Drucksache 16/13908

LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode
Drucksache
16/13908
03.01.2017
Antwort
der Landesregierung
auf die Kleine Anfrage 5377 vom 24. November 2016
des Abgeordneten Jens Kamieth CDU
Drucksache 16/13592
Hat das weitreichende Verbot der Videobeobachtung von Häftlingen durch die rot-grüne
Landesregierung die Verdoppelung der Suizidrate im nordrhein-westfälischen Strafvollzug begünstigt?
Vorbemerkung der Kleinen Anfrage
Bis zum Inkrafttreten des von der rot-grünen Landesregierung vorgelegten Landesstrafvollzugsgesetzes (StVollzG NRW) am 27.01.2015 (GV. NRW. S. 76) galt in Nordrhein-Westfalen
das Strafvollzugsgesetz des Bundes (StVollzG Bund). Das StVollzG Bund erlaubte eine Beobachtung von Gefangen, auch mit Videokameras, grundsätzlich in allen Hafträumen.
Das StVollzG NRW der rot-grünen Landesregierung hat diese Möglichkeit massiv eingeschränkt. Gemäß § 69 Abs. 4 StVollzG NRW gilt nunmehr Folgendes:
"Eine ununterbrochene Beobachtung von Gefangenen mittels Videotechnik ist nur in besonders gesicherten Hafträumen ohne gefährdende Gegenstände oder in dafür gesondert vorgesehenen Behandlungszimmern im Justizvollzugskrankenhaus zulässig, wenn dies im Einzelfall zur Abwehr von gegenwärtigen Gefahren für das Leben oder gegenwärtigen erheblichen
Gefahren für die Gesundheit von Gefangenen oder Dritten erforderlich ist."
Der Bund der Strafvollzugsbediensteten (BSBD) hatte diese Regelung bereits im Rahmen der
parlamentarischen Beratungen zum StVollzG NRW der rot-grünen Landesregierung scharf kritisiert. In der Stellungnahme 16/1886 des BSBD heißt es dazu auf S. 17 f.:
"Eine derartige Einengung der Anwendung ist nicht praxisgerecht. In den letzten Jahren sind
in vielen Anstalten kameraüberwachte Hafträume, sog. Kameraräume oder Schlichtzellen mit
der Möglichkeit der Videoüberwachung eingerichtet worden, die eine Beobachtung von Gefangenen ermöglichen, die zwar nicht die Indikation für eine Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum aufweisen, eine Gefahr hierfür aber gegeben ist, weil sie z.B. hochgradig
alkoholisiert, entzügig oder aggressiv und deshalb auch nicht gemeinschaftsfähig sind. Hier
Datum des Originals: 28.12.2016/Ausgegeben: 06.01.2017
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ist die vorübergehende unausgesetzte Beobachtung mittels Videotechnik ein wesentlich schonenderer Eingriff als die Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum. Zudem ist diese
Maßnahme wesentlich effektiver und ressourcenschonender als eine Beobachtung in unregelmäßigen Zeitabständen. Die Vorstellung, die Möglichkeiten einer durchgehenden Videoüberwachung bei entsprechender Indikationslage nicht zu nutzen, erscheint weltfremd. Man stelle
sich den Fall vor, dass ein trotz vorhandener Videotechnik nur in unregelmäßigen Zeitabständen beobachteter Gefangener in den unbeobachteten Zwischenzeiträumen zu Schaden
kommt. Die Abschaffung dieser im vollzuglichen Alltag bewährten Praxis würde vielen Anstalten unnötige Probleme bereiten."
Die vom BSBD geäußerten Befürchtungen Probleme haben sich leider auf tragische Weise
bewahrheitet: Unter Geltung des § 69 Abs. 4 StVollzG NRW hat sich die Anzahl der Suizide
von Gefangenen im nordrhein-westfälischen Strafvollzug von 9 im Jahr 2015 auf 18 im laufenden Jahr 2016 verdoppelt (Stand: 23.11.2016).
Angesichts dieser dramatischen Entwicklung haben sich der Leiter der JVA Bielefeld-Brackwede, sowie der Anstaltsarzt in der JVA Werl dafür ausgesprochen, die Möglichkeit der Videobeobachtung im nordrhein-westfälischen Strafvollzug wieder auszuweiten. Auf WDR.de vom
6. Oktober 2016 heißt es dazu:
"Ginge es nach N.-C., dann würde er gern die ständige Videoüberwachung auf andere Zellen
ausweiten. Doch das hat die rot-grüne Regierungskoalition in NRW seit 2015 gesetzlich verboten. 'Wir haben in früheren Zeiten bereits Kameraräume eingesetzt', so der Bielefelder Anstaltschef. So seien auch Suizide vermieden worden. Über einen Zeitraum von zehn Jahren
habe es keinen Selbstmord in der JVA Bielefeld gegeben. Auch J. B., seit 30 Jahren Arzt in
der JVA Werl, befürwortet Kameras in Zellen."
