Abteilung: Sendereihe: Sendedatum: Kirche und Religion Gott und die Welt 01.01.2017 Redaktion: Autor/-in: Sendezeit: Anne Winter Juliane Ziegler 9.04-9.30 Uhr/kulturradio Eine Übernahme vom Hessischen Rundfunk vom 3.1.2016 _____________________________________________________________________________ Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet. Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Eine Verbreitung im Rundfunk oder Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg). _____________________________________________________________________________ GOTT UND DIE WELT Liebes Tagebuch…Von wertvollen Zeitdokumenten bis zum Therapeuten in der Schublade Es sprachen: Ingrid Ziska El Sigai, Bastian Korff und Yana Robin La Baume Redaktion: Lothar Bauerochse Regie: Annette Neupert 2 Atmo: Schreibgeräusche. O-Ton Franziska: Also ich komm’ aus einer Familie, wo viel gelesen wird, und wo auch gerne geschrieben wird, ich hab’ früher viele Brieffreundschaften gehabt und ich denk, so war das ein bisschen auf den Weg mitgegeben. O-Ton Sebastian: Ich schreib’ seit ich schreiben kann, und das ging damit los, dass meine Eltern mir ins Heft diktiert haben. Wenn ich mir meine ersten Tagebücher angucke, sind das eher die Gedanken von meinen Eltern, die ich da notiert habe. Da gehts drum, welche Preise es in der Gaststätte gab, welche Markierungen der Wanderweg hatte, so seltsame Sachen, die nicht kindertypisch sind. Titelsprecherin: Liebes Tagebuch… Von wertvollen Zeitdokumenten bis zum Therapeuten in der Schublade Eine Sendung von Juliane Ziegler O-Ton Ingrid: Ich schreibe alle paar Tage was auf. Ich schreib’ manchmal zu Büchern, die ich gerade lese, oder zu Sachen, die ich erlebt hab, aber auch geschäftliche Sachen schreib’ ich mit rein. Also alles ist in einem Buch, und gibt so ein Kaleidoskop über das Jahr von mir und von meinem Leben. Sprecherin: Tagebuchschreiben. Sich regelmäßig, vielleicht tatsächlich jeden Tag Notizen machen. Beobachtungen. Erlebnisse. Persönliche, private oder sogar intime Erfahrungen zu Papier bringen. O-Ton Heidi Crämer: Ich bin überzeugt, das muss angeboren sein. Das Bedürfnis, etwas festzuhalten, zu gestalten, was einem so im Alltag begegnet. Wenn ich mich in meinen Stuhl setze und weiß: Heut’ hab’ ich Zeit, des is’ ein enorm schönes Gefühl. Und zu überlegen: Was is’ mir jetzt gerade wichtig und des dann zu formulieren - des ist einfach ein Lustgewinn (lacht). Sprecherin: Tagebuchschreiber - berühmte wie unbekannte - halten ihre Erinnerungen für sich oder für andere fest, wollen ihre Geschichte vor dem Vergessen bewahren, Spuren hinterlassen. Oder: Sie suchen einen Gesprächspartner. Zitatorin Anne Frank: Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein. 3 Sprecherin …schreibt Anne Frank im Juni 1942. Zitatorin Anne Frank: Ich nehme an, dass später weder ich noch jemand anders Interesse haben wird an den Herzensergüssen eines dreizehnjährigen Schulmädels. Aber ich habe Lust zu schreiben und will vor allem alles Mögliche gründlich von der Seele reden. Papier ist geduldiger als Menschen. Sprecherin: In der Isolation des Verstecks wünscht sich Anne eine Freundin - ihrem Tagebuch kommt diese Rolle zu. Zwei Jahre lang, bis zu ihrer Entdeckung, notiert Anne regelmäßig ihre Gedanken, adressiert an Kitty. In siebzig Sprachen übersetzt und von der Unesco in das Weltdokumentenerbe aufgenommen, ist Anne Franks Text das wohl meistgelesene Tagebuch. Ein eindrückliches Lehrstück über den Holocaust und ein Eckpfeiler der Erinnerungskultur. Gleichzeitig: der Einblick in die Welt eines Teenagers. Bereits in der Antike notierten Herrscher