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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Immer ran an' Speck!“ – Claire
Waldoff und das Berliner Kabarett (3)
Von Sylvia Roth
Sendung:
Donnerstag 29. Dezember 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth
„Immer ran an' Speck!“ –
Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (3)
SWR 2, 27. Dezember – 30. Dezember 2016, 9h05 – 10h00
Folge III: Scharfer Geist oder scharfes Bein? (1920-1925)
Signet
Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer – mein Name
ist Sylvia Roth, ich begrüße Sie zur dritten Folge unserer Sendung über die
Krawallschleife Claire Waldoff und empfehle Ihnen: Passen Sie gut auf Ihr Geld
auf! Denn es könnte leicht passieren, dass es nach dieser Musikstunde nichts
mehr wert ist ...
Titelmusik
... beschäftigen wir uns heute doch mit den Jahren der Inflation und der frühen
Weimarer Republik. Aber auch damit, wie sich die Kleinkunst jener Zeit – anfangs
noch kritisch – immer mehr auf die langen Beine der Revue kapriziert.
I. Einbruch bei Tante Klara (2'53)
T: Hans Hyan, M: Käthe Hyan (1930)
Titel CD: Hoppla, wir leben! Töne aus dem Kabarett 1901-1933, Patmos 3-49191153-2, LC 04176
Nicht ohne Zufall steht die von Claire Waldoff gesungene Ballade „Einbruch bei
Tante Klara“ des Kabarett-Ehepaares Hans und Käthe Hyan zu Beginn unserer
heutigen Musikstunde.
Einbrüche nämlich sind nicht nur bei Tante Klara an der Tagesordnung im Berlin
der Inflationsjahre, nein. Auf dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz werden
immer häufiger Überfälle gemeldet, die statt den einschlägigen Kriminellen ganz
normale Bürger begangen haben – aus Not. Täglich werden Leichen von
verzweifelten Selbstmördern aus der Spree gefischt.
Auch eine gut verdienende Sängerin wie Claire Waldoff muss in Zeiten der
Inflation zusätzliche Auftritte annehmen. Drei Engagements pro Abend bewältigt
sie, da kann es schnell passieren, dass die ausgeklügelte Logistik versagt – und ein
Vorgesetzter einen Strich durch die Rechnung macht. Als Claire im TauentzienVarieté eine Stunde früher auftreten will, damit sie im Anschluss noch bei einer
privaten Geburtstagsfeier singen kann, verweigert ihr der Direktor das Anliegen
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und verbietet dem Bühnenpersonal jegliche Unterstützung gleich mit. Doch:
Solch kleinlich-autoritäre Maßnahmen schrecken die Waldoff nicht ab. Energisch
marschiert sie eine Stunde vor ihrem Programmpunkt auf die dunkle Bühne,
erklärt dem Publikum die Situation, und macht dann das, was sie am besten
kann: Singen. Ohne Pianist, ohne Vorhangzieher, ohne Licht. Das Publikum tobt
vor Freude, der Direktor vor Wut.
II. Mit'n Zopp! - Annemarie Hase (1'54) - 1. Strophe
T: Klabund, M: Werner Richard Heymann (um 1920)
Titel CD: Das Zersägen einer lebenden Dame. Die Kabarettistin und
Schauspielerin Annemarie Hase, Edition Mnemosyne VS2002 (1999), LC 10361
Jenseits des Kampfes gegen die Inflation, versucht Deutschland sich in
Demokratie. Doch der scheinbare Neuanfang ist ein halbherziger: Unter dem
Etikett der Republik lugen noch immer die alten Zöpfe des Kaiserreichs hervor.
Das kritische Bewusstsein gegen die Politik schärft sich – und manifestiert sich
nicht nur in einer Flut neuer Zeitungen, sondern auch auf den Kleinkunst-Bühnen.
Zahlreiche Kabarette schießen in Berlin aus dem Boden – die meisten davon
widmen sich eher der leichten Unterhaltung, aber es gibt einige, die auf
bahnbrechende Weise das Genre neu begreifen und ihm zu seiner eigentlichen
Definition verhelfen: Satirische Kommentare auf das Zeitgeschehen in
leichtfüßiger künstlerischer Gestalt zu liefern.
