SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (4) Von Sylvia Roth Sendung: Freitag 30. Dezember 2016 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (4) SWR 2, 27. Dezember – 30. Dezember 2016, 9h05 – 10h00 Folge IV: Tanz in die Dunkelheit (1926-1933) Signet O-Ton Waldoff (1953): „Hallo, hallo! Hier spricht Claire Waldoff! Ich grüße Euch, meine Lieben!“ Titelmusik Herzlich Willkommen zu unserer Sendung über Claire Waldoff und das Berliner Kabarett – am Mikrofon begrüßt Sie Sylvia Roth. I. Heimat Berlin - Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit! - Paul Graetz (2'48) T: Walter Mehring, M: Friedrich Hollaender (1920) Titel CD: Hoppla, wir leben! Töne aus dem Kabarett 1901-1933, Patmos 3-49191153-2, LC 04176 Im Berlin der Zwanziger Jahre beschleunigt sich das Lebenstempo – Paul Graetz kann ein Lied davon singen, das Walter Mehring und Friedrich Hollaender der Kodderschnauze auf den Leib geschrieben haben. Je schneller sich der Minutenzeiger auf dem Zifferblatt dreht, desto rasender verändert sich auch die Metropole an der Spree. Nun „das neue New York“ genannt, hat sie sich bereits auf eine Einwohnerzahl von vier Millionen Menschen ausgedehnt – lebensgierigen Menschen, die sich ihre Stadt unentwegt erobern. Vor allem bei Nacht, also dann, wenn die Boulevards in ein plötzliches Feuerwerk gehüllt werden, weil der elektrische Strom in Millionen von Glühbirnen schießt. Auf dem Kurfürstendamm und der Friedrichstraße sausen die bunten Reklameschriften über die Häuserfassaden, während auf der Straße das Leben pulsiert: Vergnügungssüchtige stauen sich vor den Türen der Tanzdielen, in den Bars werden Cocktails gemixt und sogenannte „Spanner“ schieben sich an einsame Männer heran, um ihnen zuzuflüstern: „Nacktlokal – Spielklub – Nackttänze“. Oder auch: „Kokain jefällig?“ 3 Am neu entstehenden „Berliner Broadway“ nahe der Gedächtniskirche wachsen Kinos aus dem Boden, in denen neuerdings auch Tonfilme gezeigt werden. Zunehmend bestimmt der Film den Blick auf die Welt. II. Mein Bruder macht beim Tonfilm die Geräusche - Kurt Gerron (2'51) T: Luigi Bernauer, M: Charles Amberg, Fred Raymond (1930) SWR 1986067 01-010 Nicht nur Kurt Gerron fühlt sich – in einer Nummer von Charles Amberg, Fred Raymond und Luigi Bernauer – von der Omnipräsenz des Films bedroht. Auch die Kleinkunstbühnen müssen immer schärfere Geschütze auffahren, um gegen die Konkurrenz des Kintopps anzukommen. In den Revuen zeigt man nicht mehr nur nacktes Bein, sondern Ganzkörper-Fleischbeschau. 'Berlin ohne Hemd', 'Tausend nackte Frauen' oder 'Von Bettchen zu Bettchen' heißen die Shows von James Klein, der das Nacktballett salonfähig macht und damit unzählige Zuschauer anzieht. In kleinerem Rahmen lässt Celly de Rheydt, eigentlich Cäcilie Schmidt aus Mönchengladbach, die Hüllen fallen. Und auch Anita Berber sorgt für nackte Tatsachen. Gegenüber des „Schwarzen Kater“, im neu eröffneten Kabarett „Weiße Maus“, spült die Berber sich jeden Abend eine Flasche Cognac die Kehle hinunter, betäubt sich mit Kokain und Morphium, und tanzt ihren Widerstand gegen verlogene moralische Werte. So lange, bis sie bewusstlos von der Bühne getragen wird. III. Zieh dich aus, Petronella - Ute Lemper (2'17) T: Kurt Tucholsky, M: Friedrich Hollaender (1920) SWR M0240838 008 Für Gussy Holl schrieb Kurt Tucholsky diesen von Friedrich Hollaender vertonten ironischen Blick auf den Nacktheitskult. Es sang Ute Lemper, am Klavier begleitet von Jefrrey Cohen. Nicht nur als nacktes Lustobjekt zeigt sich der weibliche Körper der Zwanziger Jahre, sondern auch als Gestaltungsmasse – als ein Kunstwerk, das modelliert werden will. Längst ist der Sport nicht mehr nur Domäne des Mannes, ganz im Gegenteil, auch die Frau trainiert. Am liebsten im Kampf mit dem eigenen Boxtrainer. Überhaupt tritt die neue Frau männlich auf – die Welt ist androgyn geworden. Als sei der Etonboyanzug, den Claire Waldoff bereits 20 Jahre zuvor gegen die Zensur verteidigt hat, nun im großen Stil salonfähig geworden, räkeln sich an den Bars Frauen, die problemlos als Herren durchgehen könnten: Im Smoking wie aus 4 dem Ei gepellt, den kurzen Bubikopf streng zurückgegelt, das Monokel zwischen die Augen gekniffen. Und auch umgekehrt lösen die Geschlechtergrenzen sich auf: In den einschlägigen Clubs gibt es Transvestiten zu bestaunen, die täuschend echt nach Frau aussehen. Die immer vielseitiger genutzte Gummifabrikation stellt künstliche Körperteile so gelungen her, dass man nicht mehr erkennen kann, ob die blonde Fee am Tresen nun eigentlich ein X- oder ein Y-Chromosom in sich trägt. IV. Hannelore - Claire Waldoff (2'29) T: Horst Platen, M: Willy Hagen (1928) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge I, Membran Music 223226-354/D, LC 12281 Ist Hannelore ein Mann oder eine Frau? Wie die Geschlechtergrenzen verschwimmen, beschreibt Claire Waldoff in dem 1928 entstandenen Lied von Horst Platen und Willy Hagen. Überhaupt scheint die Lebensweise, die Claire Waldoff und ihre Gefährtin Olly von Roeder schon seit Jahren selbstbewusst vertreten, sich nun auch für die breitere Masse einzulösen. Die lesbische Liebe entwickelt sich zu einer regelrechten Mode. Homosexuelle Frauen werden nicht länger als „Kranke“ oder „Minderwertige“ verurteilt, vielmehr ist man stolz darauf, vom „anderen Ufer“ zu sein. Sogar die immer zahlreicher an die Spree strömenden Touristen reißen sich darum, in die legendäre lesbische Szene Berlins einzutauchen, um die „Priesterinnen der Sappho“ zu begutachten. Und auch die Scheidungsabteilung von Moabit weiß davon zu berichten, wie viele Ehen zerbrechen, weil eine verheiratete Frau dem unwiderstehlichen Charme einer Lesbe erliegt. V. Lila Lied - Orchesterversion mit Refraingesang - Orchester Marek Weber (3'37) T: Kurt Schwabach, M: Mischa Spoliansky (Pseudonym: Arno Billing) (1920) M0448293 017 Das Lila Lied, die Hymne der homosexuellen Bewegung, 1920 komponiert von Mischa Spoliansky, der im Laufe der Zwanziger Jahre mit diversen KabarettRevuen auf sich aufmerksam machte. Gewidmet ist es Dr. Magnus Hirschfeld, der mit seinem 1919 gegründeten Berliner „Institut für Sexualwissenschaft“ um Toleranz für die gleichgeschlechtliche Liebe warb. Wir hörten das Lied in einer instrumentalen Version mit dem Orchester Marek Weber. Obwohl die „neue Frau“ also selbstbewusster denn je auftritt, kämpft sie bisweilen so verzweifelt für ihr androgynes Schönheitsideal, dass sie nachhelfen lässt und sich eine Kunst zunutze macht, die dem