GOTT UND DIE WELT Liebes Tagebuch…

Abteilung:
Sendereihe:
Sendedatum:
Kirche und Religion
Gott und die Welt
01.01.2017
Redaktion:
Autor/-in:
Sendezeit:
Anne Winter
Juliane Ziegler
9.04-9.30 Uhr/kulturradio
Eine Übernahme vom Hessischen Rundfunk vom 3.1.2016
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GOTT UND DIE WELT
Liebes Tagebuch…Von wertvollen Zeitdokumenten bis zum Therapeuten in
der Schublade
Es sprachen:
Ingrid Ziska El Sigai, Bastian Korff und Yana Robin La Baume
Redaktion:
Lothar Bauerochse
Regie:
Annette Neupert
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Atmo: Schreibgeräusche.
O-Ton Franziska:
Also ich komm’ aus einer Familie, wo viel gelesen wird, und wo auch gerne
geschrieben wird, ich hab’ früher viele Brieffreundschaften gehabt und ich denk, so
war das ein bisschen auf den Weg mitgegeben.
O-Ton Sebastian:
Ich schreib’ seit ich schreiben kann, und das ging damit los, dass meine Eltern mir ins
Heft diktiert haben. Wenn ich mir meine ersten Tagebücher angucke, sind das eher die
Gedanken von meinen Eltern, die ich da notiert habe. Da gehts drum, welche Preise es
in der Gaststätte gab, welche Markierungen der Wanderweg hatte, so seltsame
Sachen, die nicht kindertypisch sind.
Titelsprecherin:
Liebes Tagebuch…
Von wertvollen Zeitdokumenten bis zum Therapeuten in der Schublade
Eine Sendung von Juliane Ziegler
O-Ton Ingrid: Ich schreibe alle paar Tage was auf. Ich schreib’ manchmal zu Büchern,
die ich gerade lese, oder zu Sachen, die ich erlebt hab, aber auch geschäftliche
Sachen schreib’ ich mit rein. Also alles ist in einem Buch, und gibt so ein Kaleidoskop
über das Jahr von mir und von meinem Leben.
Sprecherin:
Tagebuchschreiben. Sich regelmäßig, vielleicht tatsächlich jeden Tag Notizen machen.
Beobachtungen. Erlebnisse. Persönliche, private oder sogar intime Erfahrungen zu
Papier bringen.
O-Ton Heidi Crämer:
Ich bin überzeugt, das muss angeboren sein. Das Bedürfnis, etwas festzuhalten, zu
gestalten, was einem so im Alltag begegnet. Wenn ich mich in meinen Stuhl setze und
weiß: Heut’ hab’ ich Zeit, des is’ ein enorm schönes Gefühl. Und zu überlegen: Was is’
mir jetzt gerade wichtig und des dann zu formulieren - des ist einfach ein Lustgewinn
(lacht).
Sprecherin:
Tagebuchschreiber - berühmte wie unbekannte - halten ihre Erinnerungen für sich
oder für andere fest, wollen ihre Geschichte vor dem Vergessen bewahren, Spuren
hinterlassen. Oder: Sie suchen einen Gesprächspartner.
Zitatorin Anne Frank:
Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem
gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.
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Sprecherin
…schreibt Anne Frank im Juni 1942.
Zitatorin Anne Frank:
Ich nehme an, dass später weder ich noch jemand anders Interesse haben wird an den
Herzensergüssen eines dreizehnjährigen Schulmädels. Aber ich habe Lust zu
schreiben und will vor allem alles Mögliche gründlich von der Seele reden. Papier ist
geduldiger als Menschen.
Sprecherin:
In der Isolation des Verstecks wünscht sich Anne eine Freundin - ihrem Tagebuch
kommt diese Rolle zu. Zwei Jahre lang, bis zu ihrer Entdeckung, notiert Anne
regelmäßig ihre Gedanken, adressiert an Kitty.