Max Reinhardt etwa lässt unter den Katakomben des Großen Schauspielhauses
das „Schall und Rauch“ wiederbeleben, das 1901 – erinnern Sie sich an die erste
Folge der Musikstunde? – die Wurzeln des Kabaretts legte. Köpfe wie Walter
Mehring, Kurt Tucholsky oder Klabund schreiben ihm Programmnummern, deren
literarischer und politischer Anspruch alles zuvor Dagewesene übertrifft. Die
Dadaisten George Grosz und John Heartfield kümmern sich um die Ausstattung,
Künstler wie Paul Graetz, Gussy Holl und Annemarie Hase sorgen für
persönlichkeitsstarke Interpretationen.
Mit'n Zopp! - restliche Strophen
Der Dichter Klabund und der Komponist Werner Richard Heymann spotten über
die halbherzigen politischen Schritte der Weimarer Republik – was mit dem
„Zopp“, von dem Annemarie Hase hier gesungen hat, gemeint ist, begriffen die
Zeitgenossen auf Anhieb.
Außer dem „Schall und Rauch“ gibt es zwei weitere Bühnen, die Anfang der
Zwanziger Jahre Kabarettgeschichte schreiben – beide geführt von Frauen: der
'roten Rosa' und der 'wilden Trude'. Rosa Valetti, die resolute Schauspielerin, die
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später als Puffmutter im „Blauen Engel“ über die Leinwand flimmert, eröffnet über
dem ehemaligen Café Größenwahn das „Cabaret Größenwahn“, in dem eine
neue, vom Publikum umjubelte Mädchengestalt geboren wird: Blandine Ebinger
alias Lieschen Puderbach lässt die Not der Zeit Gestalt werden. Mit
zerbrechlichen Chansons verkörpert die Diseuse eine blasse, anämische Figur aus
dem Wedding, die naiv und dennoch ohne jede Koketterie von der Seele weg
erzählt. Ein eigener, zutiefst berührender Charakter – getextet, vertont und am
Klavier begleitet von Ebingers Ehemann Friedrich Hollaender, einem
Universaltalent und Vielschreiber, der das Kabarett der Zwanziger Jahre wie kein
anderer prägen wird.
III. Das Wunderkind - Blandine Ebinger (2'55)
T und M: Friedrich Hollaender (1921)
SWR M0332627 001
„Das Lachen vergeht einem oder wird jedenfalls ganz anders“, bekennt der
Theaterkritiker Max Hermann-Neiße angesichts des Vortrags von Blandine
Ebinger, die wir soeben – begleitet von Friedrich Hollaender – mit dem Lied
„Wunderkind“ erlebten.
Neben Rosa Valetti geht – als jüngste Theaterdirektorin Berlins – Trude Hesterberg
in die Kabarettgeschichte ein, als sie Anfang der Zwanziger die „Wilde Bühne“
eröffnet. Joseph Roth, der im November 1921 eine Vorstellung der „Wilden
Bühne“ besucht, nimmt dort unmittelbar eine neue inhaltliche Verdichtung wahr:
„Das literarische Kabarett Berlins fängt hier an, sich eine eigene Physiognomie zu
schaffen“, schreibt er. „Noch schwankt man zwischen Wedding und Montmartre
und schlägt zwischendurch einen harmloseren Ton an, den das Publikum auch
gerne hört. Aber aus all den gepfeffert-erotischen, sozial-revolutionären und
anspruchslos-heiteren Elementen entwickelt sich deutlich ein eigener deutscher
Kabarettstil.“
Zu diesem eigenen deutschen Kabarettstil gehören auch handfeste Skandale,
beispielsweise als ein junger blasser Schriftsteller namens Bertolt Brecht mit seiner
Laute auf die Wilde Bühne tritt, um seine „Legende vom toten Soldaten“ zum
Besten zu geben, eine bissige Moritat über einen gefallenen Frontkämpfer, der
nur von den Toten aufersteht, um erneut in den Krieg zu ziehen.