und Staatsoberhäupter Höhepunkte ihres Lebens; Theologen und Philosophen hielten den Alltag fest - das Tagebuch als Chronik. Später, vor allem seit der Renaissance, entsteht ein Ich-Kult. Tagebüchern kommt verstärkt die Funktion zu, das eigene Leben zu reflektieren. O-Ton Heimes: Das führt sich dann fort, Sigmund Freud hat Tagebuch geschrieben, ganz viele Leute, denen es tatsächlich um dieses „Erkenne dich selbst“ ging. Ob das immer gelungen ist, ist nochmal ne andere Frage. Sprecherin: …sagt Silke Heimes. Die Ärztin leitet das Institut für Kreatives und Therapeutisches Schreiben in Darmstadt. Für viele Künstler, Politiker und Wissenschaftler haben Tagebücher die Funktion von Werkstattheften und Skizzenbüchern oder sie beschreiben darin Entwicklungsprozesse: Etwa Käthe Kollwitz, Andy Warhol, Kurt Cobain oder Che Guevara. Viele Schriftsteller dokumentieren in ihren Tagebüchern ihre Einfälle und Beobachtungen: Goethe, Franz Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Virginia Woolf, Max Frisch, Selma Lagerlöff oder Sylvia Plath. Im Exil lebende Autoren wie Hilde Domin oder Anna Seghers nutzen das Schreiben um ihre Situation zu verarbeiten. Gleichzeitig verbindet Schrift und Sprache sie weiterhin mit ihrer Heimat. Sehnsüchte, Einsamkeit, Zweifel, Wut, Trauer, Not, Scham, Verzweiflung oder Schuld, aber auch Glücksgefühle und 4 andere positive Emotionen - sich all das von der Seele zu schreiben, ist heilsam. Therapeutin Silke Heimes: O-Ton Heimes: Schreiben hat ja verschiedene Funktionen, Selbstreflexion, Erkenntnis, Hilfe bei Entscheidungsprozessen, Verarbeitung, Entlastung von bestimmten Dingen. Ich glaube, wenn man regelmäßig schreibt, kann es so etwas wie eine „Seelenhygiene“ sein und nur im regelmäßigen Schreiben entdeckt man bestimmte Verhaltensmuster von sich selbst, wie man mit Dingen umgeht, was funktioniert, was nicht funktioniert. Zitator - Graham Greene: Schreiben ist eine Art von Therapie; manchmal frage ich mich, wie jene Menschen, die nicht schreiben, komponieren oder malen, es fertigbringen, dem Wahnsinn, der Melancholie oder der panischen Angst zu entfliehen, die mit dem Menschsein verknüpft sind. Sprecherin: …so der britische Autor Graham Greene über das Schreiben. O-Ton Sebastian: Das Schreiben ist für mich wie so’n Abladen von Gewicht. Aber es hilft mir auch, wenn ein Lebensabschnitt zu Ende geht, da das abzuschließen und was Neues zu beginnen. Ob das ein Jobwechsel ist oder von der Freundin getrennt, also wo was Neues losgeht, hab ich das Bedürfnis, das Alte niederzuschreiben. Atmo: Blättern, Papierrascheln O-Ton Ingrid: Es ist so ein Denken mit der Hand. Es hilft dem Denken, mir klarer zu werden oder Gedanken ein bisschen festzuhalten, die sonst so flüchtig sind und schnell weg wären und wieder aus dem Sinn. O-Ton Franziska: Wenn Gedanken im Kopf bleiben, dann sind das oft nicht klar formulierte Gedanken, sondern eher Gefühle und diffuse Vorgänge in einem. Wenn ich was ganz konkret benenne, vielleicht auch Ängste oder Sorgen, dann verlieren die oft ihren Schrecken und sind gar nicht mehr so aufgebauscht und groß, wie sich das vorher im Kopf alles so anfühlt. Sprecherin: Wer schreibt, hält inne, fokussiert sich. Der Schreibprozess unterstützt das Nachdenken und fördert unbewusste Assoziationen. Dadurch kann man neue Sichtweisen auf Erlebtes bekommen und Vergangenes verarbeiten. 