In siebzig Sprachen übersetzt und von der Unesco in das Weltdokumentenerbe
aufgenommen, ist Anne Franks Text das wohl meistgelesene Tagebuch. Ein
eindrückliches Lehrstück über den Holocaust und ein Eckpfeiler der
Erinnerungskultur. Gleichzeitig: der Einblick in die Welt eines Teenagers.
Bereits in der Antike notierten Herrscher und Staatsoberhäupter Höhepunkte ihres
Lebens; Theologen und Philosophen hielten den Alltag fest - das Tagebuch als
Chronik. Später, vor allem seit der Renaissance, entsteht ein Ich-Kult. Tagebüchern
kommt verstärkt die Funktion zu, das eigene Leben zu reflektieren.
O-Ton Heimes:
Das führt sich dann fort, Sigmund Freud hat Tagebuch geschrieben, ganz viele Leute,
denen es tatsächlich um dieses „Erkenne dich selbst“ ging. Ob das immer gelungen ist,
ist nochmal ne andere Frage.
Sprecherin:
…sagt Silke Heimes. Die Ärztin leitet das Institut für Kreatives und Therapeutisches
Schreiben in Darmstadt. Für viele Künstler, Politiker und Wissenschaftler haben Tagebücher die Funktion von Werkstattheften und Skizzenbüchern oder sie beschreiben
darin Entwicklungsprozesse: Etwa Käthe Kollwitz, Andy Warhol, Kurt Cobain oder Che
Guevara.
Viele Schriftsteller dokumentieren in ihren Tagebüchern ihre Einfälle und Beobachtungen: Goethe, Franz Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Virginia Woolf, Max Frisch,
Selma Lagerlöff oder Sylvia Plath. Im Exil lebende Autoren wie Hilde Domin oder Anna
Seghers nutzen das Schreiben um ihre Situation zu verarbeiten. Gleichzeitig verbindet
Schrift und Sprache sie weiterhin mit ihrer Heimat. Sehnsüchte, Einsamkeit, Zweifel,
Wut, Trauer, Not, Scham, Verzweiflung oder Schuld, aber auch Glücksgefühle und
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andere positive Emotionen - sich all das von der Seele zu schreiben, ist heilsam.
Therapeutin Silke Heimes:
O-Ton Heimes:
Schreiben hat ja verschiedene Funktionen, Selbstreflexion, Erkenntnis, Hilfe bei
Entscheidungsprozessen, Verarbeitung, Entlastung von bestimmten Dingen. Ich
glaube, wenn man regelmäßig schreibt, kann es so etwas wie eine „Seelenhygiene“
sein und nur im regelmäßigen Schreiben entdeckt man bestimmte Verhaltensmuster
von sich selbst, wie man mit Dingen umgeht, was funktioniert, was nicht funktioniert.
Zitator - Graham Greene:
Schreiben ist eine Art von Therapie; manchmal frage ich mich, wie jene Menschen, die
nicht schreiben, komponieren oder malen, es fertigbringen, dem Wahnsinn, der Melancholie oder der panischen Angst zu entfliehen, die mit dem Menschsein verknüpft sind.
Sprecherin:
…so der britische Autor Graham Greene über das Schreiben.
O-Ton Sebastian:
Das Schreiben ist für mich wie so’n Abladen von Gewicht. Aber es hilft mir auch, wenn
ein Lebensabschnitt zu Ende geht, da das abzuschließen und was Neues zu beginnen.
Ob das ein Jobwechsel ist oder von der Freundin getrennt, also wo was Neues
losgeht, hab ich
das Bedürfnis, das Alte niederzuschreiben.
Atmo: Blättern, Papierrascheln
O-Ton Ingrid:
Es ist so ein Denken mit der Hand. Es hilft dem Denken, mir klarer zu werden oder
Gedanken ein bisschen festzuhalten, die sonst so flüchtig sind und schnell weg wären
und wieder aus dem Sinn.
