SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Vorurteile
Schubladen im Kopf
Von Ingeborg Breuer
Sendung: Mittwoch, 21. Dezember 2016, 08.30 Uhr
Redaktion: Sonja Striegl
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
O-Ton 1 - Collage:
(Instrumental-Intro Fatoni unterlegt: „Ich habe keine Vorurteile“)
- Ich hab jetzt nen Türken geheiratet. Und vorher, wenn ich irgendwo angerufen
habe, wurde man netter begrüßt. Und wenn die jetzt „Ergün“ hören - man wird
unfreundlicher behandelt.
- Man sagt ja, Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose. // Ungezogen stell ich mir
so nen Kevin vor. // Asi-Kind!
- Zuerst haben Sie mich als Drecksausländer bezeichnet und als Scheißkanake, was
soll ich da sagen.
Musik Fatoni („Ich habe keine Vorurteile“):
Was das sind nur Vorurteile?
Ich habe keine Vorurteile.
Nur Araber haben Vorurteile.
O-Ton 2 - Juliane Degner:
Ich bezeichne Vorurteile und Stereotype gern als normal. Wir haben sie in der Tat
und wir benötigen sie, weil wir als Menschen ein kleines Gehirn haben, das effektiv
arbeiten muss.
Ansage:
„Vorurteile - Schubladen im Kopf“. Eine Sendung von Ingeborg Breuer.
O-Ton 3 - Collage (Umfrage):
Haben Sie Vorurteile? Nein! // Haben Sie Vorurteile? Gegen wen oder gegen was?
Egal! Nein, glaub ich eigentlich nicht. … // Ich will sie nicht haben, aber ich hab sie.
Also schon, wenn ein Mensch, es reicht schon die Kleidung, wenn jemand mit nem
Anzug und Krawatte kommt, dann glaubt man, der sei seriös.
Sprecherin:
Die meisten Menschen, die uns jeden Tag begegnen, sind uns unbekannt. Trotzdem
fällen wir in Sekundenbruchteilen ein Urteil über sie. - Ein Vor-Urteil.
O-Ton 4 - Juliane Degner:
Um effektiv Informationen zu bearbeiten, die uns entgegen kommen im sozialen
Miteinander, müssen wir vereinfachen. Wir machen das, indem wir Menschen in
gewisse Gruppen einordnen und das Wissen abrufen, was wir über die Gruppen
haben.
Sprecherin:
Juliane Degner ist Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hamburg.
Vorurteilsforschung gehört zu ihren wissenschaftlichen Schwerpunkten. Sie weiß:
Jeder Mensch hat Vorurteile. Schublade auf, Meinung rein, Schublade zu. Denn
Vorurteile erleichtern die Denkarbeit.
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O-Ton 5 - Hans-Peter Erb:
Der Grundmechanismus dahinter ist ein einfacher, nämlich das Kategorisieren.
Sprecherin:
Wir kategorisieren nämlich fortwährend, bestätigt Prof. Hans-Peter Erb,
Sozialpychologe wie Juliane Degner an der Helmut-Schmidt-Universität, ebenfalls in
Hamburg:
O-Ton 6 - Hans-Peter Erb:
Wir kategorisieren den ganzen Tag alles Mögliche, bilden uns ein Urteil über ein
Objekt, das vier Füße hat und eine Sitzfläche und kategorisieren das als Stuhl. Das
gleiche machen wir mit Menschen. Und zwar auf der Grundlage von Merkmalen, die
wir schnell erkennen können.
Sprecherin:
Frauen - können nicht einparken! Professoren - sind verschusselt! Russen - saufen
Wodka. AfD-Wähler - sind Rassisten! Banker - sind gierig!
O-Ton 7 - Hans-Peter Erb:
Ich kann nicht den ganzen Tag, über jeden Menschen, der mir entgegenkommt, ein
differenziertes Urteil abgeben, ne Diagnostik erstellen. Deswegen laufen wir durch
die Welt mit diesem Autopilot und dieser Autopilot hat natürlich die Stereotype als
Mechanismus, um kognitiven Aufwand zu sparen.
Sprecherin:
Am Anfang steht das Stereotyp! Man fasst Menschen in Gruppen zusammen.
