Von Bauern, Böllern und Budenzauber

HISTORIE
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DONNERSTAG, 29. DEZEMBER 2016 | SEITE 20
Von Bauern, Böllern
und Budenzauber
Die 70er Jahre: Betriebe, die es nicht mehr gibt
Wie es am Bienenwagen plötzlich nach Silvester andersrum ging
TORGAU. Torgaus wohl bedeutendste Chronistin und Fotografin Erdmute Bräunlich hat 80.
Geburtstag gefeiert. Ihr zu Ehren bringt TZ wöchentlich einen besonderen Schnappschuss
(oder mehrere), die fast allesamt dem Buch „Torgau – Als die Schornsteine noch rauchten“
entstammen. Diese Bilder aus den 70 er Jahren zeigen Betriebe, die es nicht mehr gibt. Das
waren neben dem Kohlehandel auch der Haushaltsgeräte-Service sowie ein ReparaturstützReparaturstütz
punkt für Robotron-Büromaschinen. Im VEB Energie war noch viel Arbeit per Hand zu
leisten, wenn die Prüffix-Geräte zum Versand kamen.
Fotos: Archiv Bräunlich
TORGAU. Zwischen den Jahren, Weihnachten vorbei, Silvester vor der Tür. Die
Zeit, in der wir Kinder von der Mahla Pläne für Silvester schmiedeten. Wen sollten wir in diesem Jahr mit einem Silvesterscherz ins neue Jahr schicken, Kandidaten gab es genug. So zum Beispiel unseren Willi – ein Bauer oder besser gesagt
Bruder oder Helfer des eigentlichen Bauern. Wenn wir irgendwelchen Blödsinn
verzapft hatten, jagte er uns schon mal
mit der Mistgabel über den Hof oder
drohte uns mit einem Knüppel oder was
er gerade zur Hand hatte.
Wir wollten in diesem Jahr Willi eine
Lektion erteilen, wie er seine Kraft oder
seinen Jähzorn anderweitig abreagieren
könnte. An diesem Silvester war es besonders kalt, das kam unserer Vorstellung entgegen. Bei Einbruch der Dunkelheit holten wir Willis Mistkarre aus dem
Stall, schoben sie auf den Misthaufen
und füllten sie mit Wasser, also würde am
Neujahrsmorgen aus dem Wasser ein Eisblock entstanden sein. Es würde also etwas länger dauern, den Block zu zerkleinern und man würde auch etwas Kraft
benötigen. Wie wir später erfuhren,
brauchte Willi fast zwei Stunden, um den
Block zu entfernen, er soll wahre
Schimpftiraden von sich gegeben haben,
wobei der Ausspruch Teufelsbraten noch
das Harmloseste war. Seit dieser Zeit
hielt er im Winter seine Mistkarre unter
Verschluss. Nun gab es zu dieser Zeit
Knallkörper, genau wie heute am 29. Dezember. Der Unterschied zu heute ist,
man musste sich Stunden vorher anstellen , um an selbige zu kommen. Uns war
das aber zu teuer, als Kinder oder Heranwachsende hätten wir sowieso keine
bekommen, also bauten wir uns eigene
Knallkörper, das ging ganz einfach. Wir
Je mehr Funken sprühten,
desto schöner leuchteten die Kinderaugen
nahmen einen alten hohlen Schlüssel, einen Nagel und verbanden diese. In den
hohlen Schlüssel füllten wir Streichholzkuppen, steckten den Nagel hinein und
schlugen diese an eine Hauswand. Auch
das gab einen Knall, zwar nicht so kräftig wie ein Blitzknaller, aber für uns
reichte es. Es war einfach billig und hatte schließlich denselben Effekt wie die
teuren Knaller aus dem Laden und dazu
war es noch ungefährlich.
Wir achteten stets darauf, bei dieser
Knallerei nicht in unmittelbarer Nähe
von Türen und Stallungen zu kommen,
denn Tiere reagieren äußerst sensibel auf
solche Geräusche und konnten schon mal
in Panik verfallen. Wir, die täglichen Umgang mit den Tieren hatten, wussten das,
also hielten wir uns daran.