IV. Legende vom toten Soldaten - Ernst Busch (5'00)
T und M: Bertolt Brecht (1922)
SWR 1218604 003
Einen Skandal löste Bertolt Brecht 1922 mit seiner „Legende vom toten Soldaten“
aus, die in einer Interpretation von Ernst Busch zu hören war.
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Als das Publikum Sturm lief und Direktorin Hesterberg den Vortrag abbrechen ließ,
beschimpfte Walter Mehring die Zuschauer: „Meine Damen und Herren, das war
eine große Blamage, aber nicht für den Dichter, sondern für Sie! Und Sie werden
sich noch eines Tages rühmen, dass Sie dabei gewesen sind!“
Obwohl Frauentypen wie Rosa Valetti und Trude Hesterberg mit ihrem
burschikosen Gesangsstil der Waldoff durchaus ähneln, tritt sie in diesen
politischen Kabaretts nicht auf. Zur kritischen Satire passt sie nicht: Ihr Stil, der zur
Kaiserzeit noch revolutionär wirkte, mutet innerhalb der neuen Entwicklungen
eher volkstümlich an. Erstmals muss sie, die seit 15 Jahren ungebrochene Erfolge
auf den Berliner Bühnen feiert, Kritik einstecken. Ein Rezensent des Börsen-Couriers
wirft ihr Anfang der Zwanziger Jahre vor, sie habe „ihren eigenen Ruhm
überlebt“.
Eine Behauptung, die verletzt – vielleicht und gerade auch, weil Claire Waldoff
sich bisweilen selbst zu sehr reduziert fühlt auf die rotzige Berliner
Kodderschnauze. „Ich habe einen besonderen Wunsch“, gesteht sie 1919 dem
Schriftsteller Franz Herwig, „nicht auf einen bestimmten Ton festgenagelt zu
werden, sondern richtige weibliche Charaktere zu spielen“. Doch als „richtiger
weiblicher“ Frauentypus geht sie auf der Besetzungscouch nicht durch – sie bleibt
abonniert auf die Volkssängerin.
V. Fang nie was mit Verwandtschaft an - Claire Waldoff (3'05) - 1. Strophe
T: Kurt Tucholsky, M: Rudolf Nelson (1921/22)
Titel CD: Singt eener uffn Hof. Kurt Tucholsky als Kabarettautor, Duophon Records
05053, LC 08681
Dennoch unternimmt Claire Waldoff Schritte, um am neuen Geist des Kabaretts
teilzuhaben: Sie erweitert ihr Repertoire und nimmt Lieder von literarischen
Größen wie Frank Wedekind oder Kurt Tucholsky auf – auch Tucholskys „Fang nie
was mit Verwandtschaft an“, vertont von Rudolf Nelson, gehört zu diesen neuen
Importen.
Fang nie was mit Verwandtschaft an - restliche Strophen
Tucholsky, der unter seinem Pseudonym Theobald Tiger zum wichtigsten
Chansontexter jener Zeit avanciert, verehrt die Waldoff als Sängerin und setzt sie
mit der Berolina gleich. Aber auch als Geschäftspartnerin schätzt er sie. Sie sei die
einzige unter vielen Künstlern, die sich nicht einfach ungehemmt bediene,
sondern stets gewissenhaft anfrage und das Finanzielle regle, ehe sie einen Text
von ihm vertonen lasse. Das Tucholsky-Gedicht „Mutters Hände“, das sie Ende
der Zwanziger Jahre von ihrem Pianisten Claus Clauberg in Musik setzen lässt, wird
Claire Waldoff ein Leben lang ganz besonders tief am Herzen liegen.
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VI. Mutterns Hände - Claire Waldoff (2'10)
T: Kurt Tucholsky, M: Claus Clauberg (1931)
Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge II, Membran Music
223227-354/B, LC 12281, M0281291 013
Darüber hinaus knüpft die Waldoff Freundschaften zu den Künstlern aus den
politischen Kabaretten. Ganz besonders zu einem Mann, der neu nach Berlin
gekommen ist und sowohl bei Max Reinhardt als auch bei Trude Hesterberg auf
der Bühne steht: Ein lang und weit gereister Matrose mit einem Gesicht, das dank
der hervorstechenden Schnabel-Nase wie das eines Vogels aussieht und in das
freundliche blaue Augen gepflanzt sind. Augen, in denen sich die Welt spiegelt,
die der Meeres-Vagabund gesehen hat.