Streicht heraus, was man für typisch hält. Bezieht man ein solches Stereotyp dann
auf eine einzelne Person, packt diese also - ohne sie genauer zu kennen - in die
Schublade „das ist ein Italiener, also ist er ein eitler Gockel“, dann wird aus dem
Stereotyp - ein Vorurteil. Ebenso, wenn eine - noch neutrale - Verallgemeinerung zu
einer Wertung wird. Beispiel: „Alle Italiener essen Pasta“ wird zu „Italiener sind
Spaghetti-Fresser“. Anders als das Stereotyp ist ein Vorurteil von oft negativen
Emotionen begleitet. Es drückt Abwehr, Angst oder Verachtung aus.
O-Ton 8 - Hans-Peter Erb:
Da kommt einer, hat eine bestimmte Hautfarbe, bringt eine bestimmte Nationalität
mit, ein Kategorisierungsmerkmal, was die andere Person sofort erkennen kann. Und
dann wird das Vorurteil aufgerufen. Und das Vorurteil bezieht sich auf die einzelne
Person. Und ich muss sagen, ja der ist bestimmt nicht pünktlich, weil der nicht
Deutscher ist.
Sprecherin:
Schon Babys haben die Fähigkeit zwischen der eigenen und der fremden Gruppe zu
unterscheiden. Sie lächeln Menschen an, die ihnen vertraut sind und betrachten sie
wesentlich länger. Doch erst ab etwa drei Jahren bilden sich im Gehirn Strukturen,
die es ermöglichen, die Umwelt nach Kategorien zu ordnen, erklärt Prof. Andreas
Beelmann, Psychologe an der Universität Jena.
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O-Ton 9 - Andreas Beelmann:
Erst dann haben sie eine Vorstellung davon, was diese sozialen Kategorien wie
Ausländer oder Flüchtling überhaupt bedeuten. Das ist ja das Wesen von
Vorurteilen, dass sich Personen auf Basis ihrer sozialen Gruppenmitgliedschaft
einordnen. Und dafür muss ich ja erst mal einen Begriff davon haben, welche
Gruppen es überhaupt gibt.
Atmo: Kindergartenlärm unterlegen
Sprecherin:
In der Kita erfahren viele Kinder zum ersten Mal, wie unterschiedlich Menschen sind
und aus welch verschiedenen sozialen Lebenslagen sie kommen. Sie beginnen, die
anderen Kinder nach Merkmalen zu unterscheiden. Sie sortieren ihre Spielgefährten
nach Haarfarbe, Hautfarbe oder Geschlecht. Das ist durchaus wichtig. Denn indem
die Kinder sich und andere in Gruppen einteilen, bilden sie ihre eigene Identität aus.
O-Ton 10 - Kindergartenkinder:
Mädchen dürfen nicht mitspringen. Und sie wollen auch gar nicht mitspringen.
O-Ton 11 - Andreas Beelmann:
Meistens fängt es mit Geschlecht an, also die Aufteilung von Jungen und Mädchen
gelingt den Kindern als erstes.
Sprecherin:
Mädchen können nicht so gut Fußballspielen und von Autos haben sie keine
Ahnung. Dafür stehen sie oft vor dem Spiegel und drehen sich hin und her. Frühe
Stereotypen, die dazu dienen, die soziale Umwelt übersichtlicher zu gestalten. Und
durchaus auch zu bewerten. Schon Kinder unterscheiden zwischen der eigenen
Gruppe und den anderen, die nicht dazu gehören.
O-Ton 12 - Andreas Beelmann:
Dann können wir feststellen, dass die soziale Eigengruppe, ich bin Deutscher, ich bin
Junge, ein Stück weit besser beurteilt wird als die soziale Fremdgruppe, der ich nicht
angehöre.
O-Ton 13 - Hans-Peter Erb:
Aus der Biologie weiß man, dass gerade dann, wenn Spezies konkurrieren um
Ressourcen, dass es da eine bestimmte Fremdenfeindlichkeit gibt. Also die
Nagetiere sind einander nicht wohlgesonnen. Aber ein anderes Tier, das in der
gleichen Umgebung lebt, aber etwas anderes frisst, das wird ignoriert.