In unserem Nachbarhaus, ich nannte es
immer das Doktorhaus, wohnte Dr. Parisius, ein sehr beliebter und hochgeschätzter Arzt mit seinen Eltern ohne jeglichen Standesdünkel, der auch mal mit
uns Jungs Fußball spielte. Aber auch ein
Doktor Schicketanz, ein Tierarzt, der mit
uns nichts anfangen konnte, wir auch
nicht mit ihm. Er hatte auf den sogenannten Trockenplatz einen Bienenwagen gestellt. Diese Bienen nahmen den ganzen
Trockenplatz in Beschlag. Sie taten zwar
niemanden etwas, aber die Angst war da,
sie könnten doch mal stechen. Besondere Angst hatte die Mutter von Dr. Parisius, ich war oft Zeuge, wie Dr. Parisius mit
dem Tierarzt sprach und ihn bat, die Bienen an einen anderen Standort zu bringen, aber es passierte nichts. Nun war es
Silvester, die Familie Parisius war verreist, also unsere Stunde. Die Gelegenheit war günstig, es würde kein Verdacht
auf unseren Doktor fallen können, denn
er war ja nicht da. Also machten wir
uns ans Werk, wir drehten den Bienenwagen Richtung Gutspark, sodass die
Einflugslöcher nicht mehr in Richtung
Trockenplatz zeigten, sondern zum Park.
Der Wagen konnte also bleiben, doch die
Bienen würden zu ihren Flugzeiten nicht
mehr stören. Auf der Rückseite, die jetzt
die vordere Seite war, schrieb ich mit
Kreide: Bienchen, Bienchen, summ herum, zum Eingang geht es ab heute andersrum.
In den ersten Tagen des neuen Jahres
kam ich aus der Schule, auf dem Mahlaweg begegnete ich Doktor Parisius, er
kam mit dem Fahrrad, wie immer aus
dem Krankenhaus. Ein Auto hatte er
nicht. Er fragte mich, Jürgen, hast du was
mit dem Bienenwagen vom Viecherdoktor zu tun? Ich tat ganz entsetzt: Ich, warum? Na, weil ich keinen kenne , der solche Sprüche draufhat, dieser Spruch hat
den Viecherdoktor mehr geärgert als der
ganze Wagen. Unser Doktor stieg wieder
auf sein Fahrrad, drehte sich noch einmal um und sagte, bleib so, wie du bist
und wage es ja nicht, dich zu ändern. So
muss ein Streich nicht nur des Streiches
wegen gemacht werden, sondern sollte
möglichst auch einen Sinn haben. In der
jetzigen Zeit knallt es fast täglich, es ist
das ganze Jahr Silvester.
Wenn ein Jahr „friedlich“ zu Ende geht,
ist es nicht selbstverständlich, dass es so
weitergeht. Die Zündschnur zum großen
Knall ist ziemlich kurz, sorgen wir alle,
auch im kommenden Jahr, dafür, dass sie
gar nicht erst entzündet wird, denn unsere Erde ist zu schön, um sie zu vernichten. Vernichten wir lieber jene, die immer wieder versuchen, zu zündeln. In
diesem Sinne ein friedvolles Jahr und
persönliches Wohlergehen.
Jürgen Schulz
Sonntags- Spaziergang in den 20ern
Wunderkerzen waren der Beginn der Pyrotechnik: Silvester in Torgau und anderswo
TORGAU. Die meisten Silvesterabende haben wir gemeinsam mit unseren Kindern
und Enkelkindern erlebt, des Öfteren in
der Torgauer Bahnhofstraße, in der Fischeraue nach der Wiedervereinigung, aber
auch in einigen Orten in Bayern. Ein beliebter Treffpunkt um Mitternacht und
zum Neujahr war der Torgauer Markt. Das
gemeinsame Erleben und die Silvesterknaller waren doch etwas Besonderes. Beliebte Treffpunkte waren auch damals vor
dem Centralhotel oder vor der damaligen
HO-Sternburg-Quelle in der Bahnhofstraße. Noch viel früher erlebten wir auch
schöne Silvesterfeiern im Kreiskulturhaus,
Centralhotel oder im HO-Eiscafé.
Wunderkerzen waren der Beginn der Pyrotechnik. Je mehr Funken sprühten,
umso schöner leuchteten die Kinderaugen. Da Wunderkerzen nur langsam abbrennen, zählen die Leuchtstäbe zu den
wenigen Feuerwerkskörpern, von denen
eine geringe Gefahr ausgeht. Zur fröhlichen Silvesterstimmung trug schon der
alte Brauch des Bleigießens bei. Luftschlangen waren damals schon der Deko-
kracher. Einmal kräftig pusten und schon
wanden sich kunterbunte Luftschlangen
über Tisch und Partygäste. Selbstverständlich wurden auch viele Girlanden
verwendet und Unmengen Konfetti gestreut. Das Letztere haben aber Hausfrauen und -männer nicht so gerne. Es lässt
sich schlecht wieder entfernen, vor allen
Dingen aus den Kleidungsstücken.