Die Rede ist – Sie ahnen es bereits – von Joachim Ringelnatz, der seine ersten
kabarettistischen Gehversuche im legendären Münchner „Simplicissimus“
machte. In Berlin begeistert er das Publikum mit seinen Turngedichten, vor allem
aber mit seinen Geschichten des Seemanns Kuttel Daddeldu. Bisweilen
unterbricht er seinen Vortrag und streckt lakonisch sein leeres Glas in Richtung
der Kulisse, begleitet von den Worten: „So. Jetzt muss mir das p.p. Fräulein
Direktor vertraglich neu einschenken, eh ich weiterrede“. Tatsächlich taucht
dann unter dem Gelächter des Publikums ein Arm samt Flasche auf – Trude
Hesterberg schenkt Ringelnatz den Schnaps ein, den er so dringend zum Leben
braucht. Tatsächlich hat Ringelnatz in seinem Vertrag vermerken lassen, dass die
Direktorin sich nicht nur zur Ausbezahlung der Gage verpflichte, sondern auch
dazu, ihm regelmäßig das Glas nachzufüllen.
Der spindeldürre lange Lulatsch und die kleine rothaarige Waldoff werden
Freunde. Ein Portrait von Ringelnatz, gemalt von Gustav Tolle, begleitet Claire ein
Leben lang.
VII. Gedicht „Im Park“ - Joachim Ringelnatz (0’50)
Titel CD: Bei uns um die Gedächtniskirche rum. Friedrich Hollaender und das
Kabarett der Zwanziger Jahre, the listening rooms / edel 0014532TLR, LC 2820
In einer alten knisternden Schellackaufnahme rezitierte Joachim Ringelnatz sein
Gedicht „Im Park“.
Während die Inflation weiter an Galopp zulegt, sehnt sich das Publikum nach
Flucht aus der Realität – engagiertes, polit-satirisches Kabarett hat auf Dauer
keine Chance. Das „Schall und Rauch“, das „Größenwahn“ und die „Wilde
Bühne“ müssen nur wenige Jahre nach ihrer Gründung wieder aufgeben.
Stattdessen sind Opulenz und Amüsement im großen Stil gefordert – Berlin erhitzt
sich im Revuefieber. Ausgerechnet das Große Schauspielhaus, unter dessen
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Parkett das „Schall und Rauch“ zum von Kritikern verspotteten „Knall und Rauch“
verkümmert, avanciert zu einem der großen Unterhaltungspaläste der Zeit.
In der ehemaligen Zirkusmanege, von Max Reinhardt und dem Architekten Hans
Poelzig zu einem Amphitheater im antiken Geist umgebaut und von den Berlinern
wegen der stalaktitenartigen Deckendekoration schlicht „Tropfsteinhöhle“
getauft, huldigt der Choreograf Erik Charell einer Form, die sich zum Lieblingskind
der Zwanziger Jahre entwickelt: die Revue.
VIII. Margo Lion: Sex Appeal (4'05) - 1. und 2. Strophe
T: Marcellus Schiffer, M: Friedrich Hollaender (1930)
Titel CD: Hoppla, wir leben! Töne aus dem Kabarett 1901-1933, Patmos 3-49191153-2, LC 04176
M0033725 010
Bereits mit seiner ersten Show „An alle!“, die im Oktober 1924 Premiere feiert,
realisiert Erik Charell eine der größten Ausstattungsrevuen, die Berlin je erlebt hat.
Einundzwanzig opulente Bilder wechseln sich ab, in einem losen Handlungsfaden
durch die Moderationen des Conférenciers miteinander verbunden. Auch die
Musik lebt von Vielfalt: Kompositionen der längst bekannten Berliner Größen
Rudolf Nelson und Ralph Benatzky sind zu hören, zugleich aber werden mit
jazzigen Elementen von Irving Berlin auch die neuesten Einflüsse aus Übersee
berücksichtigt. „Charell will, dass wir in seiner Revue wieder Weltluft atmen“, lässt
der Galerist Alfred Flechtheim in der B.Z. am Mittag über seinen Protegé
verlauten.
