Gerhard Vinnai Liebesopfer und Kultur (Veröffentlicht Werkblatt 1/2016) Kultur und Liebesopfer in der christlichen Religion In religiös geprägten Gesellschaften können Tiere oder sogar Menschen geschlachtet und göttlichen Mächten als Opfer dargebracht werden, um deren Wohlwollen zu erlangen. Den Opfern kann als „Sündenbock“ das aufgeladen werden, was den sozialen Zusammenhalt bedroht, der als durch göttliche Mächte gestiftet erscheint.1 Durch das Opfer soll das Gemeinwesen entsühnt werden. Schuld, die Menschen auf sich geladen haben, indem sie sich göttlichen Geboten widersetzten, soll durch das Opfer, dem diese Schuld aufgeladen wird, überwunden werden. Im Christentum wird das Opfer als sublimiertes vergeistigt und mit der Gestalt von Jesus Christus verknüpft. Die christliche Religion ist eine Opferreligion, sie ist um die erlösende Kraft des Opfers zentriert. Jesus opfert am Kreuz seinen lebendigen Leib, sein Leben für die Erlösung der Menschen. Er bringt am Kreuz das Liebesopfer eines Sohnes für seinen himmlischen Vater und damit zugleich auch für das Heil der Menschen. Der christlichen Religion zu folge soll durch dieses Kreuzesopfer die Möglichkeit der Erlösung von Schuld und damit ein Weg zum Heil die Welt kommen. Christ sein heißt, das Opfer Jesus als für einen selbst erbrachtes Opfer anzunehmen und damit die Möglichkeit zu haben, an der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden. Dies verleiht dem Leben und Leiden Sinn und soll zeigen, wie man ein einen Weg zum inneren Frieden finden kann. Das Bemühen, das eigene Selbst zu entdecken und dem eigenen Leben Sinn zu verleihen, kann von Christen auf die opferbereite Christusfigur bezogen werden. Man kann sich als Christ in der Nachfolge Christi sehen oder man kann das eigene menschliche Wesen in der Differenz zu dieser zum Menschen gewordenen Gottesgestalt bestimmen. Das Opfer, das die Jesusfigur bringt, wird im christlichen Denken nicht nur auf Einzelne bezogen, es stiftet auch sozialen Zusammenhalt. Es soll Menschen, denen Jesus ein Vorbild opferbereiter Nächstenliebe wird, zu sozialen Wesen machen. Beim Abendmahl, das im Zentrum des kirchlichen Lebens steht, kommt es mit Hilfe der gemeinsamen Einverleibung des Opferleibes Christi zur Annahme dieses Erlösungsopfers durch die Gemeinde. Im Protestantismus erscheint dies als ein symbolischer Akt, die katholische Lehre geht von der „Realpräsens“ des Leibes Christi im Abendmahl aus. Diese gemeinsame Verinnerlichung des Opfers besorgt der kirchlichen Lehre zufolge die Verwandlung der Einzelnen in Glieder einer kirchlichen Gemeinde. Indem die Gläubigen den Opferleib Christi in sich aufnehmen, werden sie Teil einer Christlichen Kirche, Teil eines Volkes Gottes. Der Katholischen Lehre zufolge werden die Heranwachsenden durch die „Einverleibung“ vollwertige Mitglieder einer universalen Kirche. Die Annahme des Opfers Christi soll also Menschen zugleich zu christlichen Subjekten und zu einem Teil der Christenheit machen. Sie soll Menschen als Einzelne zu Subjekten machen, die auf eine jeweils besondere Art auf einen persönlichen Gott bezogen sind, und sie soll Menschen zugleich zu sozialen Wesen machen, die als Teil einer christlichen Kirche gemeinsam mit anderen auf Gott ausgerichtet existieren. 1 Siehe hierzu Rene Girard: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987 1 Religiöse Gestalten, wie die Jesusfigur, die den Gläubigen als göttliche Mächte erscheinen, die ihre Geschicke lenken, lassen sich der psychoanalytischen Religionskritik zufolge auch als Ausdruck von unbewusst in Menschen wirksamen psychischen Mächten verstehen. Das Ziel der freudschen Religionskritik ist es, Unbewusstes, das zur Religion drängt, bewusst zu machen, und so „Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen.“2 Der Psychoanalyse geht es darum, die Wurzeln des religiösen Glaubens in unbewusst wirksamen Elternimagines, Konfliktkonstellationen, Phantasien und Triebregungen auszumachen. Religiöse Lehren können als Ausdruck der unbewussten Wirkungen des Ödipuskomplexes und anderer infantiler Konfliktkonstellationen verstanden werden.3 Die christliche Religion verknüpft in ihrem Zentrum Opfer und Liebe. Sie ist zugleich um das Problem der Schuld und der Erlösung von Schuld zentriert. Jesus, der sich aus Liebe opfert, kann dadurch Schuld von Menschen nehmen. Das „Vaterunser“, das wichtigste christliche Gebet, richtet die Bitte an Gott: „Und vergib uns unsere Schuld.