Sprecherin:
Vermutlich machte es evolutionsgeschichtlich Sinn, die Welt in „Die da“ und „Wir“
einzuteilen und mit der eigenen Gruppe zu sympathisieren. Die Unterscheidung
sicherte wahrscheinlich das Überleben der Gruppe. Und auch die Hirnforschung
bestätigt, dass der Mensch der eigenen Gruppe mehr vertraut als der fremden. Die
Neuropsychologin Joan Chiao zeigte an der Northwestern-University in Chicago
Versuchspersonen Fotos von Mitgliedern der eigenen Ethnie und Menschen anderer
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Ethnien. Bei den Fremden wird besonders jenes System im Gehirn stark aktiviert,
das mit Furcht und Flucht zusammenhängt: die Amygdala. Sieht man Menschen der
eigenen ethnischen Gruppe, fällt diese Reaktion weniger stark aus. Und mit
zunehmendem Alter werden die Raster, die dazu dienen, Menschen voneinander zu
unterscheiden, immer ausgeklügelter. Schon mit den kleinsten Informationen suchen
wir die passende Schublade für unser Gegenüber: Informatiker? Dann ist er wohl ein
blasser Nerd mit unmöglichem Pullover! Porschefahrer? Angeber mit
Potenzproblemen! Frau mit Kopftuch? Unterdrückt und unfrei!
O-Ton 14 - Türkin:
Ich bin Deutsche, bin innerlich deutsch, bin ganz deutsch. Nur dass ich Muslimin bin.
Und trotzdem wird man so angesehen.
Sprecherin:
Weil sie Muslimin ist, trägt diese junge Türkin, die ihren Namen nicht nennen möchte,
ein Kopftuch. Wegen dieses Kopftuchs wird sie ausgegrenzt, vermutet sie. Die
Vorurteile der Deutschen seien der Grund, warum sie berufliche Probleme hat:
O-Ton 15 - Türkin:
Es ist für mich jetzt schwer, ne Arbeit zu finden. Ich bin Bürokauffrau und da hab ich
keine Chance eine Arbeit zu finden. Vielleicht krieg ich noch mal nen Putzjob, wenn
ich Glück hab.
Sprecherin:
Vielleicht hat die junge Muslima ja selbst ein Vorurteil, nämlich - kein Deutscher
würde einer Frau mit Kopftuch eine berufliche Chance geben! Vielleicht bekommt sie
sehr wohl einen Job! Und vielleicht findet ihr Chef dann, dass sie doch eine nette,
weltoffene Frau ist. Das allerdings bedeutet noch lange nicht, dass der Chef seine
Vorurteile gegenüber allen Muslimas abgelegt hat.
O-Ton 16 - Hans-Peter Erb:
Es gibt ein Phänomen, das wir Subtyping nennen. Also man kann seine Vorurteile
aufrechterhalten, selbst wenn man einzelne Personen trifft, die dem Vorurteil nicht
entsprechen.
Sprecherin:
Denn dann gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel, so Hans-Peter Erb:
O-Ton 17 - Hans-Peter Erb:
Also ich bin jetzt Mitarbeiter von VW in Wolfsburg und da gibt’s die türkischen
Mitarbeiter und irgendwie sind die alle ein bisschen komisch. Aber mein Kumpel Ali,
mit dem ich die Kupplung jeden Tag einbaue, der ist ein Supertyp. Und dann kommt
es zu dem Phänomen, dass wir einzelne Exemplare, die dem Vorurteil nicht
entsprechen, herausnehmen aus der Gruppe und ne Extrakategorie aufmachen.
Sprecherin:
Zudem wirkt ein Vorurteil wie ein Filter, der die eigene Wahrnehmung beeinflusst.
Informationen, die in das eigene Schema passen, schenkt man mehr
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Aufmerksamkeit. Und das erst recht, wenn sie negativ sind. Aha, schon wieder ein
krimineller Ausländer! Zu diesem Ergebnis kamen Untersuchungen des Oxforder
Experimentalpsychologen Robin Murphy. Er stellte fest, dass das Gehirn negative
Informationen über eine Gruppe bevorzugt sammelt, während es positive Aussagen
eher vernachlässigt. Oder sie werden als Abweichung bewertet: Dieser Ausländer
hat mir das Portemonnaie nachgetragen, das ich in der Bäckerei hatte liegen lassen ah, eine Ausnahme!
