reden oder Predigten sollen auch im Deutschen als Reden und Predigten wirken können. Dementsprechend übersetzte Luther einen lateinischen Satz aus Paulus Brief an die Römer mit: „Wir halten, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben“. Damit fing er sich den Unmut der Papisten ein, weil in der Vulgata das Wort 'sola' (allein) nicht zu finden ist. Luther führte als Verteidigung gegen diese „Eselsköpf“ an, dass ein verstärkendes 'allein' in der lateinischen und griechischen Sprache nicht üblich ist, sehr wohl jedoch im Deutschen: „Denn obwohl man auch sagen kann 'der Bauer bringt Korn und kein Geld', so klingt das Sprichwort doch nicht so vollständig und deutlich, wie wenn ich sage 'Der Bauer bringt allein Korn und kein Geld'; und dabei hilft das Wort 'allein' dem Wort 'kein' so viel, dass daraus eine völlig deutsche, klare Rede wird. Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man Deutsch reden soll, wie diese Esel es tun - sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt dazu befragen und ihnen auf das Maul sehen wie sie reden und danach dolmetschen: so verstehen sie es denn und merken, dass man Deutsch mit ihnen redet.“22 Es lag Luther also daran, Gedanken des Originals in der Zielsprache mit einer passenden Idiomatik zu präsentieren; nicht um identische, d.h. wortwörtliche Entsprechungen ging es ihm, sondern um analoge Ausdrücke, mit denen sich die Wirkungsäquivalenz eines Gedankens erhalten ließ. Nur wo dies nicht möglich war, wie im 19. Vers des Psalm 68, hielt Luther sich an die Ausdrucksweise des Originals: "Du bist in die Höhe gefahren und hast das Gefängnis gefangen - Hier wäre wohl 'Du hast die Gefangenen erlöst' gut Deutsch gewesen, aber es ist zu schwach und gibt nicht den feinen reichen Sinn wieder, der im Hebräischen steckt, das sagt: Du hast das Gefängnis gefangen – was nicht allein zu verstehen gibt, dass Christus die Gefangenen befreit hat, sondern zugleich auch das Gefängnis abgeführt und gefangen hat, damit es uns selbst nimmermehr weder fangen kann noch soll".23 Im Übrigen hält Luther den „Klügelingen“ vor, die ihn wegen seiner Abweichungen vom Wortlaut „meistern und vielleicht auch etliche Fromme sich dran stoßen: Was bringt es denn, die Worte ohne Not so steif und streng zu halten, dass man daraus nichts verstehen kann? Wer deutsch reden will, der muss nicht der hebräischen Worte Weise führen, sondern muss darauf sehen, wenn er den hebräischen Mann versteht, dass er den Sinn fasse und sich also denken: Lieber – wie redet der deutsche Mann in solch einem Fall? Wenn er nun die deutschen Worte hat, die hiezu dienen, so lasse er die hebräischen Worte fahren und spreche frei den Sinn heraus, im besten Deutsch zu dem er fähig ist“. Jedesmal, wenn ich das lese, muss ich lachen - weil Luther damit nicht nur anschaulich die Technik des literarischen Übersetzens beschrieben hat, sondern auch - wie in meinem Fall bei der Ilias - die Reaktion der gräzistischen Klügelinge, die sich daran stießen, dass ich mich nicht streng an den Wortlaut hielt, weil man erst dadurch dem Original treu zu bleiben vermag. 22 23 Sendbrief vom Dolmetschen 1530; zitiert in Thielemann Summarien 6 Doch schaute Luther dafür wirklich der Mutter zuhause in Wittenberg, den Kindern in der Gasse und dem gemeinen Mann am Markt aufs Maul? Nicht nur. Denn für seine Übersetzung schuf er aus Umgangssprachlichem und ersten vereinheitlichen Formen des Schriftdeutschen eine eigene überregionale Kunstsprache, die es vorher so nicht gegeben hatte. In seinen Tischgesprächen merkt er dazu an: „Ich rede nach der sächsischen Kanzlei, wie es alle Fürsten und Könige in Deutschland nachmachen; alle Reichstätten und Fürstenhöfe schreiben gemäß der sächsischen Kanzleien unserer Churfürsten. Darum ist es auch die allgemeinste deutsche Sprache. Kaiser Maximilian und Kurfürst Friedrich haben so das Reich zu einer gewissen Sprache bestimmt und haben also alle Sprachen in eine gezogen.