“ Man kann deshalb in einer psychoanalytischen Perspektive von der Annahme ausgehen, dass in den gläubigen Subjekten unbewusste, um Liebesopfer und Schuldzusammenhänge zentrierte psychische Problematiken wirksam sind, die in ihrer Religion wiederkehren. In den Gläubigen muss etwas „Jesushaftes“ wirksam sein, das sie an Jesus glauben lässt. Wie in den Symptomen seelischer Erkrankungen kehren diese Problematiken in der Lehre Jesu aber nur als verhüllte, von ihrem Ursprung abgespaltene und vom Wunsch korrigierte wieder. Sigmund Freud: Kultur, Verzicht und Liebesopfer Sigmund Freud hat die Kultur als Opfer- und Schuldzusammenhang analysiert, auf den die Jesusfigur bezogen werden kann. Nach Freud ist menschliches Zusammenleben in der Kultur, wie er in seinem Text „Das Unbehagen in der Kultur“ dargestellt hat, auf das Opfer von Triebregungen angewiesen. Bei ihm heißt es: „Es ist unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung von mächtigen Triebregungen zur Voraussetzung hat.“4 Die Kultur verlangt, dass Triebregungen bewusst unterdrückt, unbewusst verdrängt oder sublimiert werden. Dies vor allem, um dem Bereich der Arbeit, ohne den sich die Gesellschaft nicht reproduzieren kann, Energien zuzuführen. „Das Motiv der menschlichen Gesellschaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muss sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit zulenken. Also die ewige, urzeitliche bis auf die Gegenwart fortgesetzte Lebensnot.“5 Indem die Kultur den Trieben Energien entzieht, folgt sie also „dem Zwang der ökonomischen Notwendigkeit.“6 Um als Instrument der körperlichen Arbeit dienlich zu sein, muss der Körper weitgehend entsinnlicht werden. Bei der Kopfarbeit muss er durch Eine Art Neutralisierung tendenziell ausgeschaltet werden. Weil die Kultur den Verzicht auf das Ausleben von sexuellen und aggressiven Regungen verlangt, gibt es eine offene oder latente Kulturfeindlichkeit bei ihren Mitgliedern. Diese Feindlichkeit richtet sich nicht zuletzt gegen die sozialen Mächte, die diesen Verzicht erzwingen. Sie richtet sich in 2 3 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Gesammelte Werke IV, S. 287f Siehe hierzu Gerhard Vinnai: Jesus und Ödipus. Frankfurt 1999, online http://psydok.sulb.uni-saarland.de/ volltexte/2006/578 4 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XI, S. 457 5 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. GW XI, S. 457 6 Sigmund Freud.: Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S.464 2 unserer Kultur ursprünglich gegen die Eltern, die dem Kind gegenüber die Anforderungen der Gesellschaft repräsentieren. Nach Freud ist das Triebopfer, das die Kultur verlangt, mit einem Liebesopfer und dem mit diesem verbundenen Bemühen um die Aufhebung der Schuld verknüpft. In seiner Schrift „Totem und Tabu“7 hat er eine empirisch kaum zu belegende Konstruktion vorgeführt, mit der er dies deutlich machen will. Für Freud kommen die Anfänge der menschlichen Kultur dadurch zustande, dass ein Urvater, der seine Söhne unterdrückt, indem er Macht und Sexualität monopolisiert, durch die vereinigten Söhne erschlagen wurde. Nach ihrer Mordtat verschlingen die Söhne den ermordeten Vater. Bei dieser Einverleibung kommt aber nicht nur der Hass auf den Vater, sondern auch die Liebe zu ihm zur Geltung. Die Söhne müssen nach ihrer Mordtat akzeptieren, dass sie den erschlagenen Vater nicht nur hassen, sondern auch lieben. Deshalb leisten sie dem verinnerlichten toten Vater nachträglichen Gehorsam und richten ihn gewissermaßen als Gottesgestalt in sich auf, der sie opferbereit zu gehorchen bereit sind. Der tote „Urvater“, der für die Psyche stärker ist, als es der lebende war, wird so zum „Urbild Gottes“8, dem man sich zu unterwerfen bereit ist. Weil sie den Vater zu ihrem Opfer gemacht haben, müssen die Söhne ihm nachträglich Opfer bringen. Die verbietende verinnerlichte Vaterimago hilft die Verzichtleistungen in der Brüderhorde zustande zu bringen, die die Kultur möglich machen. Der mit Schuldgefühlen verbundene nachträgliche Gehorsam gegenüber dem zugleich gehassten und geliebten Vater macht Freud zufolge die Söhne zu sozialen Wesen, er stiftet die Anfänge der Kultur. Indem sich die Söhne bemühen, kulturell notwendig Verzichtleistungen zu erbringen, opfern sie gewissermaßen aus Furcht und Liebe dieser verinnerlichten väterlichen Schicksalsmacht. Sie wollen damit deren Wohlgefallen erlangen, sich mit ihr versöhnen, was als Freiheit von Schuld erfahren wird. „Es konnte mit dem Vatersurrogat der Versuch gemacht werden, das brennende Schuldgefühl zu beschwichtigen, eine Art Aussöhnung mit dem Vater zu bewerkstelligen.“9 Eine Art religiöser Opferlogik kommt so in der Psyche zur Geltung. Die Mordtat am Vater und ihre Verarbeitung ist, diesem eigentümlichen psychoanalytischen Mythos zufolge, gewissermaßen das Kultur stiftende Urverbrechen, das die Kompensation durch ein Sohnesopfer verlangt, für das die Jesusgestalt stehen kann. Für Jesus gilt, Freud zufolge: „Er ging hin und opferte sein eigenes Leben, und dadurch erlöste er die Brüderschar von der Erbsünde.“10 „So bekennt sich denn in der christliche Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit, weil sie nun im Opfertod des einen Sohnes die ausgiebigste Sühne für sie gefunden hat.