O-Ton 18 - Umfrage:
Sie haben wirklich überhaupt keine Vorurteile? Ja also, mir fallen jetzt keine ein.
Sprecherin:
Fragt man Menschen direkt, ob sie etwas gegen Einwanderer, Homosexuelle oder
andere soziale Gruppen haben, antworten viele das sozial Erwünschte. Natürlich
habe ich nichts gegen Ausländer! Doch der sogenannte „implizite Assoziationstest“,
entwickelt von dem amerikanischen Sozialpsychologen Anthony Greenwald, legt
offen, dass die meisten Menschen mehr Vorurteile haben, als sie selber zugeben.
Bei dem Test sehen Probanden am Computer eine schnelle Folge von positiven und
negativen Begriffen. Begriffe wie „spaßig“ oder „eklig“ oder „schlecht“ oder
„zuverlässig“. Diesen Begriffen müssen sie per Mausklick dann Kategorien wie
„Weiße“ oder „Schwarze“, „Dicke“ oder „Dünne“, „Männer“ oder „Frauen“ zuordnen.
Das Gehirn, so die These, verarbeitet jene Wortpaare schneller, die ihm passend
erscheinen. Und so klicken 55 % der Probanden z. B. schneller auf die Verbindung
„Frau“ und „Familie“ als auf „Frau“ und „Karriere“. Und sogar 62 % schneller auf
„dick“ und „träge“ als auf „dick“ und „aktiv“.
Musik Fatoni („Ich habe keine Vorurteile“): Musikzäsur Fatoni, s.o.
Sprecherin:
Vorurteile sind also menschlich. Doch welche Vorurteile man hat und wie stark sie
sind, ist abhängig vom Elternhaus, vom sozialen Umfeld, von eigenen Erfahrungen
und von der Gesellschaft, in der man lebt.
O-Ton 19 - Hans-Peter Erb:
Sie haben eine hohe Übereinstimmung zwischen den Vorurteilen, die Eltern haben
und denen, die die Kinder haben. Das spricht dafür, dass das gelernt wird. Wenn der
Papa mit der Bierflasche vorm Fernseher über die Hartz-4-Empfänger schimpft oder
die Frauen schimpft oder die Flüchtlinge, dann kriegen die Kinder das mit.
Sprecherin:
Aber das Vorurteil prägt auch die Gruppe, die es betrifft. Ist es nur stark genug,
übernimmt sie das Stigma, das ihr angehängt wird.
O-Ton 20 - Video:
Which doll is the black doll? … And which on is the white one? That one!
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Sprecherin:
In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts testeten die US-Psychologen Kenneth und
Mamie Clark, ab welchem Alter Kinder Hautfarben bestimmte Eigenschaften
zuschreiben. Der Sender CNN strahlte im Jahr 2010 die frühen Tests aus. Im Film ist
zu sehen und zu hören, dass ein Interviewer Kinder im Vorschulalter auffordert, zu
unterscheiden: was ist die schwarze, was ist die weiße Puppe? Und dann sollen sie
sagen: welches ist die nette, die hübsche, die schlechte?
O-Ton 21 - Video:
Which doll is the pretty doll? Which doll is the nice doll? Which doll is the bad doll?
Sprecherin:
Zwar identifizierten sich viele schwarze Kinder - anders als die weißen - mit den
schwarzen Puppen. Aber egal welche Hautfarbe die Kinder hatten, zum Spielen
wählten sie lieber die weiße Puppe. Denn die Kinder hatten die Ressentiments ihrer
Umgebung übernommen.
O-Ton 22 - Hans-Peter Erb:
Es gibt tatsächlich Untersuchungen, wo man Kindern sagt, irgendein beliebiges
Merkmal, Augenfarbe, eigentlich sind die Guten die Blauäugigen und die Bösen sind
die Braunäugigen und das ist jetzt so.
Sprecherin:
Hans-Peter Erb, Professor für Sozialpsychologie an der Bundeswehrhochschule in
Hamburg bezieht sich hier auf ein Experiment der amerikanischen
Grundschullehrerin Jane Elliot. Nach der Ermordung des schwarzen amerikanischen
Bürgerrechtlers Martin Luther King im Jahr 1968 wollte die Pädagogin ihren Schülern
demonstrieren, wie es sich anfühlt, einer herabgesetzten Gruppe von Menschen
anzugehören. Sie teilte ihre Schüler in zwei Gruppen ein, in die Gruppe mit braunen
Augen - das waren die Guten. Und die Gruppe der Blauäugigen, das waren die
Dummen.