Körperkult der Zwanziger Jahre gerade 5 recht kommt: Die Kunst des „Nasenjoseph“, des Chirurgen Jacques Joseph, der schon Ende des 19. Jahrhunderts die ersten abstehenden Ohren anlegte – und dessen Errungenschaften sich von Jahr zu Jahr verfeinerten. Ausgerechnet die Verwundeten aus dem Ersten Weltkrieg waren es, die die plastische Chirurgie entscheidend voranbrachten. Claire Waldoff, die mit ihren korpulenten Formen so gar nicht dem androgynen Schönheitsideal zu entsprechen scheint, obwohl sie das männliche Auftreten schon früher lebte als viele andere Frauen, lässt es sich nicht nehmen, über die kosmetischen Eingriffe zu spotten. VI. Wegen Emil seine unanständige Lust - Claire Waldoff (2'51) T: Julian Arendt, M: Paul Strasser (1929) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge II, Membran Music 223227-354/D, LC 12281 Wer hätte gedacht, dass es schon in den Zwanziger Jahren Schönheitsoperationen gab – das war Claire Waldoff mit einem selbstbewussten „Nein!“ zu Face-Lifting, Fettabsaugung und Nasenkorrektur. In einem Couplet aus dem Jahre 1929 von Julian Arendt und Paul Strasser. In den Tanzdielen, in denen das Flirten über Rohrpost und Tischtelefone erleichtert wird, dreht man sich in Ekstase. Dauertänzer Fernando hottet ohne Pause 155 Stunden lang über das Parkett und verbraucht dabei zweitausend Tänzerinnen, sechzig Liter Limonade, vierhundert Zigaretten und elf Paar Schuhsohlen. Doch – es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Unter der Sucht nach Rausch, unter der brodelnden Oberfläche der angeblich so goldenen Zwanziger Jahre, verdrängen die Menschen noch immer die Erfahrungen des Krieges und der Inflation. Ein sensibler Beobachter wie Joachim Ringelnatz durchschaut dies sehr wohl: „Das geknechtete Berlin schlemmt und tanzt, wie man in Paris tanzte vor dem Geköpftwerden“, schreibt er 1924. Die Schlager, die in rauen Mengen auf den Markt geworfen werden, sehnen sich nach immer exotischeren Zielen: Nach Hawaii, Honolulu, dem Himalaya – an den des Reimes wegen Herr Meyer reist – oder auch nach dem Mars. Dem Wunsch nach Realitätsflucht entspricht auch der bewusst intendierte Nonsenscharakter vieler Texte. VII. Ich kauf mir ne Rakete - Max Raabe und das Palastorchester (2'18) T: Armin Robinson/Robert Gilbert, M: Paul Abraham Titel CD: Lass uns von Liebe sprechen. Palastorchester mit Max Raabe, Musictales 2087181, LC 11391 6 Ab ins Weltall, gemeinsam mit Max Raabe und dem Palastorchester in einem Chanson von Paul Abraham – und von dort aus zurück auf die Erde, zurück zu Claire Waldoff. 1926 nimmt sie an einer neuen Charell-Revue teil, der Titel lautet: „Von Mund zu Mund“. Die Rahmenhandlung erzählt von fünf Kindern – gespielt von Claire Waldoff, Erika Glässner, Wilhelm Bendow, Curt Bois und Hans Waßmann – die davon träumen, was sie später einmal werden wollen. Claire, die in Ringelsocken und kariertem Kleid auf der Bühne steht und tatsächlich wie ein Kind aussieht, wünscht sich – wie sollte es anders sein – ein Junge zu werden, um als Held wie Caesar Triumphe zu feiern. In einem römischen Streitwagen rauscht sie an die Rampe und brüllt: VII. Raus mit den Männern ausm Reichstag! - Claire Waldoff (3'23) 1. und 2. Strophe T und M: Friedrich Hollaender (1926) Titel