“11 Ein mit dem Vaterhass verbundenes Urverbrechen soll durch das Liebesopfer eines sich um Reinheit von „bösen Trieben“, die den Konflikt mit dem Vater heraufbeschworen haben, bemühenden Sohnes gesühnt werden. Die christliche Lehre thematisiert also, psychoanalytisch interpretiert, für Freud insgeheim die Gesellschaftlichkeit des Menschen als mit Liebe verbundenen Opfer- und Schuldzusammenhang. Aber diese Lehre verschleiert zugleich auch diese ihre Wahrheit, indem sie sie nur mit Hilfe eines vom Wünschen erzeugten illusionären göttlichen Stellvertreters thematisiert. Dieser verspricht die Erlösung vom Leiden an Opfer und Schuld, wo sie nur auf fragwürdige Art zu erlangen ist. 7 Sigmund Freud: Totem und Tabu. GW IX. Freuds Text thematisiert eher die Anfänge der bürgerlichen Kultur als die Anfänge der Kultur überhaupt. Siehe hierzu Vinnai. Jesus und Ödipus. S.198 8 Sigmund Freud.: Die Zukunft einer Illusion, GW XIV, S. 366 9 Sigmund Freud. Totem und Tabu. IX, S. 174 10 Ebd., S. 184 11 Ebd., S. 186 3 Der psychoanalytische Mythos vom Urvatermord und dem nachträglichen opferbereitem Gehorsam der Söhne gegenüber dem ermordeten Urvater entspricht psychologischen Problemen in den Subjekten, die Freud mit dem Ödipus-Komplex verbunden sieht. So müssen auf schmerzliche Art bewältigt werden, damit die Subjetwerdung möglich wird, die ohne Opfer nicht zu haben ist. Dieses Problem hat Freud besonders beim Sohn beschäftigt. Seiner Psychoanalyse zufolge fordert der Vater von seinem Sohn den Verzicht von auf die Mutter gerichteten Triebregungen und bringt dabei ihm gegenüber zugleich auch die Anforderungen der auf Verzicht basierenden sozialen Ordnung zur Geltung, die er repräsentiert. Das weckt kindliche Vernichtungswut gegen den Vater, dem aber zugleich auch die Liebe des Sohnes gehört. Der Sohn löst diesen Ambivalenzkonflikt zwischen dem Wunsch, den Vater zu beseitigen und ihn zugleich als Liebesobjekt zu erhalten, durch die Internalisierung einer verbietenden Vaterimago im Über-Ich, die den realen Vater überhöht. Durch diese Internalisierung kann sich der Sohn zwar äußerlich vom Vater lösen, dessen Macht über sich er dabei gewissermaßen vernichtet, er bleibt aber zugleich an ein sehr machtvolles inneres Objekt gebunden, das der Beziehung zu ihm entsprungen ist. Die Liebe zu diesem inneren Objekt, das mit einer vom Kind phantasierten Drohmacht ausgestattet ist, verleiht dem Ich des Sohnes die Fähigkeit, von der Kultur geforderte Verzichte zu leisten. Die Aggression gegen die einschränkende Vaterfigur, die zugleich geliebt wird, wird vom Über-Ich übernommen und wird vom Ich als Schuldgefühl bei einer Nichtbefolgung von Anforderungen des ÜberIchs erlebt. Zugleich macht auch die Angst gehorsamsbereit, die Liebe der im Über-Ich verinnerlichten Vaterimago zu verlieren. Getrieben von Liebe, verinnerlichter Aggression und Angst ist das Ich bereit, der verinnerlichten väterlichen „Gottesgestalt“ Triebregungen, die deren Gesetz widersprechen, zu opfern, um dadurch ihr Wohlwollen zu erhalten oder zu erlangen. Im Prozess der Aufrichtung des Über-Ichs, das an die Stelle von äußerlich verbietenden nicht nur väterlichen, sondern auch mütterlichen Elterninstanzen tritt, die Freud allerdings weitgehend vernachlässigt, kommt es zur Internalisierung des Triebopfers gegenüber diesen gefürchteten und zugleich geliebten Schicksalsmächten der Kindheit, die in der Religion als göttliche Mächte wiederkehren. Die Freiheit von Schuld, durch Gehorsam gegenüber den Anforderungen des Über-Ichs, fordert die Akzeptanz von Liebesopfern gegenüber Elternimagines, die im Über-Ich, als dessen Kern, unbewusst ihre Macht behalten. Die idealisierten und zugleich gefürchteten elterlichen Objekte, werden, als „Götter“ der Kindheit, zu verinnerlichten Schicksalsmächten, denen Opfer an Triebregungen und Wünschen erbracht werden müssen, um ihre Liebe und ihren Schutz zu erhalten. Der christliche Jesus, der am Kreuz seinen sinnlichen Leib seinem väterlichen Gott aus Liebe opfert, ist mit dem ödipalisierten Ich verwandt, das gegenüber dem Über-Ich opferbereit ist, indem es auf bestimmte sinnliche Regungen verzichtet. Aber bei ihrer Thematisierung des Sohnesopfers, das für sie nur der reinen Liebe zu entspringen scheint, leugnet die christliche Religion die Macht der Aggression wie auch die der Sexualität, die in der ödipalen Problematik wirksam ist.12 Das ödipale Drama der Subjektwerdung erscheint in ihr nur auf entsinnlichte Art und verschoben auf göttliche Stellvertreter. Melanie Klein: Opfer und Wiedergutmachung Auch in der Psychoanalyse Melanie Kleins erscheinen zu verinnerlichende Liebesopfer, die das Kind zuerst den Eltern bringen muss, als Vorrausetzung der Subjektwerdung. Sie thematisiert sie aber mit anderer Akzentsetzung als Freud: Während Freud sie vor allem auf ödipale Probleme bezieht, sieht sie sie bereits mit den Konflikten der frühesten psychischen 12 Siehe hierzu Vinnai. Jesus und Ödipus 4 Entwicklungsphasen