Tatsächlich versteht der gelernte Tänzer Charell sein Handwerk. Trotz seiner
jungen Jahre hat er bereits Eindrücke am Broadway gesammelt und besitzt ein
Talent dafür, am Puls der Zeit zu sein. „In der Revue gibt nicht die einzelne
Nummer den Ausschlag, sondern das Zusammenspiel, die ständig funkelnde
Bewegung des Ganzen“, so Charell über seine Vorstellung von der vollendeten
Unterhaltungsmaschinerie. „Ich als Regisseur muss wie ein Bildhauer arbeiten,
muss aus Menschenleibern, Stoffen, Kostümen und Licht meine Visionen zur
Wirklichkeit erwecken.“
Margo Lion: Sex Appeal - restliche Strophen
Der Forderung nach Vielfalt entsprechend, sind in Charells Revue auch
zahlreiche Künstler unterschiedlichster Couleur vertreten: Neben der belgischen
Chansonsängerin Margo Lion, die mit ihrer Schlangengestalt und viel „Sex
Appeal“ imponiert – so auch in dem gerade gehörten Lied von Marcellus Schiffer
und Friedrich Hollaender –, sorgt Claire Waldoff für die Berliner Note, während die
Tiller-Girls aus Großbritannien mit ihren rasanten Beinen das Publikum elektrisieren.
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Ruff und runta surren die Glieder, akkurat wie Maschinen, eine industrielle
Revolution auf Frauenbeinen. Dazwischen strapaziert der Komiker Wilhelm
Bendow die Lachmuskulatur.
IX. Wilhelm Bendow & Bruno Fritz: Im Theater (gesprochener Sketch, ab 3’00)
(2'58)
Titel CD: Perlen der Kleinkunst, CD 9: Wilhelm Bendow, Membran Music 231768, LC
12281
Wilhelm Bendow, der Komiker mit dem näselnden Ton, zusammen mit Bruno Fritz
zu erleben in einem Ausschnitt aus dem Sketch „Im Theater“.
Das gefräßige Genre Revue verleibt sich alles, was bis dato auf der
Unterhaltungsbühne entstanden ist, in seinen großen Magen ein: Schauspiel,
Gesang, Tanz bis hin zu Akrobatik, Posse, Zirkus, Vaudeville, Varieté. Doch genau
diese Gemengelage macht die Revue auch nichtssagend und entfernt sie
meilenweit vom satirischen Biss des kritischen Kabaretts. Schon bald werden
Stimmen laut, die die scharfen Beine gerne wieder gegen den scharfen Geist
eintauschen würden. So etwa bekennt der Conférencier Paul Morgan, der selbst
viele Revuen verfasst und moderiert: „Den ganzen, auf Denkfaulheit und
Provinzgier zugeschnittenen Mischmasch müsste endlich der Teufel holen. Aber
der denkt leider nicht daran... Ich selbst ertrage das nicht mehr. Ein ganzes
Theaterjahr muss ich dieses leere Gerede von mir geben, Abend für Abend den
Amüsierpöbel über die Pausen zwischen den Ausstattungsbildern
hinwegschwatzen. Zorn steigt in mir auf, die Zwangsvorstellung werde ich nicht
los, ein Maulesel zu sein, der stundenlang um einen Brunnen kreisen muss!“
X. Claire Waldoff: Warum soll er nich mit ihr vor der Türe stehen (3'33)
T und M: Walter Mendelssohn (1924)
Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge II, Membran Music
223227-354/D, LC 12281
Claire Waldoff gibt Charells mondänen Revuen die bodenständige Note des
Berliner Kiez: Mit ihrem Hit „Warum soll er nicht mit ihr“ – gedichtet und
komponiert von Walter Mendelssohn – landet sie Begeisterungsstürme im Großen
Schauspielhaus.
