wissenschaft aktuell CHANCEN uND HERAuSFORDERuNGEN FüR DiE VERSiCHERuNGSWiRTSCHAFT iN ZEiTEN DES DEMOGRAFiSCHEN WANDElS Chancen und Herausforderungen für die Versicherungswirtschaft in Zeiten des demografischen Wandels Die Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten – und damit auch in Österreich – ist deutlichen Umwälzungen unterworfen. Der demografische Wandel ist ein langfristiger Prozess, der weitreichende Veränderungen der Altersstruktur bewirkt. Die Alterung stellt das staatliche Pensionssystem vor neue Herausforderungen, beeinflusst aber auch die Situation auf den Geldmärkten und damit die Zinssätze. Infolge der Alterung unserer Gesellschaft werden die zweite und dritte Säule des Pensionssystems in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. Da diese beiden Säulen im Gegensatz zum staatlichen Pensionssystem nicht auf dem Umlageverfahren sondern auf dem Kapitaldeckungsverfahren basieren, sind sie von positiven Zinssätzen abhängig. Die Erhaltung unseres Wohlstands steht und fällt in einer alternden Gesellschaft mit real positiven Zinssätzen. Demografische Trends Die Veränderung der Bevölkerung erfolgt durch Geburten, Sterbefälle und Migration. Seit dem Babyboom der 1960er-Jahre ist nicht nur die Geburtenrate gesunken, sondern auch das Alter, 56 versicherungsrundschau ausgabe 7-8/16 in dem Frauen Kinder bekommen ist angestiegen. Gleichzeitig steigt durch medizinischen Fortschritt und verbesserte hygienische Bedingungen die Lebenserwartung. Beide Veränderungen bewirken einen Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölkerung – es kommen weniger junge Menschen hinzu und die älteren Menschen verbleiben länger in der Bevölkerung. Da Einwanderer im Durchschnitt jünger sind als die bereits ansässigen Einwohner kann die Migration den Alterungsprozess verlangsamen aber nicht gänzlich kompensieren. Das wirkt sich auf die Zusammensetzung in puncto Erwerbsfähigkeit aus. Der Anteil der Mitbürger im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) lag 1981 bei 56,2 % und stieg durch die niedrige Geburtenrate bis 2016 auf 61,9 %. In Zukunft wird dieser Anteil wieder abnehmen; gemäß Hauptvariante der aktuellen Bevölkerungsprognose von Statistik Austria bis 2051 auf 53,5 %. Durch diese Verschiebungen wird das umlagefinanzierte staatliche Pensionssystem unter Druck geraten und ergänzende kapitalgedeckte Versicherungen werden ein zunehmend wichtigerer Bestandteil der Altersvorsorge. Zinsen im demografischen Wandel Das Geschäftsmodell von Banken und Versicherungen ruht auf dem Fundament der Zinsmarge – der Differenz zwischen dem Soll- und Habenzinssatz. Bei negativen Zinssätzen funktioniert www.versicherungsrundschau.at wissenschaft aktuell TExT Dr. Thomas Fent dieses Geschäftsmodell nicht, so lange Sparern die Matratze als alternative Anlagestrategie zur Verfügung steht. Angesichts der steigenden Bedeutung von Banken und Versicherungen für die Altersvorsorge verdient die Entwicklung der Zinssätze besondere Aufmerksamkeit. Leider erfüllen die Geldmärkte zurzeit nicht die Wünsche der Anleger. Sparern die die Verzinsung ihrer Guthaben beobachten läuft schon lange kein Lächeln mehr über das Gesicht. Als Gegenmaßnahme zum Krisenquartett – Subprime-, Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise – senkten die Notenbanken die Zinssätze in bisher unbekannte Tiefen. Einige nationale Notenbanken und auch die EZB haben sich sogar zu negativen Einlagezinsen vorgewagt. Der Drei-Monats-Euribor, der sich unmittelbar nach der LehmannPleite zu Höchstständen deutlich über fünf Prozent aufschwingen konnte, durchkreuzte die Nulllinie im April des vergangenen Jahres (2015) und setzt seitdem seine Talfahrt beständig im negativen Bereich fort. Was Kreditnehmer