verknüpft. Opfer, die Freud zu einem kulturnotwendigen Triebverzicht in Beziehung setzt, verquickt Klein primär mir der Gestaltung von Liebesbeziehungen. Sie sind bei ihr mit einem Drang zur „Wiedergutmachung“ verbunden, der schon in Säuglingszeit auftaucht. In ihrem Text „Liebe, Schuldgefühl und Wiedergutmachung“ 13 hat sie Gedanken hierzu vorgeführt. Bereits im Säuglingsalter entwickelt sich, Klein zufolge, liebevolle Beziehungen zu einem guten mütterlichen Objekt bzw. einem Teilobjekt, wie der guten mütterlichen Brust, die mit der Erfahrung einer liebevollen, Lust spendenden Ernährung und Betreuung durch die Mutter einhergeht. Versagungen hingegen, die das Kind einem bösen mütterlichen Objekt oder Teilobjekt zuschreibt, setzen bei ihm destruktive aggressive Impulse frei, die darauf zielen, es zu vernichten. „Hat der Säugling das Gefühl, dass ihm die Brust versagt wird, greift er sie in seiner Phantasie an; wird er hingegen durch die Brust befriedigt, so liebt er sie und hat bezogen auf sie - Phantasien lustvoller Art. In seinen aggressiven Phantasien möchte er die Mutter und ihre Brüste zerbeißen, zerreißen und auf noch manch andere Weise zerstören. Ein höchst bedeutsamer Zug dieser destruktiven Phantasien, die gleichbedeutend sind mit Todeswünschen, ist der, dass der Säugling glaubt, was er sich in seinen Phantasien wünscht, habe wirklich stattgefunden; das heißt, er fürchtet, das Objekt mit seinen destruktiven Impulsen wirklich zerstört zu haben und auch weiterhin zu zerstören“.14 Da das Kind von dem mütterlichen Objekt, das es am meisten liebt und benötigt, völlig abhängig ist, lösen solche Phantasien bei ihm massive Angst aus. Es wehrt sich gegen sie mit einer Art von omnipotenten Wiederherstellungsphantasien. „Hat der Säugling die Mutter in seien aggressiven Phantasien zerbissen und zerrissen so kann er bald darauf Phantasien entwickeln, in denen er die einzelnen Stückchen wieder zusammensetzt und die Mutter wiederherstellt“.15 Die Befürchtung, dass diese Wiederherstellung nicht gelingt, verschwindet aber nie mehr ganz. Der Grundkonflikt zwischen dem Wunsch, ein Objekt zerstören und es zugleich erhalten zu wollen, bleibt deshalb in der Psyche bestehen und bestimmt noch entscheidend das Gefühlsleben auch von Erwachsenen. Deshalb fürchtet man, meist mehr unbewusst als bewusst, für Andere eine Gefahr zu sein, ein Gefühl, das Schuldgefühle weckt und den Wunsch erzeugt, sie durch Opfer zu schützen, die man aus Liebe zu ihnen erbringt. „Schon beim Kleinkind kann man die Besorgnis um den geliebten Menschen beobachten, die nicht nur, wie man meinen möchte, Zeichen der Abhängigkeit von einer freundlichen und hilfreichen Person ist. Neben den destruktiven Impulsen im Unbewussten des Kindes wie des Erwachsenen besteht ein starker Drang, Opfer zu bringen, um geliebte Menschen, die in der Phantasie beschädigt oder zerstört worden sind, wieder ganz zu machen und ihnen zu helfen. In der Tiefe ist das Verlangen, Menschen glücklich zu machen, verknüpft mit einem ausgeprägten Gefühl der Verantwortung, für und der Sorge um sie.“16 Das Kind bringt den Eltern Liebesopfer, in Gestalt des Bemühens, ihnen zu Willen zu sein und ihre Wünsche zu erfüllen, um so die Schuldgefühle loswerden zu können, die aus destruktiven Wünschen ihnen gegenüber resultieren. Sich Menschen gegenüber rücksichtsvoll zu verhalten, was ein wesentlicher Bestandteil der Liebe zu ihnen ist, verlangt, sich in ihre Lage versetzen zu können, also sich mit ihnen zu identifizieren. Durch diese Identifizierung wird, Klein zufolge, 13 Melanie Klein: Liebe, Schuldgefühl und Wiedergutmachung. In: Gesammelte Schriften I, Stuttgart 1995. Klein thematisiert in diesem Text von 1937 nicht die frühe Rolle der Macht des Todestriebes und der paranoiden Ängste, die sie in anderen Arbeiten in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt. 14 Ebd. S. 110 15 Ebd. 16 Ebd., S. 114 5 eine Art Opferspiel erzeugt. „Da wir durch die Identifizierung mit anderen Menschen gewissermaßen an der Hilfe oder Befriedigung, die wir ihnen selbst gewähren, teilhaben, gewinnen wir in gewisser Weise wieder, was wir anderen geopfert haben. Im Grund genommen spielen wir, wenn wir jemandem, den wir lieben, Opfer bringen und uns mit ihm identifizieren, die Rolle eines guten Elternteils und verhalten uns gegenüber der geliebten Person genau so, wie sich unserer Meinung nach die frühen Eltern verhalten haben oder hätten verhalten sollen. Gleichzeitig spielen wir die Rolle des guten Kindes gegenüber den Eltern - eine Rolle, die wir in der Vergangenheit gern gespielt hätten und nun in der Gegenwart nachvollziehen.