Doch, sie versteht es nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Privaten zu
unterhalten – und es gebührend auszukosten, dass die Inflationsjahre inzwischen
überwunden sind. Nur wenige Tage nach der Premiere der ersten Charell-Revue,
am 24. Oktober 1924, feiert Claire Waldoff ihren 40ten Geburtstag. Stets geht es
bei ihren Festen hoch her: Die Gäste rauschen fein herausgeputzt an und
wechseln früher oder später die Kleidung. Früher oder später nämlich wölbt sich
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der Bauch vom üppigen Essen, ziept der Rock und sitzt die Hose zu eng … Und
damit niemand sich verschämt unter dem Tisch die Knöpfe öffnen muss, verteilt
die Waldoff ihre Pyjamas und Hausröcke, so dass die ganze illustre
Festgesellschaft bald in Morgenmänteln dasitzt. In weiser Voraussicht, denn:
Austern als Vorspeise, gefolgt von gespicktem Hecht, danach eine Poularde,
gefüllt mit Trüffeln und Kastanien sowie einer Mozartbombe zum Nachtisch, also
einer Götterspeise aus Vanille- und Erdbeereis, garniert mit Borkenschokolade –
dieses Menü hätten die Knöpfe gewiss nicht überlebt.
Als Höhepunkt jedoch serviert Claire ihre berühmte „Plata d'Amour“, eine Bowle,
die ihre Gäste zuverlässig knülle macht. Fünf geschälte und gewürfelte
Apfelsinen, drei Flaschen Beaujolais Fleurie, drei Flaschen Champagner und der
Saft von zwei Zitronen. Zu jedem gekippten Glas erklingt der Trinkspruch: „Wir
wollen nicht weich werden! Noch hängt die Hose nicht am Kronleuchter!“
Joachim Ringelnatz, der nicht persönlich am Fest teilnehmen kann, schickt ein
Geburtstagsgedicht:
XI. Geburtstagsgedicht - XY (0'45)
T: Joachim Ringelnatz (1924)
Bayerischer Rundfunk, Interview mit Claire Waldoff, 1955
Nicht nur in Revuen schwelgt das vergnügungssüchtige Berlin der Zwanziger, es
erfindet sich auch eine neue Form: den Zille-Ball, ein Kostüm-Ball zu Ehren des
Meisters, der längst zum arrivierten Maler aufgestiegen ist und zur
Professorenschaft der Berliner Akademie der Künste gehört.
Dem ersten „Hofball bei Zille“, veranstaltet im März 1925, geht die Uraufführung
des Singspiels „Mein Milljöh“ voran. In den Hauptrollen: Harry Lamberts-Paulsen
und Claire Waldoff, für die Ausstattung zeichnet Zille selbst verantwortlich. Im
Bühnenbild eines Berliner Hinterhofs – denn auf eben diesen Hof spielt das Wort
„Hofball“ natürlich an – gibt Claire die Pyjamajule zwischen Teppichstangen,
Hasenställen und Müllkästen.
Die Handlung entspricht einer klassischen Dreiecksgeschichte, herausgelöst aus
dem Pathos des bürgerlichen Trauerspiels, hineingepflanzt in die Schnoddrigkeit
der Mietskasernen: Matrosenkarl ist aus der Haftanstalt Plötzensee entlassen
worden und will nach Hause zu seiner Liebsten, Rosenfrieda, doch die hat sich
längst einen anderen geangelt. Kurzerhand wirft Matrosenkarl ein Auge auf
Pyjamajule – was Rosenfrieda dann doch zur Eifersucht und dazu veranlasst, ihren
Ex bei der Polizei anzuschwärzen. Und wo landet Matrosenkarl am Ende, obwohl
er doch gerade erst frei gekommen ist? Wieder in Plötzensee.
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XII. Im Nußbaum links vom Molkemarkt - Claire Waldoff (2'53)
T: Hans Brennert, M: Hans May (1925)
Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge II, Membran Music
223227-354/A, LC 12281
Eine Hommage an Zilles Lieblingskneipe, der Nussbaum links vom Molkemarkt, aus
dem Singspiel „Mein Milljöh“ von Hans Brennert und Hans May, gesungen von –
na klar, Sie haben es längst erkannt – Claire Waldoff.