CD: Perlen der Kleinkunst, Claire Waldoff, Membran International 222232311/B, LC 12281 W0493786 008 Friedrich Hollaender hat sein Lied „Raus mit den Männern ausm Reichstag“ Claire Waldoff gewidmet – wohl wissend, dass der männermordende Text ganz auf ihrer Linie liegt. Nicht nur das anhaltende Chaos im Reichstag der Weimarer Republik nimmt der Text auf die Schippe – er ist auch ein bissiger Kommentar auf die Tatsache, dass das Frauenstimmrecht in Deutschland erst 1919 eingeführt wurde. Raus mit den Männern ausm Reichstag! - 3. Strophe Kurz nach der Premiere der Revue „Von Mund zu Mund“ erkrankt Erika Glässner, ihre Rolle muss in Windeseile umbesetzt werden. Eine junge Anfängerin, 24 Jahre alt, soll einspringen. Sie ist sehr groß, sehr blond, sehr blass – und stellt sich mit dem Namen „Marlene“ vor. Zwar hat sie ein paar Semester lang Geige studiert, gesungen aber hat sie noch nie, schon gar nicht vor Publikum. Claire Waldoff nimmt die nervöse Novizin unter die Fittiche – und schließlich bewältigt diese ihren Auftritt mit Bravour: Im langen gelben Kleid mit Schleppe, die Schultern nackt, streift sie über die Bühne – distanziert und dennoch unverhohlen erotisch. Schon bei ihrer zweiten Nummer „Feinkost mit Musik“, einem quirligen Charleston, reißt sie das Publikum zu Ovationen hin. A star is born – Marlene Dietrich. Geboren ist aber auch ein Gerücht, das sich in Windeseile durch Berlin hindurchtuschelt. Man munkelt, dass die langbeinige Dietrich und die quadratisch-praktische Waldoff eine Affäre miteinander haben. Gemeinsam werden sie auf Künstlerbällen gesehen, die Waldoff als Oscar Wilde verkleidet, 7 die Dietrich als Blue Boy. Und man meint zu hören, dass die Dietrich die dunkle Färbung ihrer Stimme nur dem Gesangsunterricht der Waldoff zu verdanken habe. Was wirklich geschah, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben – fest steht jedoch, dass sich der Kontakt zwischen den beiden Frauen recht schnell verspielte, während Claire Waldoff sich Marlene Dietrichs Mutter, Josefine von Losch, ein Leben lang verbunden fühlte. (Erste Takte von Sein Milljöh anspielen.) 1929 stirbt Heinrich Zille. Für Claire Waldoff ist es ein schwerer Schlag, den geliebten Freund zu verlieren. „Als ich Dich kennenlernte, mit Freude denk' ich daran“, schrieb Zille ihr in einem seiner letzten Briefe. „Ich denke an unsere Wanderungen im Norden und Osten Berlins, um Nacht und Leute zu studieren. Ich sehe Dein erstauntes, ernstes Gesicht, als ich Dir eine andere Welt zeigte – hast viel vom Ernst des Lebens in Deine Kunst hineingenommen und die Hörer zum Denken veranlaßt.“ VIII. Das Lied vom Vater Zille (Sein Milljöh) - Claire Waldoff (2'49) T: Willi Kollo und Hans Pflanzer, M: Willi Kollo (1930) M0271603 014 Zum Tod des 'Pinsel-Heinrich' komponiert von Willi Kollo, dem Sohn Walter Kollos: Das Lied vom Vater Zille, Sein Milljöh, gesungen von Claire Waldoff. Wenige Wochen nach Zilles Tod brechen die Kurse an der New Yorker Börse ein. Auch in Berlin werden die Folgen spürbar: Die Zahl der Arbeitslosen steigt stündlich. Wieder schwimmen täglich Leichen in der Spree. In der Kuhlen Wampe bilden sich Notquartiere, verwahrloste Kinder organisieren sich – wie Wolfsrudel – zu kleinen Banden. Nur mit Hilfe