5 In den USA gibt es die so genannte „Poetry therapy“, Poesietherapie. Dort ist sie neben anderen expressiven Therapieformen wie Tanz-, Musik- oder Drama-Therapie längst anerkannt. Die Bezeichnung suggeriert: O-Ton Heimes: „Ich muss jetzt poetisch werden, also ich muss jetzt dichten und so“…, Sprecherin: …sagt Silke Heimes… O-Ton Heimes: … deswegen hat sich in Deutschland mehr der Begriff bewährt „Kreatives und therapeutisches Schreiben“ und ich benutze gerne beide Begriffe, weil das nicht trennscharf ist. Für viele Menschen hat es auch einen kränkenden Aspekt, Therapie in Anspruch nehmen zu müssen. Insofern ist da die Möglichkeit zu sagen: „Ich arbeite kreativ.“ Vor allem im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich wird diese Therapie angewendet, bei Angststörungen, Suchterkrankungen, Burn-Out oder Depressionen. O-Ton Heimes: Auch bei Schmerzpatienten kann man eine ganze Menge erreichen, dass man mit dem Schmerz einen Umgang findet, den Schmerz besser versteht oder besser aushalten kann, also auch zunehmend im somatischen Bereich. Sprecherin: Daneben wird Schreibtherapie in der Trauer- und Sterbebegleitung eingesetzt, in der Sozialarbeit oder in der Kinder- und Jugendarbeit. Zum Beispiel, um das Selbstwertgefühl zu stärken, die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern oder zur sozialen Integration. Beim Schreiben werden geistige Inhalte in sprachliche Strukturen übertragen und verschiedene Gehirn-Areale aktiviert: O-Ton Heimes: Das ist so vielfältig, dass ich glaube noch nicht mal Hirnforscher eine Antwort drauf geben könnten. Aber da werden natürlich Zentren, die für Emotionen zuständig sind aktiviert, dann der frontale Kortex, der für kognitive Leistungen zuständig ist, wird aktiviert, ja. Sprecherin: Schreibtherapie gibt es in der Gruppe oder im Einzelgespräch. Allerdings: 6 O-Ton Heimes: Das Papier sollte ein absoluter Schutzraum sein. Wenn jemand merkt im Schreiben: Da ist etwas hochgekommen, was ich nicht mit anderen teilen möchte, nicht in diesem Rahmen und nicht zu diesem Zeitpunkt, dann hat das absolute Priorität. Sprecherin: Trotzdem ist das Präsentieren der Texte ein wichtiger Aspekt. Vor allem in der Gruppe merken die Schreibenden, dass sie mit vielem nicht alleine sind. Oder bekommen durch die Texte Anderer Ideen, wie sie mit ihren Problemen umgehen können. O-Ton Heimes: Das sind Phänomene wie: „Der Text und ich sind es wert, gehört zu werden, gelesen zu werden“. Dann findet ja auch ein Feedback statt, `ne Anteilnahme, vielleicht Empathie. Sprecherin: Sprachregeln gibt es keine. Aber es kann hilfreich sein, die Perspektiven zu wechseln mal in der Ich-Form schreiben, dann in der dritten Person. Dadurch entsteht Distanz zu einem Erlebnis, erklärt Silke Heimes. Oder die Zeiten variieren: Im Präsens geschrieben wirken Probleme näher, als in der Vergangenheitsform notiert. Allerdings: Nicht immer ist diese Therapie empfehlenswert: Zum Beispiel kann das Schreiben für manche zu einer Art Zufluchtsraum werden, der keinen Kontakt mehr zur Außenwelt zulässt. Dann wird die eigene Innensicht permanent reflektiert - ohne neue Perspektiven, man dreht sich im Kreis. Auch wenn Themen behandelt werden, die sehr stark belasten und der psychischen Stabilität zu viel abverlangen, ist die Therapie nicht geeignet und sollte sofort gestoppt werden. Silke Heimes hat beobachtet, dass kontinuierliches Schreiben sprachsensibler macht: O-Ton Heimes: Es war eine Patientin, die suizidal war und sie schrieb: „Ich will mir das Leben nehmen“. Nachdem sie das geschrieben hatte, las sie den Satz nochmal und sagte: „Ja, warum mache ich das nicht endlich, warum greife ich nicht zu und nehme mir das Leben?“ - also mit beiden Händen zugreifen und wieder ins Leben gehen. Das finde ich ganz spannend, was entstehen kann, wenn man die Worte beim Wort nimmt. Sprecherin: Schreiben verbessert die Aufmerksamkeit und die Konzentration. 