O-Ton Franziska:
Wenn Gedanken im Kopf bleiben, dann sind das oft nicht klar formulierte Gedanken,
sondern eher Gefühle und diffuse Vorgänge in einem. Wenn ich was ganz konkret
benenne, vielleicht auch Ängste oder Sorgen, dann verlieren die oft ihren Schrecken
und sind gar nicht mehr so aufgebauscht und groß, wie sich das vorher im Kopf
alles so anfühlt.
Sprecherin:
Wer schreibt, hält inne, fokussiert sich. Der Schreibprozess unterstützt das Nachdenken und fördert unbewusste Assoziationen. Dadurch kann man neue Sichtweisen
auf Erlebtes bekommen und Vergangenes verarbeiten.
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In den USA gibt es die so genannte „Poetry therapy“, Poesietherapie. Dort ist sie
neben anderen expressiven Therapieformen wie Tanz-, Musik- oder Drama-Therapie
längst anerkannt. Die Bezeichnung suggeriert:
O-Ton Heimes:
„Ich muss jetzt poetisch werden, also ich muss jetzt dichten und so“…,
Sprecherin:
…sagt Silke Heimes…
O-Ton Heimes:
… deswegen hat sich in Deutschland mehr der Begriff bewährt „Kreatives und
therapeutisches Schreiben“ und ich benutze gerne beide Begriffe, weil das nicht
trennscharf ist. Für viele Menschen hat es auch einen kränkenden Aspekt, Therapie in
Anspruch nehmen zu müssen. Insofern ist da die Möglichkeit zu sagen: „Ich arbeite
kreativ.“
Vor allem im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich wird diese Therapie
angewendet, bei Angststörungen, Suchterkrankungen, Burn-Out oder Depressionen.
O-Ton Heimes:
Auch bei Schmerzpatienten kann man eine ganze Menge erreichen, dass man mit dem
Schmerz einen Umgang findet, den Schmerz besser versteht oder besser aushalten
kann, also auch zunehmend im somatischen Bereich.
Sprecherin:
Daneben wird Schreibtherapie in der Trauer- und Sterbebegleitung eingesetzt, in der
Sozialarbeit oder in der Kinder- und Jugendarbeit. Zum Beispiel, um das Selbstwertgefühl zu stärken, die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern oder zur sozialen
Integration.
Beim Schreiben werden geistige Inhalte in sprachliche Strukturen übertragen und
verschiedene Gehirn-Areale aktiviert:
O-Ton Heimes:
Das ist so vielfältig, dass ich glaube noch nicht mal Hirnforscher eine Antwort drauf
geben könnten. Aber da werden natürlich Zentren, die für Emotionen zuständig sind
aktiviert, dann der frontale Kortex, der für kognitive Leistungen zuständig ist, wird
aktiviert, ja.
Sprecherin:
Schreibtherapie gibt es in der Gruppe oder im Einzelgespräch. Allerdings:
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O-Ton Heimes:
Das Papier sollte ein absoluter Schutzraum sein. Wenn jemand merkt im Schreiben: Da
ist etwas hochgekommen, was ich nicht mit anderen teilen möchte, nicht in diesem
Rahmen und nicht zu diesem Zeitpunkt, dann hat das absolute Priorität.
Sprecherin:
Trotzdem ist das Präsentieren der Texte ein wichtiger Aspekt. Vor allem in der Gruppe
merken die Schreibenden, dass sie mit vielem nicht alleine sind. Oder bekommen
durch die Texte Anderer Ideen, wie sie mit ihren Problemen umgehen können.
O-Ton Heimes:
Das sind Phänomene wie: „Der Text und ich sind es wert, gehört zu werden, gelesen zu
werden“. Dann findet ja auch ein Feedback statt, `ne Anteilnahme, vielleicht
Empathie.