von Diebstählen und Einbrüchen können sie überleben, viele sind, obwohl noch nicht einmal zehn Jahre alt, syphilitisch und kokainabhängig. Claire Waldoff singt angesichts dieses Elends bei Benefizveranstaltungen für hungernde Kinder und beteiligt sich gemeinsam mit vielen anderen Künstlern am „Mittagskabarett“, einer kostenlosen Unterhaltung für Arbeitslose. Doch während sie versucht, mit ihrem Gesang die Armut aus Berlin zu vertreiben, herrscht im Parlament nichts als Chaos: Der Reichstag zerfleischt sich selbst, die Regierungen und die Notverordnungen wechseln immer schneller. 1930 erzielt die NSDAP ihren politischen Durchbruch und tritt von nun an mit unverhohlener Aggressivität auf. Im Dezember 1930 stören die Braunhemden die Premiere des Anti-Kriegs-Films „Im Westen nichts Neues“ und belagern danach mehrere Tage lang das Theater am Nollendorfplatz. Die Künstler haben allen Grund, sich zu fürchten. 8 IX. Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen? - Erich Kästner (2'03) T: Erich Kästner (1928) Titel CD: Hoppla, wir leben! Töne aus dem Kabarett 1901-1933, Patmos 3-49191153-2, LC 04176 Als am 10. Mai 1933 die Bücher auf dem Berliner Opernplatz verbrannt werden, sind darunter nicht nur viele Autorennamen, die Claire Waldoff in ihrer über 1000 Bände umfassenden Bibliothek stehen hat, sondern auch Namen ihrer Freunde und Kollegen aus dem Kabarett. Bücher von Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht oder Erich Kästner – der soeben sein Gedicht „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen“ rezitierte. Im Dreck neben dem Bücher-Scheiterhaufen liegt außerdem die Büste von Dr. Magnus Hirschfeld, jenem Wissenschaftler, der sich so nachhaltig für die Rechte der Homosexuellen einsetzte. Ab sofort gilt die gleichgeschlechtliche Liebe wieder als krank und pervers. Die Verschärfung des Paragraphen 175 ist bereits in Arbeit, in den einschlägigen Nachtclubs werden Razzien durchgeführt. „Säuberungsaktionen“ nennen das die Nazis. Das Lesbentum wird als scharfer Verstoß gegen die braune Ideologie der Frau als Mutter und Gebärmaschine gebrandmarkt. Claire Waldoff und Olly von Roeder müssen auf der Hut sein. X. Der Bücherkarren - Willi Schaeffers (2'09) T: Hellmuth Krüger, M: Willi Kollo (1929) W0194963 001 „Wenn ich wüsste, was der Adolf mit uns vor hat ...“ Bereits 1929 blickten Hellmuth Krüger und Willi Kollo hellsichtig in die Zukunft – in dem Couplet „Der Bücherkarren“, vorgetragen von Willi Schaeffers. 1933 erhält Claire Waldoff ein Auftrittsverbot, das aber nach kurzer Zeit wieder rückgängig gemacht wird. Nicht nur, weil sie einen lupenreinen Ariernachweis vorlegen kann, sondern auch, weil die Nische der Volkssängerin sie schützt innerhalb der faschistischen Ideologie. Davon abgesehen würde es den Nazis zu viele Sympathien verspielen, eine prominente und beliebte Künstlerin wie sie anzugreifen. Dennoch muss sie sich dazu verpflichten, die Namen ihrer jüdischen Komponisten einzudeutschen: Ludwig Mendelssohn etwa heißt auf den Programmzetteln nun – fast grenzt es an Realsatire – Adolf Walter. Claire Waldoff versucht, sich zu arrangieren. Als ihr Hermann-Lied vom Volksmund zur Karikatur auf Göring parodiert wird: „Rechts Lametta, links Lametta, / und der Bauch wird imma fetta, / und in Preußen isser Meester – Hermann heeßt er!