Vorlesung Lexikologie, FS 2006/7 (Pethő Gergely) Thema 2: Zur Definition des Wortes 1. Abgrenzung des Wortes auf der syntagmatischen Ebene Was ist ein Wort? (1) Peter lernt morgen seinen künftigen Schwiegervater kennen. Mögliche Wortdefinition anhand eines orthographischen Kriteriums: Def. 1.: Ein orthographisches Wort ist eine Folge von Buchstaben, die von Leerzeichen umgeben ist, aber selbst kein Leerzeichen enthält. Satz (1) enthält 7 orthographische Wörter: Peter, lernt, morgen, seinen, künftigen, Schwiegervater, und kennen. Probleme mit der orthographischen Wortdefinition: (a) Sie trifft nur auf die geschriebene, nicht aber auf die gesprochene Sprache zu: keine Schriftlichkeit ⇒ keine Wörter. (b) Orthographie ist eine willkürliche Konvention. Früher Schreibung kennenlernen, mit Hilfe, heute kennen lernen, mithilfe (geändert durch die Rechtschreibreform 1996). Man kann allerdings davon ausgehen, dass sich der Status dieser Verbindungen im Sprachsystem nicht parallel zur Orthographiereform geändert hat. Die Rechtschreibung spiegelt also den Status einer Einheit im Sprachsystem nicht notwendigerweise richtig wider. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, das Wort nicht orthographisch, sondern phonologisch zu definieren: Def. 2.: Ein phonologisches Wort ist eine Sequenz von Lauten, deren linker und rechter Rand von phonologischen Grenzsignalen (insbesondere Sprechpausen, Wortakzent) angezeigt wird. Mithilfe der orthographischen bzw. phonologischen Wortdefinition lässt sich die Rede auf der syntagmatischen Ebene in Segmente aufteilen, die unserem intuitiven Wortbegriff mehr oder weniger genau entsprechen. 2. Wortbegriffe auf verschiedenen Abstraktionsstufen Schritt 1: Wortvorkommen und morphologisches Wort (2) Petra hat einen Hund und Susanne hat eine Katze. Die unterstrichenen Wörter sind zwei Wortvorkommen. Sie sind allerdings gleich geschrieben und werden gleich ausgesprochen, besitzen dieselben grammatischen Eigenschaften und bedeuten dasselbe. Sie sind Realisierungen von einem gemeinsamen morphologischen Wort hat. 1 Def. 3.: Ein Wortvorkommen ist ein ganz konkretes phonologisches oder orthographisches Wort, das in einem Satz an einer bestimmten Stelle niedergeschrieben steht oder in einer bestimmten Sprechsituation, in einem bestimmten sprachlichen Kontext in einer Äußerung durch eine Sprecherin oder einen Sprecher ausgesprochen wird. Def. 4.: Ein morphologisches Wort (siehe Einf. in die Sprwiss.: flexivisches Wort) ist eine Abstraktion über Wortvorkommen, die wir erhalten, indem wir von dem konkreten Vorkommen eines phonologischen oder orthographischen Wortes in einem bestimmten Kontext absehen, aber nicht von seinen weiteren Eigenschaften (grammatische Eigenschaften, Form, Bedeutung). Beispiel: das morphologische Wort hat - grammatische Eigenschaften: finites Verb, steht in Hauptsätzen an zweiter Stelle, 3. Sg. Präsens Aktiv Indikativ - Form: Schreibung hat (3 Grapheme), Aussprache [hat] (3 Laute) - Bedeutung: Zusammengehören, Besitz Schritt 2: Wortform (3) Wir haben einen Hund und sie haben eine Katze. Zwei Wortvorkommen, zwei verschiedene morphologische Wörter (sie verfügen über verschiedene grammatische Eigenschaften: 1. bzw. 3. Person Pl.). Aber: sie werden gleich geschrieben, deshalb sind sie Vorkommen von einer gemeinsamen Wortform. Def. 5.: Eine Wortform ist eine Abstraktion über phonologische oder orthographische Wörter, bei denen wir von dem Vorkommen in einem bestimmten Kontext und allen sonstigen Eigenschaften absehen, außer der Form. Schritt 3: Lexem In welchem Sinne besteht das Lexikon aus Wörtern? Keine der bisherigen Definitionen löst dieses Problem: Die Lexikoneinträge charakterisieren (direkt) weder Wortvorkommen, noch einzelne morphologische Wörter, noch Wortformen. (4) Wir haben einen Hund und Petra hat eine Katze Zwei Wortvorkommen (haben, hat). Diese sind auch zwei verschiedene morphologische Wörter und zwei Wortformen. Sie sind allerdings demselben Element des deutschen Wortschatzes zugeordnet, nämlich dem Lexem haben. 2 Def. 6.: Ein Lexem ist ein Element des Lexikons. Es ist eine Abstraktion über morphologische Wörter, bei denen wir nicht nur von dem Vorkommen in einem bestimmten Kontext absehen, sondern auch von den spezifischen grammatischen Kategorien, die von den morphologischen Wörtern ausgedrückt werden, und auch von ihrer spezifischen Form. Eine Gruppe von morphologischen Wörtern wird einem gemeinsamen Lexem zugeordnet, wenn: - ihre Bedeutung gleich ist (abgesehen von ihrer grammatisch-syntaktischen Funktion), und - wenn Unterschiede in ihrer Form und Funktion systematisch sind, so dass sie insgesamt ein zusammenhängendes System von morphologischen Wörtern (d.h. ein Flexionsparadigma) bilden. Das Lexikon ist eine Menge von Lexikoneinträgen, die jeweils die Eigenschaften von einzelnen Lexemen angeben. Zu jedem flektierbaren Lexem gehört ein Flexionsparadigma, d.h. das System der Formen, in denen das Lexem verwendet werden kann, mitsamt der Charakterisierung der Formen nach ihren grammatischen Kategorien. Die Bildung der Formen eines Lexems, d.h. die Bildung der morphologischen Wörter, die das Lexem realisieren, nennt man Flexion (2 Subklassen: Konjugation, Deklination). Mehrwortlexeme bilden eine besondere Gruppe von Lexemen. Sie sind Einheiten des Wortschatzes, die aus mehreren Wörtern bestehen, insbesondere Idiome, aber auch Komplexe wie mithilfe oder kennen lernen. Wenn wir von einem Lexem sprechen, tun wir das in der Regel, indem wir seine so genannte Nennform (Wörterbuchform) benutzen, z.B. haben, springen, blau, Hund. Diese Nennform darf nicht mit dem Lexem identifiziert oder verwechselt werden, sie dient lediglich dazu, auf das Lexem zu verweisen. 3
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