Sprecherin:
Sprachregeln gibt es keine. Aber es kann hilfreich sein, die Perspektiven zu wechseln mal in der Ich-Form schreiben, dann in der dritten Person. Dadurch entsteht Distanz
zu einem Erlebnis, erklärt Silke Heimes. Oder die Zeiten variieren: Im Präsens
geschrieben wirken Probleme näher, als in der Vergangenheitsform notiert.
Allerdings: Nicht immer ist diese Therapie empfehlenswert: Zum Beispiel kann das
Schreiben für manche zu einer Art Zufluchtsraum werden, der keinen Kontakt mehr
zur Außenwelt zulässt. Dann wird die eigene Innensicht permanent reflektiert - ohne
neue Perspektiven, man dreht sich im Kreis.
Auch wenn Themen behandelt werden, die sehr stark belasten und der psychischen
Stabilität zu viel abverlangen, ist die Therapie nicht geeignet und sollte sofort
gestoppt werden.
Silke Heimes hat beobachtet, dass kontinuierliches Schreiben sprachsensibler macht:
O-Ton Heimes:
Es war eine Patientin, die suizidal war und sie schrieb: „Ich will mir das Leben
nehmen“. Nachdem sie das geschrieben hatte, las sie den Satz nochmal und sagte:
„Ja, warum mache ich das nicht endlich, warum greife ich nicht zu und nehme mir das
Leben?“ - also mit beiden Händen zugreifen und wieder ins Leben gehen. Das finde ich
ganz spannend, was entstehen kann, wenn man die Worte beim Wort nimmt.
Sprecherin:
Schreiben verbessert die Aufmerksamkeit und die Konzentration.
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O-Ton Heimes:
Man kann ja nur über das schreiben, was man wahrnimmt. Sowohl im Außen als auch
im Innen, und damit ist jede Wahrnehmungsschulung auch eine Schulung in Achtsamkeit. Je länger man schreibt, umso achtsamer wird man.
Sprecherin:
Und dabei macht es einen Unterschied, wie man schreibt: Schreibt man mit der Hand,
statt auf einer Tastatur zu tippen, ist die motorische Bewegung größer, erklärt die
Therapeutin:
O-Ton Heimes:
Dadurch werden mehr Gehirnareale aktiviert, die auch für kreatives Denken zuständig
sind und für Problem lösen, insofern ist es empfehlenswert ab und zu mit der Hand zu
schreiben. Aber ich glaube, je flexibler man das handhabt, umso sinnvoller ist es, weil
das Tippen auf der Tastatur - diese eher monotone Tätigkeit kann auch einen
beruhigenden Effekt haben.
Sprecherin:
Hilfe zur Selbsthilfe, als Ergänzung zu anderen Therapien, relativ kostengünstig wenn Schreibtherapie doch so viele Vorteile mit sich bringt, warum ist sie dann in
Deutschland - vergleichen mit den USA - so wenig etabliert und von den Krankenkassen nicht anerkannt? Ressentiments einerseits, Lobbyismus andererseits, meint
Silke Heimes:
O-Ton Heimes:
Jemand, der depressiv ist und keine Antidepressiva mehr braucht, weil er sich mit
therapeutischem Schreiben heilt, geht dem Markt verloren, das ist jetzt ein bisschen
ketzerisch, aber so ist es letzten Endes und ich glaube, dass wir da sehr viel von
Amerika lernen können.
Dort gibt es natürlich auch eine Pharmaindustrie. Aber ich glaube, dass dort nicht so
viele Scheren im Kopf der Leute sind. Das sieht man auch an den Hochschulen, da gibt
es in jeder Hochschule Creative Writing. Das kann man bei uns suchen, weil es ein
bisschen belächelt wird.
Atmo Diary Slam - Stimmengewirr, unter Text weiterlaufen lassen
Sprecherin:
Ein Winterabend in Frankfurt. Etwa fünfzig Menschen sind da, um beim so genannten
„Dairy Slam“ Autorinnen und Autoren zuzuhören, die aus ihren Tagebüchern vorlesen.