7 O-Ton Heimes: Man kann ja nur über das schreiben, was man wahrnimmt. Sowohl im Außen als auch im Innen, und damit ist jede Wahrnehmungsschulung auch eine Schulung in Achtsamkeit. Je länger man schreibt, umso achtsamer wird man. Sprecherin: Und dabei macht es einen Unterschied, wie man schreibt: Schreibt man mit der Hand, statt auf einer Tastatur zu tippen, ist die motorische Bewegung größer, erklärt die Therapeutin: O-Ton Heimes: Dadurch werden mehr Gehirnareale aktiviert, die auch für kreatives Denken zuständig sind und für Problem lösen, insofern ist es empfehlenswert ab und zu mit der Hand zu schreiben. Aber ich glaube, je flexibler man das handhabt, umso sinnvoller ist es, weil das Tippen auf der Tastatur - diese eher monotone Tätigkeit kann auch einen beruhigenden Effekt haben. Sprecherin: Hilfe zur Selbsthilfe, als Ergänzung zu anderen Therapien, relativ kostengünstig wenn Schreibtherapie doch so viele Vorteile mit sich bringt, warum ist sie dann in Deutschland - vergleichen mit den USA - so wenig etabliert und von den Krankenkassen nicht anerkannt? Ressentiments einerseits, Lobbyismus andererseits, meint Silke Heimes: O-Ton Heimes: Jemand, der depressiv ist und keine Antidepressiva mehr braucht, weil er sich mit therapeutischem Schreiben heilt, geht dem Markt verloren, das ist jetzt ein bisschen ketzerisch, aber so ist es letzten Endes und ich glaube, dass wir da sehr viel von Amerika lernen können. Dort gibt es natürlich auch eine Pharmaindustrie. Aber ich glaube, dass dort nicht so viele Scheren im Kopf der Leute sind. Das sieht man auch an den Hochschulen, da gibt es in jeder Hochschule Creative Writing. Das kann man bei uns suchen, weil es ein bisschen belächelt wird. Atmo Diary Slam - Stimmengewirr, unter Text weiterlaufen lassen Sprecherin: Ein Winterabend in Frankfurt. Etwa fünfzig Menschen sind da, um beim so genannten „Dairy Slam“ Autorinnen und Autoren zuzuhören, die aus ihren Tagebüchern vorlesen. Um Selbstzweifel, Gefühlschaos, Fettnäpfchen und besondere Erlebnisse geht es: Laura liest aus ihrem Traumtagebuch vor, Andi - mit schwarzer Mütze und Bierflasche 8 vor sich - erzählt Anekdoten vom Ausgehen, Anne trägt Reiseerlebnisse aus Indien vor und Ingrid liest aus dem Tagebuch, das sie als Teenager führte: Atmo Diary Slam - Lesung Ingrid Das war mit dreizehn. 01.01.`76. Mein Geburtstag. Wir gingen essen. Es war sehr gut. (lachen, klatschen) Heute war ich in Offenbach und ein Junge hat mir zugepfiffen, doch ich achtete nicht darauf. (lachen) 3.1.`76: Heute Abend war ich betrübt, weiß aber nicht warum. (lachen) O-Ton Ingrid: Ich hatte diese kleine Stelle vorgelesen, wo ich diesen Jungen - der mir irgendwie zugezwinkert hat, oder so. Das war natürlich eine erste spannende Lebenserfahrung gewesen, die ich bis dahin noch nicht kannte und das fand ich interessant. Atmo: Diary Slam Ingrid liest Sprecherin: Jeder Leser bekommt Punkte vom Publikum, am Ende des Abends wird der Gewinner bestimmt. Je schräger, lustiger, peinlicher die Einträge, desto höher die Chance zu gewinnen. Atmo Punktevergabe Sprecherin: Ist es nicht seltsam, vor fremden Menschen aus seinen Tagebüchern zu lesen? Etwas eigentlich doch privat-intimes öffentlich zu machen? Ingrid stört es nicht, im Gegenteil: O-Ton Ingrid: Ich wusste, dass das wirklich witzig aufgenommen werden würde und es ist ja einfach etwas von `nem jungen Mädchen und das ist soweit von mir weg - das ist schon fast wie eine Art Fiktion, was man von irgendjemandem liest. Sprecherin: Eine Art Fiktion, unterhaltsame Geschichten aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit. Und