“17 Eine tiefe Liebesbindung, die mit der Fähigkeit verbunden ist, Freude und Leid zu teilen, ist deshalb von einer „beiderseitigen Opferbereitschaft“18 abhängig, die helfen soll, Schuldgefühlen zu entkommen. Die Opferbereitschaft, die Melanie Klein ganz anders als Sigmund Freud fasst, ist auch für sie eine Vorrausetzung der Subjektwerdung und macht Menschen auch nach ihrer Theorie erst zu sozialen Wesen. Otto Fenichel: Erziehung als Erziehung zum Opfern . Otto Fenichel hat in einem Text „Über „Erziehungsmethoden“ 19 deutlich gemacht, dass in der Erziehung immer eine „Psychologie des Opferns“ wirksam wird. Während es erzogen wird, macht das Kind die Erfahrung, dass es auf die Befriedigung bestimmter Triebregungen verzichten muss, um elterlichen Anforderungen, hinter denen sich meist gesellschaftliche Anforderungen verbergen, gerecht zu werden. Es leistet diese Verzichte um den Schutz und die Liebe der Eltern nicht zu verlieren, auf die es als Kind an gewiesen ist. Dafür muss es lernen, manche seiner Triebregungen und Wünsche zu opfern, um seine Selbsterhaltung, die von den Eltern abhängig ist, zu sichern. Das bedeutet für Fenichel, dass es eine „Psychologie des Opferns“ erlernen und akzeptieren muss. Er formuliert: „Wenn wegen erzieherischer Maßnahmen diese lebensnotwendige Zuwendung nur durch die Unterdrückung gewisser ursprünglicher Triebbedürfnisse erhalten werden kann, entsteht eine Situation, die der des Kindes ähnlich ist, das nach dem Feuer greift. Wieder entsteht ein Konflikt zwischen dem unmittelbaren Impuls und dem Interesse der Selbsterhaltung, das hier in dem Bedürfnis, geliebt zu werden. erscheint. Das Kind erwirbt die Fähigkeit, einige seiner Interessen zu opfern, um sich die notwenige Zuwendung zu sichern. Allgemein gesprochen, ist das die Psychologie des Opferns, nämlich ein geringeres Übel freiwillig zu akzeptieren, um ein größeres zu vermeiden“20 Das akzeptieren der „Psychologie der Opferns“ durch das Kind, auf die Fenichel hinweist kann nur dann gelingen und zugleich seine Entwicklung fördern, wenn das Opfern bestimme Bedingungen erfüllt. Es dürfen nicht zu große Opfer verlangt werden, die ein noch schwaches Ich oder ein noch unfertiges Über-Ich des Kindes überfordern. Es dürfen aber auch nicht zu wenig Opfer verlangt werden, es darf nicht zu viel verwöhnt werden, damit das Kind dadurch nicht an bestimmte Entwicklungsphasen fixiert bleibt. Seine Opfer sollten beim Kind einen erfahrbaren Zugewinn an Fähigkeiten und Möglichkeiten mit sich bringen. Sie sollten entgolten werden, durch elterliche Liebe oder Befriedigungserfahrungen an anderer Stelle 17 Ebd., S. 114f 18 Ebd., S. 116 19 Otto Fenichel: Über Erziehungsmethoden. In: Der psychoanalytische Beitrag zur Erziehungswissenschaft. Darmstatt 1974, S.139 -153 20 Ebd. S.143 6 oder zu späteren Zeiten. Triebversagungen sind eher zu ertragen, wenn Sublimierungen die Verwandlung von Triebregungen hin zu neuen, sozial eher akzeptierten Befriedigungsformen erlauben. Wenn notwendige Opfer mit Hilfe der Erzieher symbolisierbar sind, also der sprachlichen Bearbeitung zugänglich gemacht werden, vermag das Kind, zumindest ab einem bestimmten Alter, ihre Sinnhaftigkeit zu erkennen und sie dann leichter auf sich zu nehmen, als wenn es nur einem blinden Zwang gehorchen muss. Die notwendigen Opfer, die vom Kind verlangt werden, dürfen diesem nicht bloß von außen aufoktroyiert werden, es muss auch die Möglichkeit haben, sie aktiv, entsprechend seinen Möglichkeiten mitzugestalten. Es muss.in anderen Worten, im Prozess des Opferns Spielräume vorfinden, in denen es Elemente seiner Individualität zur Geltung bringen kann Mit der Verinnerlichung des Opferns, bei dem, im positiven Falle, Verzichte gegen angemessene Belohnungen und neue Möglichkeiten getauscht werden, kommt es zugleich zur Verinnerlichung elementarer, mit Tauschregeln verbundenen Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Verinnerlichung des Opferns kann so ein mit Gerechtigkeitsvorstellungen verbundenes moralisches Vermögen stiften helfen, das die Realitätsbezüge mitbestimmt. Aus einem Misslingen von Opferprozessen kann hingegen der Drang resultieren, das Über-Ich gewissermaßen wieder aus der Psyche auszustoßen, was gewissenlosen Hass oder antisoziale Einstellungen zu Folge haben kann. Es kann dadurch auch zu einem Über-Ich kommen, das ein schwaches Ich grausam misshandelt und so Selbstzerstörung verbunden mit Depression oder Masochismus hervorbringt. Das Kind leistet die ihm während seiner Erziehung auferlegten Verzichte nicht zuletzt aus Liebe zu seinen Eltern, und zugleich auch, um ihre Liebe und ihren Schutz zu erhalten. Vor allem die Liebe zu den Eltern, beziehungsweise die Angst davor, sie zu verlieren, verleihen die Kraft zum Verzicht auf von ihnen verbotene Formen des Begehrens. Sie erlauben es, elterliche Gebote einzuhalten und zu verinnerlichen. Im späteren Leben zu erbringende Opfer, die die Gesellschaft auferlegt, können aber auf Dauer keineswegs nur den im Über-Ich verinnerlichten elterlichen Objekten zuliebe erbracht werden. Sie können normalerweise als notwendige von erwachsen Gewordenen nur akzeptiert werden, wenn sie auch materiellen Gewinn, soziale Sicherheit und Anerkennung als Ausgleich versprechen. Verzichte, die als tugendhafte Geltung erlangen sollen, verlangen zumeist angemessene soziale Entschädigungen. Freud bemerkt gegen Gläubige, die auf solche Entschädigungen im Jenseits setzen: „Ich meine, solange sich die Tugend nicht schon auf Erden lohnt, wird die Ethik vergeblich predigen. Es scheint mir unzweifelhaft, dass eine reale Veränderung in den Beziehungen der Menschen zum Besitz hier mehr Abhilfe bringen wird als jedes ethische Gebot.