Um Selbstzweifel, Gefühlschaos, Fettnäpfchen und besondere Erlebnisse geht es:
Laura liest aus ihrem Traumtagebuch vor, Andi - mit schwarzer Mütze und Bierflasche
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vor sich - erzählt Anekdoten vom Ausgehen, Anne trägt Reiseerlebnisse aus Indien vor
und Ingrid liest aus dem Tagebuch, das sie als Teenager führte:
Atmo Diary Slam - Lesung Ingrid
Das war mit dreizehn. 01.01.`76. Mein Geburtstag. Wir gingen essen. Es war sehr gut.
(lachen, klatschen)
Heute war ich in Offenbach und ein Junge hat mir zugepfiffen, doch ich achtete nicht
darauf. (lachen)
3.1.`76: Heute Abend war ich betrübt, weiß aber nicht warum. (lachen)
O-Ton Ingrid:
Ich hatte diese kleine Stelle vorgelesen, wo ich diesen Jungen - der mir irgendwie
zugezwinkert hat, oder so. Das war natürlich eine erste spannende Lebenserfahrung
gewesen, die ich bis dahin noch nicht kannte und das fand ich interessant.
Atmo: Diary Slam Ingrid liest
Sprecherin:
Jeder Leser bekommt Punkte vom Publikum, am Ende des Abends wird der Gewinner
bestimmt. Je schräger, lustiger, peinlicher die Einträge, desto höher die Chance zu
gewinnen.
Atmo Punktevergabe
Sprecherin:
Ist es nicht seltsam, vor fremden Menschen aus seinen Tagebüchern zu lesen? Etwas
eigentlich doch privat-intimes öffentlich zu machen? Ingrid stört es nicht, im Gegenteil:
O-Ton Ingrid:
Ich wusste, dass das wirklich witzig aufgenommen werden würde und es ist ja einfach
etwas von `nem jungen Mädchen und das ist soweit von mir weg - das ist schon fast
wie eine Art Fiktion, was man von irgendjemandem liest.
Sprecherin:
Eine Art Fiktion, unterhaltsame Geschichten aus einer anderen Welt, aus einer
anderen Zeit. Und gleichzeitig haben manche Tagebuchschreiber auch ein gewisses
Sendungsbewusstsein:
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O-Ton Sebastian:
Bestimmte Sachen aus meinen Tagebüchern zu teilen ist was, worauf ich Lust hab. Es
ist so, dass ich mir wünsche, dass ich irgendwann mal Kinder und Enkelkinder hab’, die
mich fragen, ob sie in meinen Tagebüchern lesen könnten. Ich bin dankbar, wenn ich
aus meiner Familie irgendwelche alten Zeugnisse finde und, ja, vielleicht freut sich ja
jemand über meine Zeugnisse.
Sprecherin:
Ein besonderer Ort für derlei persönliche Zeugnisse ist das Deutsche Tagebucharchiv
in Emmendingen bei Freiburg. Es bewahrt Tagebücher, Memoiren, Erinnerungen und
Briefwechsel auf. Mehr als 3.500 Schicksale in rund 16.000 Dokumenten: Tragik und
Freude, Glück und Unglück, Scheitern und Gelingen, Alltag und außergewöhnliche
Zeiten. Das älteste Tagebuch stammt von einem Pfarrer aus dem Jahr 1760, das
jüngste aus der Gegenwart.
Frauke von Troschke leitet das Tagebucharchiv:
O-Ton von Troschke:
Ich finde generell alles, was mit Menschen, Menschengeschichten, Menschenleben zu
tun hat, ist was, was mich sehr fasziniert. Die Vielfältigkeit und die Probleme, die
Menschen in ihrem Leben bearbeiten müssen oder überarbeiten müssen.