O-Ton 23 - Hans-Peter Erb:
Dann führt die Lehrerin in der Klasse noch Privilegien ein, die dürfen früher in die
Pause oder müssen dann z. B. die Tafel nicht wischen. Dann übernehmen die Kinder
das auch.
Sprecherin:
In Abwandlungen führen sogenannte „Anti-Rassismus-Trainer“ das Experiment noch
heute durch, in Deutschland vor allem der Soziologe und „interkulturelle KonfliktManager“ Jürgen Schlicher. Bei seinen Workshops trennt Schlicher die Probanden,
die nicht genau wissen, was sie erwartet, in zwei Gruppen. Die Braunäugigen
empfängt er bereits am Einlass herzlich, die Blauäugigen erleben Schlicher dagegen
von seiner miesen Seite. Er verbreitet unverdrossen Ressentiments.
O-Ton 24 - Jürgen Schlicher:
Üblicherweise ist es so, dass bei Blauäugigen Sachen siebenmal gesagt werden
müssen, damit es funktioniert.
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Sprecherin:
… so bei einem Workshop in Frankfurt, den Jürgen Schlicher auf seiner Website im
Video zeigt. Und er stichelt weiter:
O-Ton 25 - Jürgen Schlicher:
Mike, hast du das Verhalten von den Blauäugigen mitbekommen? Z. B. trag deinen
Namen in die Liste ein. Hööö? Da kommt Hööö?! Ich hab das bei niemandem von
den Braunäugigen gehört, dass die fragen, wohin?
Sprecherin:
Schlicher spielt die Gruppen gegeneinander aus, lobt die einen, beschimpft die
anderen, rüpelt, schnauzt die Blauäugigen an. Das Ergebnis: die diskriminierten
Blauäugigen nehmen ihre Rolle an. Und die meisten braunäugigen Privilegierten
schreiten bei der Beschimpfung der Blauäugigen nicht ein.
O-Ton 26 - Blauäugige:
Wir standen die ganze Zeit unter Beobachtung und wir wurden auch die ganze Zeit
fertig gemacht und die Braunäugigen saßen da, und haben gar nichts gemacht. Aber
die hätten uns helfen können, die waren neutral und haben sich auch nicht getraut,
gegen Jürgen was zu sagen.
Sprecherin:
Ob seine Workshops allerdings veranschaulichen, wie unsere Gesellschaft mit
Flüchtlingen umgeht, wie Schlicher selbst meint, bleibt doch die Frage. Eher könnten
seine Experimente Studien über Gehirnwäsche in einem totalitären Staat sein.
Zudem: Die Verbreitung von Stammtischparolen wie „Kennst du einen Blauäugigen,
kennst du alle“, die er während seiner Workshops an die Wände postet, seine
Beschimpfung von Blauäugigen als Legastheniker, Asoziale oder Parasiten dürften in
der Realität durchaus rechtliche Konsequenzen haben. Der Rechtsstaat schützt die
Rechte von Minderheiten. Die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Rasse,
ihrer Religion oder ihres Aussehens ist unter Strafe gestellt. Und in den letzten
Jahrzehnten verschafften vormals unterdrückte Gruppen wie Frauen, Homosexuelle,
Behinderte, Schwarze ihren Rechten zunehmend Gehör. Mehr und mehr prägten
Normen der Toleranz, der Inklusion und des Antirassismus das Selbstverständnis der
westlichen Zivilgesellschaften. - Normen allerdings, die zunehmend unter Druck
geraten.