“21 Nicht zuletzt sollte für akzeptierbare soziale Verhältnisse die Verteilung sozialer Opfer als gerecht erfahren werden können, wobei allerdings Gerechtigkeit in verschiedenen sozialen Gruppen oder bei verschiedenen Einzelnen etwas Unterschiedliches bedeuten kann. Freud hat zu wenig thematisiert, dass bei den Opfern, die die Kultur verlangt, unterschieden werden kann zwischen notwendigen Opfern, die auch eine vernünftig organisierte Gesellschaft verlangen würde, und zusätzlichen Opfern, die nur der Aufrechterhaltung von irrationalen Herrschafts- und Produktionsverhältnissen und den mit ihnen verbundenen ungerechtfertigten Privilegien dienen.22 Aber er formuliert immerhin: „Es wird entscheidend, ob und inwieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig bleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen.“23 21 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 503 22 Siehe hierzu Herbert Marcuse: Triebsstruktur und Gesellschaft. Frankfurt/ Main 1965 23 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion. GW XIV, S. 328 7 Zur Entfesselung der Opferlogik im Nationalsozialismus Wo Menschen sich als Opfer von Verhältnissen erfahren, die sie durch erzwungene Verzichtleistungen überfordern, geraten ihre verinnerlichten Gerechtigkeitsvorstellungen in Konflikt mit sozialen Realitäten. Das kann zum Kampf um gerechtere Ordnungen führen, es kann aber auch zur Entgleisung der herrschenden Opferlogik führen, die die Verfolgung von Minderheiten und blinde zerstörerische Gewalt zur Konsequenz hat. Die Opfer einer außer Kontrolle geratenden Opferlogik produzieren dann Opfer. Der historische Prozess der Zivilisierung, der vom realen religiösen Menschenopfer früherer Epochen zur sublimierten Verinnerlichung des Opfers in der Psyche führte, wird wieder umgekehrt. Das Scheitern der zu verinnerlichenden Opferlogik verwandelt Mitmenschen in Opfer blinder Gewalt. Der nationalsozialistische Vernichtungsantisemitismus kann als Beispiel einer solchen Entgleisung der Opferlogik interpretiert werden.24 Als wesentliche historische Ursachen des deutschen Nationalsozialismus lassen sich eine bestimmte Art der Verarbeitung der Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts und die Erfahrung der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg ausmachen. Kann die Arbeitskraft in der wirtschaftlichen Krise nicht mehr verkauft werden oder wird Arbeit, die in den Erwerb und den Erhalt von Vermögen einging durch dessen Vernichtung entwertet, erscheinen die mit Opfern verbundenen Disziplinierungsleistungen, die man sich auferlegen musste, um arbeiten zu können, leicht als sinnlos. Schon die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und den Verlust einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz stellt die Opferlogik in Frage, auf der die Arbeitsgesellschaft basiert. Die mühsam erworbene Bereitschaft, sich auferlegten Arbeitsleistungen zu unterwerfen, findet bei Arbeitslosen und ruinierten Selbständigen keine Entschädigung mehr, die sie rechtfertigt. Die Arbeit erscheint nicht mehr als Mittel, um Wohlstand, wirtschaftliche Unabhängigkeit oder Gestaltungsmöglichkeiten in der Freizeit zu erlangen. Das erzeugt bei den Enttäuschten Wut, die einen Ausdruck sucht. Es erzeugt neidvollen Hass auf die, die Aufgrund von Privilegien nicht zu „ordentlicher“ Arbeit gezwungen zu sein scheinen, denen die mit ihr verbundene und nun sinnlos gewordene Plackerei erspart blieb oder bleibt. Besonders die Juden, die als diejenigen gelten, die sich als Händler, Spekulanten oder Geldverleiher immer vor „anständiger Arbeit“ gedrückt haben, bekommen die Wut darüber zu spüren, dass die Arbeit ihre bisherige Bedeutung für die Schaffung einer Existenzgrundlage und die Stiftung von Lebenssinn verliert oder zu verlieren droht. Die Arbeit kann dadurch, anstatt etwas Nützliches herzustellen, zu einem Mittel der Zerstörung und der zynischen Verachtung werden. „Vernichtung durch Arbeit“ wird nicht zuletzt deshalb im Konzentrationslager an Juden exekutiert. Die Wut auf sinnlos gewordenes Arbeitsleid geht in die Peinigung derjenigen ein, die im Konzentrationslager mit Hilfe von Arbeit gemartert werden. In Schillers „Glocke“ heißt es: „Die Arbeit ist des Bürgers Zier“ Einem bürgerlichen Ideal entsprechend, das auch von der sozialistischen Arbeiterbewegung geteilt wurde, soll Arbeit mehr Wohlstand schaffen und die Welt im Interesse menschlicher Möglichkeiten so verändern, dass mehr Freiheit entsteht. Die umfassende Krise der Arbeitsgesellschaft lässt dieses Ideal für Viele scheitern und die mit ihm verbundenen Opfer an Arbeitsleid als sinnlos erscheinen. Mit der Parole „Arbeit macht frei“, die die Nationalsozialisten an den Toren von Konzentrationslagern anbringen ließen, wird dieses Scheitern mit grausamer Ironie ratifiziert. 