“24 Die Wichtigkeit und Verbindlichkeit der sächsischen Kanzleisprache – auch gegenüber der prestigeträchtigeren habsburgischen Kanzleisprache Kaiser Maximilians – wird hier zwar überbetont; dennoch folgte Luther dem, was er Gemeinsprachtendenzen nannte25. Deshalb floss sowohl Vokabular aus hochdeutschen Dialekten und der Kanzleisprache der Habsburger wie Niederdeutsches in Luthers Schriften ein. Ausgeschlossen wurden von ihm dagegen das Schweizerische und Alemannische, das er als „filzig und zotig“ empfand. Um Gottes Wort zwischen der Nordsee und den Alpen „klar und gewaltig zu verdeutschen“, entstand so eine Mischsprache, aus der das heutige Standarddeutsch hervorging.26 Luther war sich der Artifizialität seines Unternehmens bewusst, mit der er für die Bibel Worte aus den verschiedensten Landesteilen zu einer Sprache kollationierte: „Ich habe keine gewisse, sonderliche, eigene Sprache im Deutschen, sondern gebrauche die gemeine deutsche Sprache, damit mich beide, Ober- und Niederländer verstehen können“27. Was er mit dieser Gemeinsprache formte, war die Grundlage für jenes Hochdeutsche, das sich nun allmählich vom geographischen Bezug des Alpinen ablöste, um zu einem sprachlich Überbau zu werden, der hoch über die jeweiligen Landesgrenzen hinweggriff. Er hat „durch seine gewaltige Bibelübersetzung die deutsche Sprache erst recht geschaffen“ – so Thomas Mann28. Luther war mit mehreren Mundarten vertraut. Seine Muttersprache war der mitteldeutsche Dialekt des Thüringischen. Der Ort, wo er aufwuchs, Mansfeld am Südrand des Harzes, lag jedoch im niederdeutschen Gebiet, sodass er Platt hörte - während das sächsische Fürstentum, zu dem der Ort gehörte, an den süddeutschen Raum grenzte, wo die meisten seiner Schriften gedruckt wurden; ein wichtiger Absatzmarkt, in dem Hochdeutsch gesprochen wurde. Luther entschied sich für jene Formen, die seiner Ansicht nach den breitesten Umlauf und die besten Aussichten hatten, sich durchzusetzen. Wo angebracht, kam die meißnische Kanzleisprache dabei der habsburgischen gegenüber zum Zug: weshalb er prahlen statt geudnen, heucheln statt gleissnen wählte. Hochdeutsche Ausdrücke und Schreibweisen wie Brunn und bringen setzten sich hinwieder gegen Born und brengen durch. Niederdeutschen Begriffen wie Pfote, Hälfte, Lippe, Kahn, Balken gab er gegenüber den 24 Krischke 76 Sanders 147 26 Krischke 76-77 27 Beutel 262-263 28 Th Mann, Deutschland und die Deutschen, gesammelte Werke 1133f. 25 7 hochdeutschen Pratze, Halbteil, Lefze, Nachen, Tram den Vorzug. Dazu brachte er slawische Lehnwörter aus ostdeutschen Dialekten in seine Schriftsprache ein: Peitsche, Jauche und Grenze lösten Geissel, das doppeldeutige Adel und Mark ab. Und statt mannigfarb, gemengt oder gespränkelt verbreitete er nun das tschechisch-magyarische bunt im deutschen Sprachraum. Indem Luther die ostdeutsche Praxis des unbetonten e's in Stammsilben und Endungen übernahm, bewahrte er das Flexionssystem: das Luthersche e markiert nach wie vor den Konjunktiv von ihr habet. Er griff auf das urdeutsche Stilmittel des Stabreims zurück - zittern und zagen (Markus 14.33) und brachte Reimpaare wie Rat und Tat (Sprichwörter 8,14) zum Vorschein.29 Ebenso einflussreich wie sein eklektisches Vokabular wurden auch Luthers Neologismen, die sich größtenteils aus seiner Übersetzungsarbeit ergaben. Dazu zählt Feuereifer, friedfertig, Herzenslust, wetterwendisch, gastfrei, Glaubenskampf, Gnadenbild, Ehescheidung, Lückenbüßer (büßen im Sinne von „ausbessern'“), Machtwort, Lästermaul, lichterloh, Menschenfischer, Kriegsknecht, Rüstzeug, Flattergeist. 30 Er prägte zahlreiche Redensarten – aus seinem Herzen keine Mördergrube machen; sein Licht unter den Scheffel stellen; wes das Herz voll ist, des geht der Mund über31 – und brachte übersetzte Stellen aus der Vulgata als Sprichwort in Umlauf. So wurde aus Matthäus 26,41: spiritus quidem promptus est caro autem infirma – Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach; aus Johannes 4, 44: propheta in sua patria honorem non habet – Ein Prophet daheim gilt nichts; aus Apostelgeschichte 20, 35: beatius est magis dare quam accipere – Geben ist seliger als nehmen; aus Genesis 1,28: crescite et multiplicamini et replete terram – Seid fruchtbar und mehret euch; aus Exodus 3,8 und 21,24: in terram quae fluit lacte et melle sowie oculum pro ocula dentem pro dente wurde Ein Land, wo Milch und Honig fliesst sowie Auge um Auge, Zahn um Zahn; und aus Deuteronomium 8.3: non in solo pane vivat homo – Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.32 Durch all dies erweiterte Luther das Register der deutschen