Sprecherin:
Um persönliche Krisen, Grenzsituationen und Schicksalsschläge geht es, …
O-Ton von Troschke:
…um echte Probleme, weil wenn es einem gut geht, schreibt man leider wenig, so dass
wir wenig heitere Dokumente haben. Beziehungsprobleme, wirtschaftliche Probleme,
Krankheit, Krieg - alles kommt vor. Jeder Schmerz, jede Trauer geht einem nach. Die
erlebt man mit und ob das nun jemand ist, der im Gefängnis saß sein Leben lang oder schreckliche Geschichte - von Alkoholiker, der immer wieder versucht, von seinem
Alkohol wegzukommen, die Familie darüber kaputt geht.
Sprecherin:
Einige, die ihre Bücher abgeben, sagen:
O-Ton von Troschke:
„Es war so eine unglaubliche Zeit, die ich erlebt habe“, und das kann man sich vorstellen, wenn man nur an die letzten Kriegsjahre denkt, an diese schreckliche Zeit.
Sprecherin:
…erzählt Frauke von Troschke.
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O-Ton von Troschke:
Meine Generation - 1944 bin ich geboren - da ist so viel passiert, auch in den Familien
nach dem Krieg, da ist noch wenig drüber gearbeitet, das wird wohl demnächst sich
mal entwickeln.
Sprecherin:
Andere Tagebuchschreiber wollen zeigen, dass sie schwere Zeiten durchlebt haben, es
im Leben immer weiter geht und keinen Stillstand gibt. Sie möchten anderen Mut
machen, Hoffnung geben.
Und es sind eher Frauen, die ihre persönlichen Gedanken und Erlebnisse im Tagebuch
festhalten.
O-Ton Heimes:
Ich weiß nicht, wie hoch die Dunkelziffer bei Männern ist, die Tagebuch schreiben.
Aber Männer haben häufig einen höheren Anspruch, einen literarischen Anspruch,
oder ja - da ist dieses beschämende Element: „Ich muss doch nicht Tagebuchschreiben, also das ist ja peinlich irgendwie“, dieses Stigma haftet dem Tagebuch nach
wie vor an, glaube ich, und das lässt Männer zurückhaltender sein.
Sprecherin:
…meint Silke Heimes, die Schreibtherapeutin. Frauke von Troschke hat im Tagebucharchiv hingegen eine andere Beobachtung gemacht. Dort gibt es deutlich mehr Aufzeichnungen von Männern:
O-Ton von Troschke:
Das erstaunt immer wieder. Aber ich denke, das liegt daran, dass die Männer sich ihre
Kriegserlebnisse von der Seele schreiben müssen. Das ist ganz sicher eine Form der
Therapie. Dinge, die sie nicht gut verarbeiten können oder wo sie nicht drüber
sprechen möchten, weil es einfach so hart war.
Sprecherin:
Vielleicht aber haben Männer doch einfach ein größeres Selbstdarstellungs-Bedürfnis
und geben ihre Aufzeichnungen eher in ein öffentliches Tagebuch-Archiv als Frauen.
Früher wären die Dokumente, die das Archiv sammelt, vermutlich weggeworfen
worden, weil Nachkommen keinen Bezug dazu hatten oder die Schriftstücke gar nicht
lesen konnten. Die Fülle dieser Aufzeichnungen zeigt den Wert autobiografischen
Schreibens: Es sind Zeitzeugnisse - wichtige Quellen für die Geschichts- und Kulturforschung.
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O-Ton von Troschke:
Wir sagen immer: „Meine Güte, wenn’s uns nicht gäbe und die Texte würden alle
verloren gehen, das wäre ja wirklich ein Schaden, den man nicht wieder gut machen
könnte, denn: Wenn ein Mensch gestorben ist, kann er seine Erinnerungen nicht mehr
aufsprechen, aber was er geschrieben hat, bleibt erhalten.
Sprecherin:
Frauke von Troschkes Mitarbeiter lesen und katalogisieren die Tagebücher, und mit
Hilfe einer Datenbank werden sie der Wissenschaft und der Allgemeinheit zugänglich
gemacht. Inzwischen bekommt das Archiv viele Tagebücher, die auf dem Computer
abgetippt wurden.