24 Was im Folgenden nur angedeutet werden kann, wird ausführlich dargestellt in Gerhard Vinnai: Hitler - Scheitern und Vernichtungswut. Zur Genese des faschistischen Täters. Gießen 2004 8 Der Nationalsozialismus ist nicht allein als Konsequenz der umfassenden Krise des Kapitalismus, in ihm kommt auch eine Misere der deutschen Geschichte zum Ausdruck, die in den Ersten Weltkrieg mündete. Die ökonomische Krise verband sich in Deutschland mit der Erfahrung der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Viele Deutsche, die in diesen Krieg zogen, sahen ihn zu seinem Beginn, ähnlich wie Thomas Mann, als „großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg“25. Es galt ihnen als Pflicht, in diesem Krieg, der ihnen, entsprechend der Kriegspropaganda, als von Deutschlands Feinden aufgezwungener Verteidigungskrieg erschien, treu zu ihrer Nation zu stehen und dafür unter Umständen auch bereit zu sein, das eigene Leben zu opfern. Der Krieg galt vielen als „heiliger deutscher Krieg“, der Menschenopfer rechtfertigte; führende protestantische Theologen propagierten für ihn den „Jesupatriotismus“, in Gestalt der Bereitschaft, in der Nachfolge Jesu das Leben auf dem Schlachtfeld zu opfern. Man erwartete einen kurzen, nicht allzu verlustreichen Krieg, mit einem ruhmreichen deutschen Triumph an seinem Ende. Die Realität des Ersten Weltkrieges war mit solchen Vorstellungen nicht in Einklang zu bringen. Mit diesem ersten industrialisierten Massenkrieg der Geschichte erlitt die Logik des zivilisierenden Opfers Schiffbruch, zum ersten Mal in der Geschichte wurden in ihm, mit Hilfe des Einsatzes modernster technischer Vernichtungsmittel, Millionen Menschen sinnlos geopfert. Dieser Krieg wurde zur „Urkatastrophe“ des Zwanzigsten Jahrhunderts, die die bisherigen Grenzen der Opferlogik sprengte. Der Erste Weltkrieg hat das Leben oder die körperliche und seelische Gesundheit von Vielen zerstört. Er hat Lebensperspektiven ruiniert, Träume zerschellen lassen und Ideale ausgelöscht. Die deutsche Weltkriegsniederlage machte es den Deutschen besonders schwer, solchen im Krieg erbrachten Opfern einen Sinn zu verleihen, der ihre Verarbeitung erleichtert. Die Sieger hatten es da einfacher, sie konnten sich durch einen narzisstischen Triumph über den Gegner entschädigt fühlen. Die nationalistische deutsche Rechte vermochte die Erfahrung der Sinnlosigkeit der Opfer dieses Krieges nicht zu ertragen. Die Schuld der Mächtigen, die das deutsche Volk in diesen Krieg getrieben hatten, wurde geleugnet, ebenso wie die eigene Schuld, die darin bestand, ihnen bereitwillig gefolgt zu sein und sich an den Gräueltaten des Krieges beteiligt zu haben. Diese abgewehrte Schuld wurde den Juden zugeschoben, die angeblich die Zerstörung Deutschlands im Sinn hatten und noch immer haben. Hitler schreibt in „Mein Kampf“: „So ist der Jude heute der große Hetzer zur restlosen Zerstörung Deutschlands. Wo immer wir in der Welt Angriffe gegen Deutschland lesen, sind die Juden ihre Fabrikanten, gleichwie ja auch im Frieden und während des Krieges die jüdische Börsen und Marxistenpresse den Hass gegen Deutschland planmäßig schürte, solange, bis Staat um Staat die Neutralität aufgab und unter Verzicht auf die wahren Interessen der Völker in den Dienst der Weltkriegskoalition eintrat“26. Die Juden sollen diesen Krieg angeblich verursacht haben und zugleich als „Judensozis“27 den verräterischen „Dolchstoß“ organisiert, der zu Deutschlands Niederlage führte. Deshalb wurde der Zweite Weltkrieg von den Nationalsozialisten als „Rassenkrieg“ geführt, der zu Deutschlands Sieg und zugleich zur Zerstörung des Judentums führen sollte. 25 Brief an Heinrich Mann vom 8.9.1914. Zitiert nach Hanno Helbing, Vorwort zu: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt/M 1988, S. 11f 26 Hitler: Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, Hg: E .Jäckel, Stuttgart 1980 27 Hitler: Mein Kampf. 204.