Im Anschluss an die Uraufführung wird gefeiert und getanzt. Die Gäste schwofen
verkleidet als Zille-Gestalten übers Parkett: Fischerliese, Bollenjuste oder Harfenjule
geben sich ein Stelldichein mit Matrosen und Einbrechern samt aufgemaltem
Tattoo. Für Heinrich Zille wird der Ball zum Schock. Reiche Bürger und Bohemiens,
denen es nur ums Feiern geht, verlustieren sich wie in einer schlechten Karikatur
als arme Typen aus der Gosse. Als Zille das sieht, begreift er, dass seine Chronik
des Elends, seine Rinnsteinkunst, zur Folklore und, wie er selbst sagt, zur
„Champagnerpropaganda“ verkommen ist. Das Milieu, das er über so viele
Jahre mit Herzblut gezeichnet hat, ist zum bunten Karneval mutiert. Von
sozialkritischer Schärfe keine Spur mehr.
XIII. Mensch, du hast ne Zille-Figur - Siegfried Arno, Trude Lieske (3'00)
T und M: Robert Gilbert (1929)
Titel CD: Albernes und Frivoles. Originalaufnahmen von 1923-1931 aus Berlin und
Wien, Edition Musenkinder, Duophon Records 01433, LC 8681
Sozialkritik passé, Zille ist en vogue – so auch auch in Robert Gilberts Schlager
„Mensch, du hast ne Zille-Figur“, gesungen von Trude Lieske und Siegfried Arno.
Die scharfen Beine also haben den scharfen Geist besiegt. Heinrich Zille und
Claire Waldoff finden sich in eine Welt geworfen, die nach immer turbulenterer
Unterhaltung schreit und in der der Grat zwischen Vernunft und Beklopptheit
zunehmend schmaler wird. In diesem Sinne beenden wir die heutige SWR2
Musikstunde mit dem Berliner Klops-Gedicht, erst gesprochen von Claire Waldoff,
dann in der Vertonung von Kurt Weill aus dem Jahre 1925, interpretiert von HK
Gruber und dem Ensemble Modern. Icke, also Sylvia Roth, verabschiede mich
und wünsche Ihnen einen wundervollen Tag!
XIV. Klops-Gedicht (gesprochen) - Claire Waldoff (0'25)
Bayerischer Rundfunk, Interview mit Claire Waldoff, 1955
XV. Berliner Klops - HK Gruber (0'53) T: Anonym, M: Kurt Weill (1925)
M0011482 003 Musik gesamt: 37 Min
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Literaturangaben zu Claire Waldoff :
Bemmann, Helga. Wer schmeißt denn da mit Lehm? Das Leben der Claire
Waldoff. Frankfurt, Berlin 1994
Bröhan, Nicole: Heinrich Zille. Eine Biographie, Berlin 2014
Goetz, Wolfgang: Im „Größenwahn“, bei Pschorr und anderswo... Berlin 1936
Greul, Heinz. Bretter, die die Zeit bedeuten. Die Kulturgeschichte des Kabaretts.
Koln 1967
Hösch, Rudolf: Kabarett von gestern. Nach zeitgenössischen Berichten, Kritiken
und Erinnerungen, Berlin 1967
Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß. Mein Leben mit Text und Musik, hg. von
Volker Kühn, Bonn 1996
Kollo, Willi: „Als ich jung war in Berlin ...“ Musikalisch-literarische Erinnerungen,
Mainz 2008
Koreen, Maegie: Claire Waldoff: Die Königin des Humors, Gelsenkirchen 2014.
Kühn, Volker (Hg.): Deutschlands Erwachen. Kabarett unterm Hakenkreuz 19331945, Weinheim, Berlin 1989
Ringelnatz, Joachim: Briefe, hg. von Walter Pape, Berlin 1988
Roth, Sylvia: Claire Waldoff. Ein Kerl wie Samt und Seide, Romanbiografie,
Freiburg 2016
Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer
Frauen im „Dritten Reich“, Berlin 1993
Tucholsky, Kurt. Gesammelte Werke, Bd. 1-3, Frankfurt/M. 2005
Zilles Vermächtnis, hg. von Hans Ostwald unter Mitarbeit seines Sohnes Hans Zille,
Berlin 1930