“, schreibt sie einen Brief an Göring: Sie habe mit diesen Reimen nichts zu tun, würde ihr Hermann-Lied aber dennoch gerne weiter singen, im Original versteht 9 sich. Ob ihr das erlaubt sei? Die Antwort folgt postwendend: „Sehr verehrte Künstlerin! Ich habe nichts dagegen, dass Sie dieses Lied singen, im Gegenteil, ich bitte Sie darum“, schreibt Göring. Doch trotz solcher Zugeständnisse beschweren linientreue Nazis sich immer wieder über Claire Waldoff: „Dieses Weib hat die echt jüdische Frechheit, von Anstand zu sprechen, wo sie unter früherem System allabendlich in jüdischen Varietéen und Kabaretts von Stinkjuden verfasste und vertonte Ein- und Zweideutigkeiten (...) verzapfen durfte, mit ihrem für deutsche Ohren widerlichen Organ.“ So empört sich 1935 ein Parteigänger aus Mühlheim an der Ruhr. XI. Der Marsch ins Dritte Reich - Ernst Busch (2'45) T: Bertolt Brecht, M: Hanns Eisler (1932) M0382936 013, 2‘40 Der Marsch ins Dritte Reich – geschildert von Bertolt Brecht und Hanns Eisler, rezitiert von Ernst Busch – zeichnet sich immer unverhohlener ab. Die ideologische Gleichschaltung in Presse und Kultur wird gnadenlos durchgesetzt, die Kabaretts verwandeln sich in zahnlose Unterhaltungsstätten. Vor Beginn jeder Aufführung wird „Das Braunhemd“, ein Hitler gewidmeter Walzer, gespielt. Jedes Wort der Conférenciers will vorsichtig abgewogen sein. Als Willi Schaeffers die Waldoff im Kabarett der Komiker mit dem Witz ankündigt, sie sei im Ersten, im Zweiten und nun auch im Dritten Reich Liebling des Volkes und werde – vieldeutige Pause – so lange sie lebt, Liebling des Volkes bleiben, erhält er am nächsten Morgen einen Anruf von Hans Hinkel, Leiter des Kampfbundes für deutsche Kultur, auf dessen Schreibtisch der Spitzelbericht bereits eingetroffen ist. Schaeffers möge sich solche Infragestellungen des Dritten Reichs in Zukunft bitte verkneifen. Wie Ansager, die zu weit gehen, von der Bühne heruntergehauen werden, haben die Nazis bereits mehrfach demonstriert. XII. Muss i denn zum Städele hinaus - Comedian Harmonists (1'58) T und M. Trad. Titel CD: Edition Comedian Harmonists. Das Meistersextett. Gesamtaufnahme sämtlicher Schellacks 1935-1939, RBM 463 200, LC 02888 Um Claire Waldoff ist es einsam geworden. Nicht nur die jüdischen Mitglieder der Comedian Harmonists – die wir soeben mit dem Volkslied „Muss i denn zum Städtele hinaus“ hörten – müssen fliehen, auch viele andere Kollegen aus dem Kabarett verschwinden. Claires Freund Joachim Ringelnatz erliegt 1934 seiner Tuberkulose, nachdem er von den neuen Machthabern drangsaliert wurde, ihr Chansonschreiber Kurt Tucholsky nimmt sich das Leben, ihre ConférencierKollegen Fritz Grünbaum und Paul Morgan werden ins Konzentrationslager 10 verschleppt. Marlene Dietrich, Rosa Valetti, Erik Charell, Friedrich Hollaender, Paul Graetz, Rudolf Nelson und viele andere emigrieren. Für Claire Waldoff kommt Emigration nicht in Frage – zu sehr sind ihre Lieder mit der deutschen Sprache und nicht zuletzt Berlin verknüpft. Dennoch reduzieren sich ihre Auftrittsmöglichkeiten immer mehr. Joseph Goebbels, dem Präsidenten der Reichskulturkammer, ist sie ein Dorn im Auge. Ende der Dreißiger