So ausgelasssen wie die Dekoration war
auch die Stimmung, denn angestoßen
wurde natürlich nicht erst um Mitternacht. Früher war nicht alles Käse. Alle
Jahre wieder das Ritual: Eine Gruppe von
Leuten sitzt um einen Topf voll blubbernden Käses und tunkt trockenes Brot hinein. Dank kurzer Vorbereitungszeit entwickelt sich das Schweizer Käsefondue
schnell zum kulinarischen Dauerbrenner
für gesellige Silvesterabende.
Absoluter Partyklassiker in den Siebzigern war der Engtanz mit Luftballons. So
manches Pärchen hat sich dabei kennenund lieben gelernt. Aber auch Tischspiele gehörten dazu. Als Höhepunkt spielten
wir alle das von meinem Schwiegervater
selbst erfundene „Große Spiel“ mit Steinne und Würfel. Besonders für unsere Kleinen darf Tischfeuerwerk nicht fehlen. Einen einzigen Silvesterabend war ich mal
mit meiner Frau ganz alleine. Selbst der
große Enkel wollte mit seinen 16 Jahren
lieber mit seinen Kumpels feiern. Es war
trotzdem ein sehr schöner Abend. Es hatte viel geschneit und kalt war es auch. Da
haben wir uns warm angezogen und auf
dem Balkon den Elektro-Grill angemacht.
Das gegrillte Fleisch schmeckte besonders gut, zumal wir zu Mittag Karpfen
blau gegessen hatten. Vom Balkon winkten wir den Spaziergängern zu und um 24
Uhr war großer Treffpunkt vor der Haustür. Silvesterknaller, Prosit, ein gesundes
neues Jahr!
Einen Silvesterabend bei meiner Schwägerin und unserem Schwager in der Thomas-Müntzer-Straße haben wir auch nicht
vergessen. Da fiel eine brennende Kerze
um und plötzlich brannten die Girlanden.
Wir konnten das Feuer jedoch ziemlich
schnell ohne die Feuerwehr löschen.
Günther Fiege
BEILRODE. Diese wunderbare Aufnahme hat Jutta Reinhardt aus Beilrode dankenswerterweise zum Abdruck zur Verfügung gestellt.
Das Foto zeigt ihren Urgroßvater in der Schöppenthaustraße, die damals noch unbebaut war und entstand Mitte der 20er Jahre. Zu
sehen sind im Hintergrund auch Kirche und Schule. Wer ebenfalls solche Raritäten besitzt, kann sich gerne melden.
Repro: TZ
Eine „fliegende Wahlurne“ und zwei abgestürzte Sowjet-Flugzeuge
Rückblick auf die Jahre 1965/66: Was in der Stadt Dommitzsch alles passierte und was die Einwohner zu dieser Zeit bewegte
DOMMITZSCH. Das ehemalige Hotel und
Gasthaus „Zum Roten Hirsch“ wird seit
1964 zum „Kaufhaus“ umgebaut. Im
Dommitzscher Waldbad wird noch fleißig
gearbeitet, für die diesjährige Eröffnung.
Viele Badelustige werden sicher wieder
erscheinen, wie in den vorhergehenden
Jahren. Bei Reparaturarbeiten im Mai
1965 wird der Holzsteg durch eine massive Brücke ersetzt. Im Juni gibt es viel
Arbeit bei der Vorbereitung des „Volksfestes mit Radio DDR“, was vom 17. bis
20. Juni 1965 stattfindet. Beim Umzug
durch die Stadt marschiert auch die Blaskapelle der Schule unter Leitung von Musiklehrer Horst Schumann mit. Horst
Strähle wird Bürgermeister in
Dommitzsch. Die PGH Rundfunk /Fernsehen Torgau eröffnet im Oktober einen
Reparatur- Stützpunkt im Laden Torgauer Straße 8. Man muss die Geräte also
nicht mehr nach Torgau schaffen. Am 7.
Oktober, zum Jahrestag der DDR, findet
im Rathaussaal eine Festsitzung statt. Am
10.10. wird ein neues „Stadtparlament“
gewählt. Wie immer wird versucht, eine
sehr hohe Wahlbeteiligung zu erhalten.
Wähler werden zum Teil in den Wohnungen aufgesucht und aufgefordert doch zur
Wahl zu kommen. Ich kann mich noch
erinnern an Fahrten zur Arbeitsstelle, um
mit der „fliegenden Wahlurne“ eine Stimme zu ergattern! Die Feuerwehr des Ortes war sehr aktiv. Am 24. November wurde eine Gruppe nach Torgau gerufen zum
Einsatz beim Großbrand in der Ziegelei.