O-Ton 27 - Collage (Atmo):
Wir wollen keine Asylantenheime. - Ich fordere eine Obergrenze von minus 200.000
im Jahr. - Lügenpack - Volksverräter - Arschgeige - Fotze
Sprecherin:
Der Rechtspopulismus in Deutschland wendet sich gegen die liberale
Zivilgesellschaft mit ihrer Idee der politischen Korrektheit. Nach einer Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung, die erst vor wenigen Wochen, Ende November 2016,
vorgestellt wurde, ist die Zustimmung zu Vorurteilen in den letzten Jahren zwar
zurückgegangen. Aber bei einer sich festigenden und radikalisierenden Minderheit
sind feindselige Ressentiments deutlicher als früher zu vernehmen, Ressentiments
wie: „Das Establishment ist eine verschworene Kaste von Wirtschaft, Politik und
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Finanzwelt!“ „Journalisten sind Vertreter der Lügenpresse!“ „Migranten belästigen
unsere Frauen!“ Die Zivilgesellschaft kontert im Übrigen mit ähnlichen
Pauschalisierungen: „Pegida - Alles Rassisten!“ „AfD-Wähler - moralisch-kulturell
Minderbemittelte!“ „Trump-Anhänger - männlich, weiß und ungebildet!“ Fakt ist: was
früher nur hinter vorgehaltener Hand gesagt wurde, wird heute wieder offen
geäußert. Der Bielefelder Sozialpsychologe und Konfliktforscher Prof. Andreas Zick
diagnostiziert eine Zunahme von „vorurteilsbasierten Hasstaten“, wie er es nennt. Sie
sind die Grundlage einer „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“:
O-Ton 28 - Andreas Zick:
Gruppenbezogen nennen wir das, weil das Vorurteil die Beziehung einer Gruppe
gegenüber einer anderen Gruppe ausdrückt und Menschenfeindlichkeit, weil das
mehr als ein Gefühl, mehr als Gedanken sind, sondern es ist ein
Feindschaftsverhältnis. Ich benutze das Vorurteil, um eine tiefliegende Feindschaft
auszudrücken.
Sprecherin:
Das, was in jedem Menschen schlummert - die Bevorzugung der eigenen und das
Misstrauen gegenüber der fremden Gruppe - wird zunehmend vernehmbarer
öffentlich artikuliert. Ein Symptom für die Spaltung der Gesellschaft, den wachsenden
Teil derer, die sich benachteiligt oder abgehängt fühlen.
Mit steigendem Bildungsgrad, so die Untersuchungen von Andreas Zick, nehme
Fremdenfeindlichkeit ab.
O-Ton 29 - Andreas Zick:
Wir haben massiv in unseren Studien einen Bildungseffekt. Das heißt, Menschen, die
länger in der Schule verweilen, sind stärker geschützt. Dahinter steckt natürlich, dass
die Menschen, die länger in der Schule verweilen, eine größere Gelegenheit hatten,
demokratische Werte zu lernen.
Sprecherin:
Doch Bildung schützt nicht immer, warnt der Bielefelder Konfliktforscher:
O-Ton 30 - Andreas Zick:
In subtilen, versteckten Bereichen, beim modernen Antisemitismus, gibt es den
Bildungseffekt überhaupt nicht. Und bei muslim-, islamfeindlichen Bildern
verschwindet der Bildungseffekt auch.
Musik Fatoni („Ich habe keine Vorurteile“): Musikzäsur Fatoni, s.o.
Sprecherin:
Können die Medien, Politiker, Lehrer oder Sozialarbeiter überhaupt etwas tun, um
Vorurteile abzubauen, die sich einmal im Gehirn festgefressen haben? Zum Beispiel,
indem sie rational argumentieren? Auf Kriminalitätsstatistiken verweisen, um dem
Vorurteil zu begegnen, Ausländer seien krimineller als Deutsche? Die Hamburger
Sozialpsychologin Juliane Degner:
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O-Ton 31 - Juliane Degner:
Wenn wir Einstellungen haben, ändern wir die nicht so schnell. Wir brauchen relativ
viele Beweise und wir sind auch ganz gut darin, Gegenbeweise oder Verhalten, was
nichts mit unseren Stereotypen zu tun hat, so zu interpretieren, als würden sie die
unterstützen.
Sprecherin:
Der amerikanische Psychologe Gordon Allport war ein Pionier der
Vorurteilsforschung. Mit seinem 1954 veröffentlichten Buch „Die Natur des Vorurteils“
schuf er die Basis für die weitere Forschung, erläutert Andreas Beelmann,
Psychologe an der Universität Jena:
O-Ton 32 - Andreas Beelmann:
Der hat vorgeschlagen, über Kontakte Vorurteile zu reduzieren. Und seit dieser
Publikation sind Hunderte von Untersuchungen durchgeführt worden, um die Effekte
von intergruppalen Kontakten zu untersuchen. Und da ist eigentlich ein sehr
eindeutiges Ergebnis, dass über Kontakte Vorurteile reduziert werden können.