und Finanzminister freut, lässt Sparer verzweifeln. Die niedrigen Zinsen werden vor allem der expansiven Geldpolitik und dem schwachen Wirtschaftswachstum zugeschrieben. Wie stehen die Chancen auf steigende Zinsen angesichts der demografischen Entwicklung? Die Alterung – und der damit einhergehende Rückgang von Personen im erwerbsfähigen Alter – trübt die Wachstumsaussichten. Niedriges Wirtschaftswachstum versetzt den Zinsen unmittelbar einen Dämpfer. Dazu kommt ein weiterer Effekt. Weniger Arbeitskräfte bedeuten eine höhere Kapitalintensität, da im Produktionsprozess pro Arbeitsplatz im Durchschnitt mehr Kapital zur 1 Dr. Thomas Fent, Institut für Demographie Österreichische Akademie der Wissenschaften Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital Verfügung steht. Das führt zu einer höheren Arbeitsproduktivität aber zu einer niedrigeren Rendite auf das eingesetzte Kapital. Der Abwärtstrend der Zinsen wird zusätzlich verstärkt. Die unterschiedlichen Bedürfnisse im Lebenszyklus beeinflussen ebenfalls die Zinsentwicklung. Junge Erwachsene, die gerade dabei sind sich im Berufsleben zu etablieren und eine Familie zu gründen, treten am Kapitalmarkt als Kreditnehmer auf, ältere Erwerbstätige, die ihre Kredite bereits abbezahlt haben, bilden Ersparnisse und Pensionisten lösen ihre Ersparnisse teilweise auf, um den gewohnten Lebensstandard trotz Wegfall des Erwerbseinkommens aufrecht erhalten zu können. In einer Volkswirtschaft mit vielen jungen Erwerbstätigen übersteigt die Nachfrage nach Krediten das Angebot an Spareinlagen. Steigt die Zahl der älteren Erwerbstätigen, so steigen auch die Spareinlagen, aber die Nachfrage nach Krediten nimmt ab. Überwiegen schließlich die Pensionisten, gehen die Spareinlagen wieder zurück. Der Wandel von einer jungen zu einer alten Gesellschaft bedingt daher zunächst einen Überhang der Kreditnachfrage, dem ein Überhang an Spareinlagen und schlussendlich eine Phase des Entsparens folgen. Da Finanzmärkte durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden treibt eine hohe Nachfrage nach Krediten die Zinssätze in die Höhe während ein Überangebot an Spareinlagen die Zinssätze drückt. In einer weltweit vernetzten Wirtschaft werden diese Überhänge durch internationale Kapitalströme ausgeglichen. Alternde Gesellschaften exportieren Kapital in boomende Weltregionen wo höhere Rendi- ten locken. Auch Boomregionen (emerging markets) altern und das sogar schneller als die bereits lang etablierten Industrieländer. Insgesamt verursacht die demografische Alterung ein Drittel des Rückganges der realen Zinsen1. Was bedeutet das für die mittel- bis langfristige Entwicklung der Zinsen. So lange die Babyboomer im Erwerbsleben stehen, bleiben auch die Zinssätze unter Druck. Erst wenn diese in den Ruhestand wechseln bekommen die Zinssätze Unterstützung von Seiten der Demografie. Schlussfolgerung Der demografische Wandel begründet zwei einander entgegengesetzte Einflüsse für die Versicherungswirtschaft. Zum einen führt die Alterung zu einer steigenden Nachfrage nach Produkten zur privaten oder betrieblichen Altersvorsorge, zum anderen drückt die Alterung die Zinsen und erschwert eine Ergänzung des umlagegedeckten Pensionssystems durch kapitalgedeckte Verfahren. Anmerkung: Dieser Beitrag basiert teilweise auf dem Artikel „Schlechte Zeiten für Sparer – Wie beeinflusst die Altersstruktur einer Bevölkerung die Zinssätze?“ der im Demografie-Portal für Wirtschaft und Tourismus von ecoplus veröffentlicht wurde. Carlos Carvalho, Andrea Ferrero, Fernanda Nechio (2016). Demographics and Real Interest Rates: Inspecting the Mechanism. European Economic Review. www.versicherungsrundschau.at versicherungsrundschau ausgabe 7-8/16 57
© Copyright 2025 ExpyDoc