15 Löschgruppen taten ihr Möglichstes
beim Löschen, aber das Objekt brannte
vollständig nieder. 320 Mitglieder versuchen bei der BSG- Stahl (Betriebssportgemeinschaft) ihren Körper fit zu halten. In
den Sektionen Fußball, Turnen, Gymnastik und Kegeln wird ihnen hierzu die
Möglichkeit geboten. Der Arzt, Herr Dr.
Bredow, ist 1964 in sein Haus Leipziger
Straße 65a verzogen. In der ehemaligen
Praxis von ihm, in der Pretzscher Straße
38, werden Staatspraxen eingerichtet. Dr.
Helmut Liebau, der in der bisher ersten
Staatspraxis vom Kreis Torgau, in der
Leipziger Straße 23 arbeitete, erhält hier
seine neue Praxis. Eine weitere Praxis im
Haus übernimmt Frau Dr. Paul als Zahnärztin. Die Bewohner der Wittenbergerund der Jahnstraße, die noch nicht an das
Wasserleitungsnetz angeschlossen sind,
erhalten endlich ihre Hausanschlüsse. Am
Ratskeller war 1921 ein Vorbau aus Holz
errichtet worden, den man im Sommer als
Veranda nutzen konnte. Er war auch ein
historisches Relikt. (Im April 1945, in den
letzten Kriegstagen, mussten unter ihm
kranke indische Kriegsgefangene übernachten. Die Gesunden schliefen auf dem
freien Markt. Am anderen Morgen mussten alle ihren mühseligen Marsch fortset-
Holzvorbau Dommitzscher Ratskeller um 1935.
Archiv H. Förster
zen.) 1965 wurde dieser Vorbau abgerissen um Platz für einen Neubau zu schaffen. Da die HO Gaststätte „Ratskeller“
oft fast überfüllt war, und auch zum Abhalten von Familienfeiern, wurde ein
massiver Anbau errichtet, der derartige
Feiern erlaubte, wie auch kleine Feste
von Vereinen. Baukapazitäten waren
nicht vorhanden also engagierten sich
Dommitzscher Bürger im NAW (Nationales Aufbauwerk) und errichteten den Anbau. Einige Jahre vorher waren schon 4
andere Gaststätten geschlossen worden,
nämlich der „Rote Hirsch“, „Der Schwarze Adler“, die Gaststätte „Gentzsch“ und
die Gaststätte „Kürsten“. Als Kapellen
wurden genannt, die Kapelle Gerhard
Hirsch und die „Elektras“. Im Jahr 1966
hat Dommitzsch 80 Wohnungssuchende,
davon 20 Familien ohne Wohnung. 13 Familien wohnen noch auf dem Osterberg.
22 Wohnungsanträge können 1966 erledigt werden, aber es kommen schon wieder neue dazu. Am 30. Juli wird die FFW
zum Einsatz gerufen. Zwei Sowjetische
Flugzeuge sind abgestürzt, eins davon an
den Neustücken. Es brennt völlig aus.
Wegen der explodierenden Munition ist
an ein Löschen nicht zu denken. Die
Jagdgesellschaft beginnt im Juli mit dem
Bau eines Schießstandes in der Nähe vom
Weinberg. Hier werden in den Folgejahren die jährlichen, gut besuchten, Schützenfeste abgehalten. Im Laden Torgauer
Straße 8 wird die städtische „Näh- und
Bügelstube eingerichtet. Die Bibliothek
bietet im November 1966 6.300 Bücher
zur Ausleihe für die 800 Leser. Im Jahr
werden 14.000 Ausleihen vorgenommen.
August. An der Schule unterrichten 35
Lehrer und Lehrerinnen in 24 Klassen 774
Schüler. Im Nov. wird die Neidener Schule aufgelöst. Auch diese Schüler kommen
zur Dommitzscher Schule. Im Jahr wurden 16 Schüler nicht versetzt, das entspricht 2,2 %. Schulrektor ist Hans Ritschel. Die LPG besitzt 814 ha Land. Sie ist
die größte LPG vom Typ I im Kreis Torgau.
Die Glocken der Kirche, bisher mit der
Hand geläutet, erhalten elektrischen Antrieb. 1947 bis 1967 lag das Amt des Friedhofswärters in den Händen von Otto Koch
jr. 1967 wurde er abgelöst von seinem
Schwiegersohn Georg Spychala und Ehefrau Gisela geb. Koch. 1966/67 muss ein
altes Mühlenrelikt weichen. Die Lindemühle am Waldbad wird abgerissen.
(Aus der Chronik) Hermann Förster.