O-Ton von Troschke:
Aber die alten Schriften - und da haben wir optisch wunderschöne Dokumente, die
sind oft schwierig zu lesen. Da sind wir in der tollen Lage, dass wir eine Gruppe haben,
von Menschen, die lesen alles Mögliche. Wirklich, wo ich mir denke - „also dieses, das
werden wir nicht schaffen, das ist ja so unglaublich kompliziert.“ Und die bleiben dran
bis sie es entschlüsselt haben. Wir haben sogar eine Dame, die alte Steno transkribiert.
Sprecherin:
Frauke von Troschke hat das Archiv 1998 nach italienischem Vorbild gegründet. In
der Toskana gibt es seit Mitte der Achtziger Jahre das Archivio Diaristico Nazionale; in
Frankreich gibt es auch ein Tagebucharchiv. Nun ist noch eines in Amsterdam geplant:
O-Ton von Troschke:
Wir sind kompatibel, wir haben die gleiche Art des Sammelns und Auszuwerten. Und
die Idee, da ein großes europäisches Projekt draus zu machen das ist was ganz
Faszinierendes. Wo man eben zum Beispiel den Zweiten Weltkrieg untersuchen kann.
Sprecherin:
Durchschnittlich erhält das Archiv etwa zweihundert Tagebücher im Jahr. Frauke von
Troschke erzählt, es sei jedes Mal wie Weihnachten, wenn ein Paket kommt.
O-Ton von Troschke:
Weil man nie weiß, was drin ist. Es werden viele Dokumente persönlich gebracht, und
das ist so ein Verabschieden von seinen Aufzeichnungen, die trennen sich von ihrem
geschriebenen Leben. Der Ausdruck ist ja wirklich passend, „das geschriebene Leben“,
was hier bei uns mit sehr viel Liebe und Ehrfurcht bewahrt wird.
Sprecherin:
…so wie dieser Stapel Tagebücher, den die Archivarin bringt:
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Atmo Tagebucharchiv: Hier sind die Tagebücher von der Frau Crämer
Sprecherin:
Sechzehn dicke Bücher, DIN-A4, alle mit Leinenrücken, manche Einbände sind bunt
marmoriert oder einfarbig in weinrot, grau, dunkelgrün.
Heidi Crämer führt seit 1982 Tagebuch. Neunundsiebzig Jahre ist sie alt, die Augen
wach hinter der Brille, viele Lachfältchen, das Haar dunkelgrau. Ihr Mann erfuhr vom
Tagebucharchiv und schlug seiner Frau vor, ihre Bücher dort abzugeben.
O-Ton Heidi Crämer:
Das war für mich zuerst sehr abschreckend, weil ich aus Überzeugung für mich und
für die Schublade geschrieben hab. Nach `nem halben Jahr war ich dann innerlich
soweit, dass ich mich verabschieden konnte und gedacht hab: „Okay, jetzt ist`s auch
recht“, denn wir werden älter, irgendwann muss man ja überlegen, ob die Tagebücher
indie Papiertonne geschmissen werden. Und dann soll’s sein, dass sie ins Tagebucharchiv kommen.
Sprecherin:
Heidi Crämer schreibt von Tschernobyl, dem Mauerfall, von den Anschlägen des elften
Septembers. Die Ärztin und Pfarrersfrau saß im Kreistag, kämpft für Gleichberechtigung. Sie reflektiert, kommentiert, regt sich über den politischen Alltag auf, den Umgang mit Frauen.