In seinem Bericht für die Rechtsausschusssitzung vom 23.11.2016 hat Justizminister
Kutschaty
erklärt,
dass
im
laufenden
Jahr
2016
„sowohl
bundesweit
wie in NRW eine Erhöhung der Suizidraten festzustellen“ sei. Gleichzeitig kündigte der Minister
eine Änderung des StVollzG NRW an, durch die auch im nordrhein-westfälischen Strafvollzug
wieder „eine unregelmäßige oder ununterbrochene Beobachtung von Gefangenen in Hafträumen, auch mit technischen Hilfsmitteln zugelassen werden“ solle. Bei der Erneuerung oder
der Modernisierung der Kameras solle jedoch "nach Kameratechniken mit Vorwarnfunktion
gesucht werden, die dem zu Beobachtenden anzeigt, wann sich die Kamera im laufenden
Betriebszustand befindet oder in den Beobachtungsmodus umspringt", so Minister Kutschaty
weiter (vgl. Vorlage 16/4485, S. 6 u. 7).
Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 5377 mit Schreiben vom 28. Dezember 2016 namens der Landesregierung beantwortet.
1.
2
In welchen Bundesländern ist die Anzahl der Häftlings-Suizide im laufenden Jahr
2016 im Vergleich zum Gesamtjahr 2015 gestiegen? (Bitte die entsprechenden
Bundesländer unter der Angabe der genauen Suizidzahlen der Jahre 2015 und
2016 sowie der prozentualen Steigerungsrate von 2015 zu 2016 jeweils einzeln auflisten)
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2.
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In welchen Bundesländern ist die Anzahl der Häftlings-Suizide im laufenden Jahr
2016 im Vergleich zum Gesamtjahr 2015 nicht gestiegen? (Bitte die entsprechenden Bundesländer unter der Angabe der genauen Suizidzahlen der Jahre 2015 und
2016 jeweils einzeln auflisten)
Die bundesweite Vergleichsstatistik über Todesfälle (St 7) liegt für die Jahre 2015 und 2016
noch nicht vor. Für die einzelnen Bundesländer liegen dem Justizministerium keine über die
in der Vorlage vom 21. November 2016 - Vorlage 16/4485 – TOP 8 der 66. Sitzung des Rechtsausschusses am 23. November 2016 – genannten Zahlen für die Jahre 2015 und 2016 vor.
3.
In welchen Bundesländern ist die ununterbrochene Videobeobachtung von Häftlingen derzeit - analog § 69 Abs. 4 StVollzG NRW - auf „besonders gesicherte Hafträume ohne gefährdende Gegenstände oder in dafür gesondert vorgesehene Behandlungszimmer im Justizvollzugskrankenhaus“ begrenzt?
§ 69 Absatz 4 StVollzG NRW legt für den Bereich des Strafvollzuges fest, dass eine ununterbrochene Beobachtung von Gefangenen mittels Videotechnik nur in besonders gesicherten
Hafträumen ohne gefährdende Gegenstände oder in dafür gesondert vorgesehenen Behandlungszimmern im Justizvollzugskrankenhaus zulässig ist. In sonstigen Hafträumen kann eine
unterbrochene Beobachtung mittels Videotechnik erfolgen. Weitreichender sind überdies die
nordrhein-westfälischen Regelungen für die Vollzugsarten des Jugendstrafvollzuges, der Untersuchungshaft sowie der Sicherungsverwahrung. Diese ermöglichen die besondere Sicherungsmaßnahme der ununterbrochenen Beobachtung mittels technischer Hilfsmittel auch in
sonstigen Hafträumen beziehungsweise Zimmern ohne räumliche Einschränkung (§ 79 Absatz 2 Nummer 2 JStVollzG NRW; §§ 34 Absatz 2, 42 Absatz 2 Nummer 2 UVollzG NRW;
§§ 66 Absatz 2, 69 Absatz 2 Nummer 2 SVVollzG NRW).
Deutlich restriktivere Regelungen finden sich hingegen in den sächsischen Vollzugsgesetzen.