Sprecherin:
Vorurteile können durch gleichrangigen Kontakt zwischen Mehrheits- und
Minderheitsgruppen reduziert werden, wenn sie gemeinsame Ziele verfolgen, schrieb
Gordon Allport. - Und die Wirksamkeit werde verstärkt, wenn dieser Kontakt durch
institutionelle Unterstützung gefördert werde.
O-Ton 33 - Alaa Qurai:
I made three projects … …to cooperate environmental issues cross border.
Übersetzerin:
Ich habe an drei Projekten teilgenommen, in denen palästinensische, israelische und
jordanische Studenten gemeinsam an Umweltproblemen arbeiten sollten.
Sprecherin:
Zwar rückt ein friedliches Zusammenleben von Arabern und Juden in immer weitere
Ferne. Aber es gibt immer noch Initiativen und Projekte, in denen junge
Palästinenser und Israelis zusammengeführt werden, um Verständnis füreinander zu
entwickeln. Alaa Qurai, eine Palästinenserin aus Jerusalem hat an solchen Projekten
teilgenommen. Als die arabische Israelin an einer israelischen Universität
Umweltwissenschaften zu studieren begann, hatte sie zum ersten Mal Kontakt zu
jüdischen Israelis. Und stellte fest, dass man mit denen durchaus reden konnte.
O-Ton 34 - Alaa Qurai:
It was my first interaction with Israelis … and little by little we built trust to talk with
each other…
Übersetzerin:
Es war mein erster Kontakt zu Israelis, obwohl ich in Jerusalem aufgewachsen bin.
Es ist dieselbe Stadt, wir sehen sie, es ist derselbe Raum, es sind dieselben
Krankenhäuser, Postämter, Banken. Aber wir reden nicht miteinander. In der
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Universität gingen die Israelis vorsichtig mit mir um und ich mit ihnen. Aber allmählich
haben wir Vertrauen aufgebaut miteinander zu sprechen.
Sprecherin:
Alaa, die zurzeit ein Stipendium an der Technischen Hochschule in Köln hat, meldete
sich zu Projekten an, die sich mit der Wasserverschmutzung des Jordans
beschäftigten. Denn die betrifft grenzübergreifend alle dort Lebenden.
O-Ton 35 - Alaa Qurai:
If we are talking about water management about the Jordan river the Jordanians
have their own data … but they don’t share. … And if we want to work we have to
work together.
Übersetzerin:
Wenn wir über Wasserschutzmanagement für den Jordan sprechen, haben
Jordanier, Israelis und Palästinenser jeweils Informationen, die sie nicht mit den
anderen teilen. Jeder macht etwas für sich allein, um das Problem zu lösen. Und
wenn wir daran arbeiten wollen, müssen wir das zusammen tun.
Sprecherin:
Das Projekt erfüllte genau die Bedingungen des gleichberechtigten Miteinanders, die
Psychologen für erforderlich halten, damit Vorurteile abgebaut oder zumindest
verringert werden können.
O-Ton 36 - Alaa Qurai:
In this way you bring scientists, managers together to talk and solve it. … it was not
bad, I feel we can work together only if the government did something.
Übersetzerin:
So bringt man Wissenschaftler und Manager zusammen, die darüber reden und das
Problem lösen können. Und das hilft durchaus ein bisschen. Leute haben gesagt, ich
dachte, ich kann nicht mit Israelis reden oder mit Palästinensern, ich dachte, sie
lügen. Aber danach sagten sie, war gar nicht schlecht, ich glaube, wir könnten
zusammenarbeiten, wenn nur die Regierung handeln würde.