O-Ton Heidi Crämer:
Dann war bei mir oft solche Empörung, dass ich einfach - das musste ich schreiben,
sonst wär’ ich geplatzt. Ich hab’ irgendwann mal `nen Satz gefunden: „Ich platze nicht,
weil ich Tagebuch schreibe!“ (lacht)
Sprecherin:
Zuerst schreibt sie auf Papier, unlinierte lose Blätter, die sie am Jahresende binden
lässt. Dann beginnt sie am Computer zu schreiben. Zunächst fällt ihr das schwer:
O-Ton Heidi Crämer:
Ich kann doch nicht mehr denken! Ich denk’ doch mit dem Stift, gell, ich kann das doch
gar nicht mehr. Aber das war dann sehr schnell anders. Und jetzt ists umgekehrt:
Wenn ich meinen Computer net hab, dann tu ich mich sehr viel schwerer, ja.
Sprecherin:
Neben dem Politischen schreibt Heidi Crämer auch über Privates. Um ihren fünfzigsten Geburtstag gerät sie in eine Krise. Von klein auf hat sie Asthma, ihre Gesundheit
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ist angeschlagen, nichts hilft. Also entschließt sie sich, eine Psychotherapie zu machen
und notiert im Tagebuch:
Zitatorin:
Mai 1987: Natürlich habe ich alles verdrängt, was mit meinem Asthma in Zusammenhang stand. Es war zu schrecklich. Ich wollte gesund sein. Nichts als gesund. Die
Erinnerungen an das Leiden meiner Kindheit ließ ich in der Tiefe des Vergessens
verschwinden.
O-Ton Heidi Crämer:
Ich hab’ während der Therapie dann ein richtig dickes Therapiebuch geschrieben. Das
war mir wichtig. Und die Therapie war unglaublich effektiv. Ich weiß, dass ich immer
meinem Therapeuten gesagt hab: „Das Geschriebene sind meine Kinder, die sind im
Gitterbett und das Gitterbett isch zu.“ Und wie dann die Bücher im Tagebucharchiv
war, hab’ ich ihm geschrieben: „Das Gitterbett ist geöffnet, (lacht) die Bücher sind
jetzt öffentlich, ja.“
Sprecherin:
Schreibend begleitet sie die Therapie, hält die Fortschritte fest. Dann, zwei Jahre
später: Probleme mit ihren Augen. Die Netzhaut reißt. Heidi Crämer notiert:
Zitatorin:
September 1989: Ich will lernen, mit Schreibmaschine Tagebuch zu schreiben.
Schreiben, ohne hinzuschauen, muss geübt werden, und geübt werden muss das
Formulieren-Können ohne Kugelschreiber. Bislang war ich es gewöhnt, mit dem Kuli
zu denken. Ich muss mit dem Damoklesschwert des Erblindungsrisikos leben. Also:
Üben, üben, üben!
O-Ton Heidi Crämer:
Das war dann schon ein Schock, weil damit musste ich rechnen, dass es plötzlich aus
sein könnte. Und da hab ich gedacht: Schreiben will ich, also hab ich so blind schreiben
geübt. Aber zum Glück hat ja mein Auge gehalten.
Sprecherin:
Die Schwierigkeiten mit den Augen haben sich gelegt. Und so wird Heidi Crämer auch
weiterhin Einblicke in ihr Leben geben und Zeitgeschichte schreibend begleiten:
O-Ton Heidi Crämer:
Ich denk, das kann man gar net aufhören (lacht). Halt wenn ich nicht mehr schreiben
kann, oder wenn ich dement werd’, dann werd ich einfach immer ein paar Wörter
neischreiben (lacht), aber das ist dann au’ interessant!
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TITELSPRECHERIN:
Liebes Tagebuch…
Von wertvollen Zeitdokumenten bis zum Therapeuten in der Schublade
Sie hörten eine Sendung von Juliane Ziegler
Es sprachen: Ingrid Ziska El Sigai, Bastian Korff und Yana Robin La Baume
Regie: Annette Neupert
Redaktion: Lothar Bauerochse
Eine Produktion vom Hessischen Rundfunk
Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen.
Aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171 Oder per email: [email protected]. Und zum
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