-208.Auflage, München 1936, S.702 9 Das gesellschaftliche Scheitern einer Opferlogik, das zum nationalsozialistischen Antisemitismus führt, kommt auch auf der psychologischen Ebene zum Ausdruck. Misslingende Triebopfer gehen in den von Hitler propagierten Antisemitismus ein. Die Zivilisierung des Menschen fordert das Opfer von Triebregungen, das bereits ab der frühen Kindheit erbracht werden muss. Wo dieses Opfer misslingt, weil es nicht durch Liebe und Anerkennung entgolten wird, können die abzuwehrenden Strebungen projektiv an Anderen identifiziert werden. Die Juden können so bei Antisemiten für die Triebregungen stehen, deren Opfer ihnen im Prozess der von der Kultur verlangten Zivilisierung misslang. Eine gelingende psychische Entwicklung verlangt orale Opfer, in Gestalt des Opfers kannibalistischer Strebungen. Für Hitler haben die Juden solche Opfer nicht erbracht. Sie sind für ihn Parasiten, die den Körper des Volkes aussaugen. Sie sind eine „Blutegelbande“, „Völkervampire“ und suchen „anfressbare Gegner“28. Auch die zu überwindende, unzivilisierte anale Lust am Kot, am Schmutz, am Gestank oder an der Zerstörung von auferlegten Ordnungen kann von Antisemiten an Juden identifiziert werden. Hitler schreibt in „Mein Kampf“ über Juden in Wien: „Überhaupt war die sittliche und sonstige Reinlichkeit dieses Volkes ein Punkt für sich. Dass es sich hier um keine Wasserliebhaber handelte, konnte man ja schon an ihrem Äußeren ansehen, leider sehr oft sogar mit geschlossenem Auge. Mir wurde beim Geruch dieser Kaftanträger manchmal übel. Dies alles konnte schon nicht sehr anziehend wirken, abgestoßen musste man aber werden, wenn man über die körperliche Unsauberkeit hinaus plötzlich die moralischen Schmutzflecken entdeckte. Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre?“29 Die ödipale Phase verlangt vom Kind den Verzicht auf die inzestuös ausgerichtete Sexualität und bestimmte als pervers geltende sexuelle Regungen. Für die Juden gilt hingegen Hitler zufolge, dass sie diese tabuisierten sexuellen Regungen ausleben. Sie haben „tausendjährige Inzucht“30 getrieben. Sie treiben „Rassenschande“, sie sind also auf verbotene „Blutsmischungen“ aus. Sie leben damit Triebregungen aus, die unbewusst inzestuöse Züge aufweisen.31 Für Antisemiten wie Hitler sind männliche Juden völlig hemmungslos, pervers und weibisch und setzen damit die überkommene „natürliche“ Geschlechterordnung außer Kraft. Sie repräsentieren also das, was den Geboten einer ödipal aufgerichteten Männlichkeit widerstrebt. Soziales Verhalten verlangt Opfer in Gestalt von Verzichtleistungen. Diese können letztlich nur akzeptiert werden, wenn für sie angemessene Entschädigungen gewährt werden, in Gestalt von materiellen Gratifikationen, von Anerkennung oder von Liebe. Menschenfreundliches Verhalten, das immer mit der Versagung antisozialer Triebregungen verknüpft ist, muss sich auf irgendeine Art lohnen. Das verlangt gesellschaftliche Ordnungen, die als gerecht erfahren werden können. Wo das nicht der Fall ist, ist ihre Stabilität bedroht. Sigmund Freud schrieb 1927, kurz vor der Ära des Nationalsozialismus: „Bei den Einschränkungen, die sich nur auf bestimmte Klassen der Gesellschaft beziehen, trifft man auf grobe und auch niemals verkannte Verhältnisse. Es steht zu erwarten, dass diese zurückgesetzten Klassen den Bevorzugten ihre Vorrechte beneiden und alles tun werden, um ihr eigenes Mehr von Entbehrungen los zu werden. Wo dies nicht möglich ist, wird sich ein dauerndes Maß an Unzufriedenheit innerhalb dieser Kultur behaupten, das zu gefährlichen Auflehnungen führen mag. Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, dass 28 Siehe hierzu Vinnai a.a.O., S. 270 29 Adolf Hitler: Mein Kampf. München 1936, S. 61 30 Ebd., S. 89 31 Siehe Hierzu Vinnai: Inzest und Rassentheorie. Hitler a.a.O., S. 173ff 10 die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, dass diese Unterdrückten eine intensive Feindlichkeit gegenüber der Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber zu geringen Anteil haben. Eine Verinnerlichung der Kulturverbote darf man bei den Unterdrückten nicht erwarten, dieselben sind vielmehr nicht bereit, diese Verbote anzuerkennen, bestrebt die Kultur selbst zu zerstören, eventuell selbst ihre Voraussetzungen aufzuheben (sic! G.V.) Die Kulturfeindlichkeit dieser Klassen ist so offenkundig, dass man über sie die eher latente Feindseligkeit der besser beteilten Gesellschaftsschichten übersehen hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine Kultur, welche eine so große Anzahl von Teilnehmern so unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“32 Freuds Feststellung vernachlässigt auf problematische Art, dass sich Angehörige der unteren Klassen im Rahmen der Arbeiterbewegung gegen die soziale Barbarei gewehrt haben. Trotzdem hat sie ihre Aktualität nicht verloren. Die Krise einer als ungerecht erfahrbaren Ordnung kann dazu führen, dass sie auf verschiedene Art abgelehnt wird. Man kann sie bekämpften, um sie durch eine bessere, gerechtere Ordnung zu ersetzen. Sie kann es aber auch mit sich bringen, wie der Nationalsozialismus oder der gegenwärtige fundamentalistische Terrorismus zeigen, dass den bestehenden Verhältnissen auf andere, fatale Art der Krieg erklärt wird, die sinnlose Opfer produziert anstatt sie überflüssig zu machen. 32 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion GW XIV, S. 333 11
© Copyright 2024 ExpyDoc