Jahre, nachdem sie mehr als ein Vierteljahrhundert lang in Berlin gelebt hat, verlässt sie ihre geliebte Spree-Metropole und siedelt gemeinsam mit Olly von Roeder in ein kleines Sommerhäuschen bei Bad Reichenhall über. Als der Krieg beendet ist, kann Claire Waldoff nicht mehr an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Gegen die neuen amerikanischen Schlager scheinen ihre Couplets veraltet, in der Welt des Rock'n Roll wirkt eine Volkssängerin anachronistisch. Ihre Berliner Wohnung wurde zerbombt, eine Heimat an der Spree gibt es für die „Berolina“ nicht mehr. In großer Armut verbringt sie ihre letzten Lebensjahre in dem kleinen bayerischen Häuschen, ehe sie 1957 stirbt. Sechs Jahre später folgt ihre große Liebe Olly von Roeder. Beide sind im Familiengrab der von Roeders auf einem Friedhof in Stuttgart beerdigt. In wenigen Wochen, am 22. Januar 2017, jährt sich Claire Waldoffs Todestag zum 60ten Mal. Mit den vergangenen vier Musikstunden haben wir ihrer gedacht. Und vielleicht ist dabei ja ein wenig des forschen, unerschrockenen Temperaments der Krawallschleife in unsere Gemüter hineingeschwappt. Ich, Sylvia Roth, wünsche Ihnen in jedem Fall das Allerbeste für das bevorstehende neue Jahr – und empfehle Ihnen außerdem, 2017 öfter mal eine Radpartie zu unternehmen! XIII. Die Radpartie - Claire Waldoff (2'51) T und M: Helmut Markiewicz (1931) Titel CD: Perlen der Kleinkunst, Claire Waldoff, Membran International 222232311/B, LC 12281 O-Ton Waldoff (1953): „Ja, die Waldoff – das war ne dolle Nummer! Ihr habt ganz recht .... Aber schön war's doch! Wenn uns das Leben jetzt auch manchmal hart am Kragen packt, dann denkt an meinen fröhlichen Trinkspruch: Wir wollen nicht weich werden! Noch hängt die Hose nicht am Kronleuchter!“ XIV. Tamerlan - Guido Gialdini (Kunstpfeifer) (1'45) M: Rudolf Nelson (1922) Titel CD: Singt eener uffn Hof. Kurt Tucholsky als Kabarettautor, Duophon Records 05053, LC 08681 11 Literaturangaben zu Claire Waldoff : Bemmann, Helga. Wer schmeißt denn da mit Lehm? Das Leben der Claire Waldoff. Frankfurt, Berlin 1994 Bröhan, Nicole: Heinrich Zille. Eine Biographie, Berlin 2014 Goetz, Wolfgang: Im „Größenwahn“, bei Pschorr und anderswo... Berlin 1936 Greul, Heinz. Bretter, die die Zeit bedeuten. Die Kulturgeschichte des Kabaretts. Koln 1967 Hösch, Rudolf: Kabarett von gestern. Nach zeitgenössischen Berichten, Kritiken und Erinnerungen, Berlin 1967 Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß. Mein Leben mit Text und Musik, hg. von Volker Kühn, Bonn 1996 Kollo, Willi: „Als ich jung war in Berlin ...“ Musikalisch-literarische Erinnerungen, Mainz 2008 Koreen, Maegie: Claire Waldoff: Die Königin des Humors, Gelsenkirchen 2014. Kühn, Volker (Hg.): Deutschlands Erwachen. Kabarett unterm Hakenkreuz 19331945, Weinheim, Berlin 1989 Ringelnatz, Joachim: Briefe, hg. von Walter Pape, Berlin 1988 Roth, Sylvia: Claire Waldoff. Ein Kerl wie Samt und Seide, Romanbiografie, Freiburg 2016 Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich“, Berlin 1993 Tucholsky, Kurt. Gesammelte Werke, Bd. 1-3, Frankfurt/M. 2005 Zilles Vermächtnis, hg. von Hans Ostwald unter Mitarbeit seines Sohnes Hans Zille, Berlin 1930
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