Sprache und brachte sie dort ein, wo zuvor Latein das einzige Ausdrucksmittel gewesen war. Sein Unterfangen, die Heilsbotschaft in Volkes Sprache unter die Leute zu bringen, blickte dabei auf eine alte Tradition zurück: bereits die Kirchenväter des 2. Jahrhunderts hatten die hebräischen Schriften nicht in ein literarisches, sondern in ein umgangssprachliches Griechisch übertragen. Auch Hieronymus' Bibelübersetzung – die Vulgata, welche Luther ausdrücklich zu seinem Vorbild deklarierte – hatte sich ebenfalls an einem nichtklassischen Latein orientiert, wie es landläufig im 4. Jahrhundert gesprochen wurde. Andererseits wurde Luthers Übersetzung wiederum für William Tyndale zum Modell, dessen Übertragung die King 29 Sanders 147 Krischke 79-81 31 Krischke 79-81 32 Sanders 148 30 8 James Bibel wesentlich beeinflusste, die in vergleichbarer Weise das Englische des 17. Jahrhunderts prägte.33 Zum einen ersetzte Luthers Bibeldeutsch, das man heute Frühneuhochdeutsch nennt, sehr bald Latein als Kommunikationsmittel in den Universitäten, Regierungen und der Kirche: in der lutheranischen sofort, in der katholischen erst im 20. Jahrhundert. Zum anderen wurde es – über das Prestige und die Verbreitung seiner Bibel – im deutschen Sprachraum zum schriftlichen Standard, der auf die Dialekte eine gewisse normative Kraft ausübte, ohne sie jedoch ganz zu ersticken. Das Neuhochdeutsche wurde dabei jedoch zur Sprache der Macht und einer Nation, die ihr Verbindliches in einer gemeinsamen Kultur sah. Das zeigt sich daran, dass 1871 – als sich die deutschen Kleinstaaten unter Bismarck zum Zweiten Deutschen Reich verbanden – das Standarddeutsch in die neue Hauptstadt Berlin importiert wurde. Das Neuhochdeutsche begann, das bis dahin dort gesprochene Plattdeutsch ebenso zu verdrängen wie das breit sich im Umlauf befindliche Polnische - doch nicht zur Gänze. Denn aus dem sich von piwo ('Bier) ableitenden Familiennamen Piwka wurde derart das Stereotyp jenes preußischen Piefkes, der sich nun jenes Hochdeutschen erst befleißigen musste, das wir in Tirol bereits seit Walther von der Vogelweide und Oswald von Wolkenstein sprechen. Und die Plattdeutschen, werden Sie fragen? Auch sie mussten das Hochdeutsche erst in der Schule lernen, wo sie das Schriftdeutsche ihrem norddeutschen Dialekt gemäß aussprachen. Daher sagen sie immer noch statt dem korrekten kLaut von China und Chemiker ein ch, wenn nicht gar sch, lassen das p vor f und nach m fallen wie in Pflaume und Sumpf und wissen im Schriftbild dieser für sie halben Fremdsprache die kurzen nicht von den langen Vokalen zu unterscheiden und umgekehrt: weshalb sie Glas und Zug unnötig kurz, Art, Städte, Behörde und Pferd jedoch unnötig lang aussprechen.34 Allein in der Schweiz konnte sich das neue Kunstdeutsch nicht durchsetzen. Als der Basler Adam Petri 1523 Teile von Luthers Bibelübersetzung nachdruckte, fügte er seinen alemannischen Lesern bereits eine Wortliste bei, die deren Vokabular „in unser Hochdeutsch“ übersetzte. Zwingli ging dann noch einen Schritt weiter und übersetzte in Zürich die gesamte Bibel in die eidgenössische Kanzleisprache des Schwyzerdütschen; er wurde damit sogar fünf Jahre vor Luther fertig35. Damit legte er seinerseits die Grundlage für das heutige Schweizerdeutsch, das nun im österreichischen wie in eurem Fernsehen untertitelt oder gar synchronisiert wird, als habe es schon immer ein sakrosanktes Standarddeutsch gegeben – das jedoch nicht vom Himmel fiel, sondern erst erfunden werden musste. 33 Sanders 148-149 Sanders 157-164 35 Krischke 82 34 9 Scott H. Hendrix, Martin Luther - Visionary Reformer, Yale 2015 Wolfgang Krischke, Was heisst hier DEutsch? Kleine Geschichte der deutschen Sprache, München 2009 Ruth H. Sanders, German - Biography of a Language, Oxford 2010 Luther Handbuch, Albrecht Beutel Hg., Tübingen 2010 Andrew Pettegree. Brand Luther - How an unheralded monk turned his small town into a center of publishing, made himself the most damous man in Europe - and started the protestand Reformation, New York 2015 Winfried Thielmann, Luther als Übersetzer- ein Pragmatiker am Werk? in: Diskurse und Texte, Festschrift für Konrad Ehlich zum 65. Geburtstag, hr. Angelika Redder, Stauffenburg Verlag 2007 10
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