Sprecherin:
Alaa bleibt durchaus realistisch, denn sie sieht, dass der Hass zwischen Israelis und
Arabern nur durch eine für alle Seiten befriedigende politische Lösung wirklich
eingehegt werden könnte. Und dennoch haben der Kontakt und die Arbeit an einem
gemeinsamen Projekt das Verständnis füreinander vergrößert. Etwas miteinander zu
machen und damit etwas übereinander zu erfahren, scheint also ein Weg zu sein,
Vorurteile zumindest zu verringern. Ähnlich sieht das der Jenaer PsychologieProfessor Andreas Beelmann,. Mit Kollegen hat er ein Trainings- und
Präventionsprogramm entwickelt, das jungen Menschen Toleranz und Respekt im
Umgang mit anderen vermitteln soll. In Thüringen führte er seit 2007 mit Kindern in
der 3. Klasse einer Grundschule über 16 Wochen ein Interventionsprogramm zur
Vorurteilsprävention durch.
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O-Ton 37 - Andreas Beelmann:
Was wir gemacht haben ist mit den Kindern Geschichten gelesen, wo ein deutsches
Kind und eins mit Migrationshintergrund gemeinsam Abenteuer erleben. Und die
psychologische Idee dahinter ist, die Kinder identifizieren sich mit dem Kind der
eigenen Gruppe, also einem deutschen Kind, dieses Kind hat einen Freund in der
sozialen Fremdgruppe und dadurch kommt eine Besserbewertung der sozialen
Fremdgruppe zustande, also Vorurteile sinken.
Sprecherin:
Zusätzlich vermittelten Andreas Beelmann und sein Team den Kindern Wissen über
kulturelle Unterschiede und trainierten deren Vermögen, andere Kinder nach
bestimmten Gruppen zu kategorisieren. Die Ergebnisse dieser Studie stimmen den
Jenaer Psychologen optimistisch:
O-Ton 38 - Andreas Beelmann:
Die letzte Untersuchung war jetzt 5 Jahre später nach Beendigung dieses
Programms und die Ergebnisse haben mich im Blick auf die Langzeiteffekte sehr
erstaunt. Dass wir noch im Jugendalter zeigen konnten, dass nationalorientierte
Einstellungen geringer ausfielen als in der Kontrollgruppe, die nicht an dem Training
teilgenommen hat, hat mich gewundert. Auch der Kontakt zur rechten Szene - das ist
insgesamt nicht häufig, aber trotzdem war unsere Gruppe weniger vertreten als die
Vergleichsgrupe.
Sprecherin:
Andreas Beelmann weist aber auch darauf hin, dass die Vorurteilsneigung schon bei
Kindern unterschiedlich hoch ist. Kinder, die wenig Einfühlungsvermögen haben,
seien empfänglicher für Ressentiments. Ähnlich entscheidend seien die familiären
und sozialen Umstände, unter denen Kinder aufwachsen. Und jemand, der seine
politische Heimat in der AfD gefunden hat, werde kaum dazu bereit sein, sich auf
Kontakte zu Flüchtlingen einzulassen. Es ist eben so: Sind die Schubladen einmal
da, lassen sie sich kaum wieder abschaffen! - Am hilfreichsten ist wohl immer noch
die Bereitschaft, sich die eigenen Vorurteile bewusst zu machen. Selbst der
Hamburger Sozialpsychologe Prof. Hans-Peter Erb gibt zu:
O-Ton 39 - Hans-Peter Erb:
Ich hab auch meine Vorurteile, ich erinnere mich gut als in der deutschen
Nationalmannschaft erst mal ein dunkelhäutiger Spieler gespielt hat, das war der
Gerald Asamoah. Und ich war erschreckt über mich selbst, wo ich einer bin der das
Gegenteil will. Wieso hast du das Gefühl???
Sprecherin:
Und was tut der Vorurteilsforscher, wenn er feststellt, dass auch er nicht gegen
Vorurteile gefeit ist?
O-Ton 40 - Hans-Peter Erb:
Da kann man nur bewusst gegensteuern, sagen, stopp. Jetzt kommt ein Student, der
ist tätowiert vom kleinen Zeh bis oben, ich hab ein Vorurteil. Aber ich darf das nicht
gelten lassen, ich muss seine Prüfungen gerecht bewerten und nicht auf der
Grundlage, weil er einer bestimmten Gruppe angehört, die ich nicht mag.
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Sprecherin:
Juliane Degner, Sozialpsychologin in Hamburg, sieht das ähnlich. Aber sie weiß
auch:
O-Ton 41 - Juliane Degner:
Das ist schwer, das ist aufwändig, das ist manchmal frustrierend. Aber wenn wir fair
sein wollen, dann müssen wir das tun.
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