gleichzeitig haben manche Tagebuchschreiber auch ein gewisses Sendungsbewusstsein: 9 O-Ton Sebastian: Bestimmte Sachen aus meinen Tagebüchern zu teilen ist was, worauf ich Lust hab. Es ist so, dass ich mir wünsche, dass ich irgendwann mal Kinder und Enkelkinder hab’, die mich fragen, ob sie in meinen Tagebüchern lesen könnten. Ich bin dankbar, wenn ich aus meiner Familie irgendwelche alten Zeugnisse finde und, ja, vielleicht freut sich ja jemand über meine Zeugnisse. Sprecherin: Ein besonderer Ort für derlei persönliche Zeugnisse ist das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen bei Freiburg. Es bewahrt Tagebücher, Memoiren, Erinnerungen und Briefwechsel auf. Mehr als 3.500 Schicksale in rund 16.000 Dokumenten: Tragik und Freude, Glück und Unglück, Scheitern und Gelingen, Alltag und außergewöhnliche Zeiten. Das älteste Tagebuch stammt von einem Pfarrer aus dem Jahr 1760, das jüngste aus der Gegenwart. Frauke von Troschke leitet das Tagebucharchiv: O-Ton von Troschke: Ich finde generell alles, was mit Menschen, Menschengeschichten, Menschenleben zu tun hat, ist was, was mich sehr fasziniert. Die Vielfältigkeit und die Probleme, die Menschen in ihrem Leben bearbeiten müssen oder überarbeiten müssen. Sprecherin: Um persönliche Krisen, Grenzsituationen und Schicksalsschläge geht es, … O-Ton von Troschke: …um echte Probleme, weil wenn es einem gut geht, schreibt man leider wenig, so dass wir wenig heitere Dokumente haben. Beziehungsprobleme, wirtschaftliche Probleme, Krankheit, Krieg - alles kommt vor. Jeder Schmerz, jede Trauer geht einem nach. Die erlebt man mit und ob das nun jemand ist, der im Gefängnis saß sein Leben lang oder schreckliche Geschichte - von Alkoholiker, der immer wieder versucht, von seinem Alkohol wegzukommen, die Familie darüber kaputt geht. Sprecherin: Einige, die ihre Bücher abgeben, sagen: O-Ton von Troschke: „Es war so eine unglaubliche Zeit, die ich erlebt habe“, und das kann man sich vorstellen, wenn man nur an die letzten Kriegsjahre denkt, an diese schreckliche Zeit. Sprecherin: …erzählt Frauke von Troschke. 10 O-Ton von Troschke: Meine Generation - 1944 bin ich geboren - da ist so viel passiert, auch in den Familien nach dem Krieg, da ist noch wenig drüber gearbeitet, das wird wohl demnächst sich mal entwickeln. Sprecherin: Andere Tagebuchschreiber wollen zeigen, dass sie schwere Zeiten durchlebt haben, es im Leben immer weiter geht und keinen Stillstand gibt. Sie möchten anderen Mut machen, Hoffnung geben. Und es sind eher Frauen, die ihre persönlichen Gedanken und Erlebnisse im Tagebuch festhalten. O-Ton Heimes: Ich weiß nicht, wie hoch die Dunkelziffer bei Männern ist, die Tagebuch schreiben. Aber Männer haben häufig einen höheren Anspruch, einen literarischen Anspruch, oder ja - da ist dieses beschämende Element: „Ich muss doch nicht Tagebuchschreiben, also das ist ja peinlich irgendwie“, dieses Stigma haftet dem Tagebuch nach wie vor an, glaube ich, und das lässt Männer zurückhaltender sein. Sprecherin: …meint Silke Heimes, die Schreibtherapeutin. Frauke von Troschke hat im Tagebucharchiv hingegen eine andere Beobachtung gemacht. Dort gibt es deutlich mehr Aufzeichnungen von Männern: O-Ton von Troschke: Das erstaunt immer wieder. Aber ich denke, das liegt daran, dass die Männer sich ihre Kriegserlebnisse von der Seele schreiben müssen. Das ist ganz sicher eine Form der Therapie. Dinge, die sie nicht gut verarbeiten können oder wo sie nicht drüber sprechen möchten, weil es einfach so hart war. Sprecherin: Vielleicht aber haben Männer doch einfach ein größeres Selbstdarstellungs-Bedürfnis und geben ihre Aufzeichnungen eher in ein öffentliches Tagebuch-Archiv als Frauen. Früher wären die Dokumente, die das Archiv sammelt, vermutlich weggeworfen worden, weil Nachkommen keinen Bezug dazu hatten oder die Schriftstücke gar nicht lesen konnten. Die Fülle dieser Aufzeichnungen zeigt den Wert autobiografischen Schreibens: Es sind Zeitzeugnisse - wichtige Quellen für die Geschichts- und Kulturforschung. 