Diese normieren zwar die Beobachtung der Gefangenen als besondere Sicherungsmaßnahme (§ 83 Absatz 2 Nummer 2 SächsStVollzG; § 71 Absatz 2 Nummer 2 SächsJStVollzG;
§ 49 Absatz 2 Nummer 2 SächsUHaftVollzG). Die Videoüberwachung von Hafträumen ist jedoch generell und für alle Justizvollzugsarten ausgeschlossen (§ 79 Absatz 1 Satz 2 SächsStVollzG; § 68a Absatz 1 Satz 2 SächsJStVollzG; § 46 Absatz 1 Satz 2 SächsUHaftVollzG).
Auch das Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten im Justizvollzug und bei den Sozialen Diensten der Justiz des Landes Berlin (Justizvollzugsdatenschutzgesetz Berlin – JVollzDSG Bln) vom 21. Juni 2011 verhält sich zu dem Thema der Videoüberwachung von Hafträumen restriktiver als das nordrhein-westfälische Strafvollzugsgesetz. § 21 Absatz 2 Satz 1
JVollzDSG Bln ermöglicht lediglich die optisch-elektronische Beobachtung besonders gesicherter Hafträume oder von Krankenzimmern, soweit und solange dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben der dort untergebrachten Gefangenen erforderlich ist. Die – auch
unterbrochene – Beobachtung innerhalb von Hafträumen mittels optisch-elektronischer Einrichtungen ist gemäß § 21 Absatz 1 JVollzDSG Bln ausgeschlossen.
In den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Hamburg gelten ebenfalls besondere Regelungen zur Videobeobachtung. In den entsprechenden landesrechtlichen Strafvollzugsgesetzen ist die Beobachtung der Gefangenen, auch mit technischen Hilfsmitteln, wie in
Nordrhein-Westfalen als besondere Sicherungsmaßnahme grundsätzlich zugelassen (§ 88
Absatz 2 Nummer 2 LJVollzG RP; § 89 Absatz 2 Nummer 2 JVollzGB LSA; § 74 Absatz 2
Nummer 2 HmbStVollzG; § 74 Absatz 2 Nummer 2 HmbJStVollzG; § 54 Absatz 2 Nummer 2
HmbUVollzG). Die optisch-elektronische Beobachtung ist nur innerhalb von besonders gesi-
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cherten Hafträumen, besonders gesicherten Räumen, Überwachungshafträumen und Überwachungsräumen (§ 21 Absatz 2 Satz 1 LJVollzDSG RP; § 144 Absatz 2 Satz 1 JVollzGB
LSA) beziehungsweise in besonderen Hafträumen (§ 74 Absatz 2 Nummer 2 HmbStVollzG;
§ 74 Absatz 2 Nummer 2 HmbJStVollzG; § 54 Absatz 2 Nummer 2 HmbUVollzG) möglich. In
„gewöhnlichen“ Hafträumen ist damit weder eine ununterbrochene noch eine unterbrochene
Videoüberwachung zulässig.
In den übrigen Bundesländern ist eine der Regelung des derzeit geltenden nordrhein-westfälischen Strafvollzugsgesetzes entsprechende Begrenzung der besonderen Sicherungsmaßnahme der ununterbrochenen Beobachtung mittels Videotechnik auf bestimmte Räume nicht
vorgesehen.
4.
Inwieweit teilt die Landesregierung die Einschätzung, dass die von ihr im Jahr
2015 selbst vorgenommene Beschränkung der ununterbrochenen Beobachtung
von Gefangenen mittels Videotechnik gemäß § 69 Abs. 4 StVollzG NRW ein Fehler
war? (Falls die Landesregierung diese Einschätzung nicht teilen sollte, bitte ausführlich begründen, warum diese Beschränkung nunmehr wieder aufgehoben
werden soll.)
5.
Inwieweit teilt die Landesregierung die Bedenken, wonach der suizidpräventive
Nutzen einer Videobeobachtung ad absurdum geführt wird, wenn dazu Kameratechniken mit Vorwarnfunktion eingesetzt werden, die dem zu Beobachtenden anzeigen, wann sich die Kamera im laufenden Betriebszustand befindet bzw. in den
Beobachtungszustand umspringt?
Das Gesetz zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen (StVollzG
NRW) wurde am 18. Dezember 2014 vom Landtag beschlossen. Zurzeit wird im Landtag auf
Grundlage des Entwurfs der Landesregierung für ein Gesetz zur Regelung des Jugendstrafvollzuges und zur Änderung der Vollzugsgesetze in Nordrhein-Westfalen - Drucksache
16/13470 – über eine Änderung der Regelung des bisherigen § 69 Absatz 4 StvollzG NRW
beraten. Den Beratungen soll nicht vorgegriffen werden. Dies gilt entsprechend für die Überlegungen zu einer Erkennbarkeit der Videobeobachtung für die Gefangenen.
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