11 O-Ton von Troschke: Wir sagen immer: „Meine Güte, wenn’s uns nicht gäbe und die Texte würden alle verloren gehen, das wäre ja wirklich ein Schaden, den man nicht wieder gut machen könnte, denn: Wenn ein Mensch gestorben ist, kann er seine Erinnerungen nicht mehr aufsprechen, aber was er geschrieben hat, bleibt erhalten. Sprecherin: Frauke von Troschkes Mitarbeiter lesen und katalogisieren die Tagebücher, und mit Hilfe einer Datenbank werden sie der Wissenschaft und der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Inzwischen bekommt das Archiv viele Tagebücher, die auf dem Computer abgetippt wurden. O-Ton von Troschke: Aber die alten Schriften - und da haben wir optisch wunderschöne Dokumente, die sind oft schwierig zu lesen. Da sind wir in der tollen Lage, dass wir eine Gruppe haben, von Menschen, die lesen alles Mögliche. Wirklich, wo ich mir denke - „also dieses, das werden wir nicht schaffen, das ist ja so unglaublich kompliziert.“ Und die bleiben dran bis sie es entschlüsselt haben. Wir haben sogar eine Dame, die alte Steno transkribiert. Sprecherin: Frauke von Troschke hat das Archiv 1998 nach italienischem Vorbild gegründet. In der Toskana gibt es seit Mitte der Achtziger Jahre das Archivio Diaristico Nazionale; in Frankreich gibt es auch ein Tagebucharchiv. Nun ist noch eines in Amsterdam geplant: O-Ton von Troschke: Wir sind kompatibel, wir haben die gleiche Art des Sammelns und Auszuwerten. Und die Idee, da ein großes europäisches Projekt draus zu machen das ist was ganz Faszinierendes. Wo man eben zum Beispiel den Zweiten Weltkrieg untersuchen kann. Sprecherin: Durchschnittlich erhält das Archiv etwa zweihundert Tagebücher im Jahr. Frauke von Troschke erzählt, es sei jedes Mal wie Weihnachten, wenn ein Paket kommt. O-Ton von Troschke: Weil man nie weiß, was drin ist. Es werden viele Dokumente persönlich gebracht, und das ist so ein Verabschieden von seinen Aufzeichnungen, die trennen sich von ihrem geschriebenen Leben. Der Ausdruck ist ja wirklich passend, „das geschriebene Leben“, was hier bei uns mit sehr viel Liebe und Ehrfurcht bewahrt wird. Sprecherin: …so wie dieser Stapel Tagebücher, den die Archivarin bringt: 12 Atmo Tagebucharchiv: Hier sind die Tagebücher von der Frau Crämer Sprecherin: Sechzehn dicke Bücher, DIN-A4, alle mit Leinenrücken, manche Einbände sind bunt marmoriert oder einfarbig in weinrot, grau, dunkelgrün. Heidi Crämer führt seit 1982 Tagebuch. Neunundsiebzig Jahre ist sie alt, die Augen wach hinter der Brille, viele Lachfältchen, das Haar dunkelgrau. Ihr Mann erfuhr vom Tagebucharchiv und schlug seiner Frau vor, ihre Bücher dort abzugeben. O-Ton Heidi Crämer: Das war für mich zuerst sehr abschreckend, weil ich aus Überzeugung für mich und für die Schublade geschrieben hab. Nach `nem halben Jahr war ich dann innerlich soweit, dass ich mich verabschieden konnte und gedacht hab: „Okay, jetzt ist`s auch recht“, denn wir werden älter, irgendwann muss man ja überlegen, ob die Tagebücher indie Papiertonne geschmissen werden. Und dann soll’s sein, dass sie ins Tagebucharchiv kommen. Sprecherin: Heidi Crämer schreibt von Tschernobyl, dem Mauerfall, von den Anschlägen des elften Septembers. Die Ärztin und Pfarrersfrau saß im Kreistag, kämpft für Gleichberechtigung. Sie reflektiert, kommentiert, regt sich über den politischen Alltag auf, den Umgang mit Frauen. O-Ton Heidi Crämer: Dann war bei mir oft solche Empörung, dass ich einfach - das musste ich schreiben, sonst wär’ ich geplatzt. Ich hab’ irgendwann mal `nen Satz gefunden: „Ich platze nicht, weil ich Tagebuch schreibe!“ (lacht) Sprecherin: Zuerst schreibt sie auf Papier, unlinierte lose Blätter, die sie am Jahresende binden lässt. Dann beginnt sie am Computer zu schreiben. Zunächst fällt ihr das schwer: O-Ton Heidi Crämer: Ich kann doch nicht mehr denken! Ich denk’ doch mit dem Stift, gell, ich kann das doch gar nicht mehr. Aber das war dann sehr schnell anders. Und jetzt ists umgekehrt: Wenn ich meinen Computer net hab, dann tu ich mich sehr viel schwerer, ja. Sprecherin: Neben dem Politischen schreibt Heidi Crämer auch über Privates. Um ihren fünfzigsten Geburtstag gerät sie in eine Krise. Von klein auf hat sie Asthma, ihre Gesundheit 13 ist angeschlagen, nichts hilft. Also entschließt sie sich, eine Psychotherapie zu machen und notiert im Tagebuch: Zitatorin: Mai 1987: Natürlich habe ich alles verdrängt, was mit meinem Asthma in Zusammenhang stand. Es war zu schrecklich. Ich wollte gesund sein. Nichts als gesund. Die Erinnerungen an das Leiden meiner Kindheit ließ ich in der Tiefe des Vergessens verschwinden. O-Ton Heidi Crämer: Ich hab’ während der Therapie dann ein richtig dickes Therapiebuch geschrieben. Das war mir wichtig. Und die Therapie war unglaublich effektiv. Ich weiß, dass ich immer meinem Therapeuten gesagt hab: „Das Geschriebene sind meine Kinder, die sind im Gitterbett und das Gitterbett isch zu.“ Und wie dann die Bücher im Tagebucharchiv war, hab’ ich ihm geschrieben: „Das Gitterbett ist geöffnet, (lacht) die Bücher sind jetzt öffentlich, ja.“ Sprecherin: Schreibend begleitet sie die Therapie, hält die Fortschritte fest. Dann, zwei Jahre später: Probleme mit ihren Augen. Die Netzhaut reißt. Heidi Crämer notiert: Zitatorin: September 1989: Ich will lernen, mit Schreibmaschine Tagebuch zu schreiben. Schreiben, ohne hinzuschauen, muss geübt werden, und geübt werden muss das Formulieren-Können ohne Kugelschreiber. Bislang war ich es gewöhnt, mit dem Kuli zu denken. Ich muss mit dem Damoklesschwert des Erblindungsrisikos leben. Also: Üben, üben, üben! O-Ton Heidi Crämer: Das war dann schon ein Schock, weil damit musste ich rechnen, dass es plötzlich aus sein könnte. Und da hab ich gedacht: Schreiben will ich, also hab ich so blind schreiben geübt. Aber zum Glück hat ja mein Auge gehalten. Sprecherin: Die Schwierigkeiten mit den Augen haben sich gelegt. Und so wird Heidi Crämer auch weiterhin Einblicke in ihr Leben geben und Zeitgeschichte schreibend begleiten: O-Ton Heidi Crämer: Ich denk, das kann man gar net aufhören (lacht). Halt wenn ich nicht mehr schreiben kann, oder wenn ich dement werd’, dann werd ich einfach immer ein paar Wörter neischreiben (lacht), aber das ist dann au’ interessant! 14 TITELSPRECHERIN: Liebes Tagebuch… Von wertvollen Zeitdokumenten bis zum Therapeuten in der Schublade Sie hörten eine Sendung von Juliane Ziegler Es sprachen: Ingrid Ziska El Sigai, Bastian Korff und Yana Robin La Baume Regie: Annette Neupert Redaktion: Lothar Bauerochse Eine Produktion vom Hessischen Rundfunk Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen. Aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171 Oder per email: [email protected]. Und zum Nachhören oder Lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter kulturradio.de.
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