Rundschau Foto: Diesner Indien hat viele Gesichter: Bunte Kleider, frisches Gemüse und viele Menschen prägen die Städte. Indien: Chaos mit System Landwirtschaft in Indien ist extrem kleinstrukturiert und wirkt auf den ersten Blick rückständig und chaotisch. Trotzdem kann sich der Subkontinent größtenteils selbst versorgen. Wie funktioniert das? top agrar hat sich vor Ort umgesehen. W er in Indien über Land fährt, fühlt sich wie auf einer Zeitreise in die Vergangenheit. Hightech auf großen Schlägen sucht man hier vergeblich. Handarbeit und Ochsengespanne auf kleinen Schlägen bestimmen das Bild auf Indiens Äckern. Im Landesdurchschnitt liegt die Betriebsgröße gerade einmal bei 1,16 ha. Es ist kaum zu glauben, dass dieses Land zu den weltweit größten Produzenten von Milch, Reis oder Weizen gehört. Das Land braucht riesige Mengen an Lebensmitteln, denn weltweit lebt fast jeder fünfte Mensch in Indien. Oberstes Ziel der indischen Regierung war und ist es, die insgesamt 1,21 Mrd. Menschen selbst zu versorgen. Keine leichte Aufgabe: Indien hat zwar ein riesiges Potenzial. Das siebtgrößte Land der Welt hat mit 159 Mio. ha fast so viel landwirtschaftliche Nutzfläche wie die gesamte EU. Gleichzeitig verteilt sich diese Fläche aber auf rund 137 Mio. Betriebe, die aufgrund der Größe und Topographie Indiens auch noch oft in unterschiedlichen Klimazonen liegen (s. Übersicht 1 u. 2). Landwirtschaft in Indien ist außerdem mehr als nur ein Nahrungsmittellieferant. Sie gibt jedem zweiten Inder Arbeit und Halt in der Gesellschaft. Eine wichtige Funktion in einem Staat, in dem so viele verschiedene Kulturen, Sprachen und Religionen aufeinandertreffen. Auf dem Land wird zwar meistens mehr improvisiert als optimiert und die Tradition kommt oft vor der Innovation. Doch dieses zum Teil chaotische System funktioniert erstaunlich gut. Übersicht 2: Das siebtgrößte Land der Erde AFGHANISTAN CHINA PAKISTAN NEUDELHI Übersicht 1: Indien im Vergleich 1 210 80,7 Bevölkerung pro km2 382 226 Fläche insgesamt, Mio. ha 330 36 Landwirtschaftliche Nutzfläche (LF), Mio. ha 159 17 Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe, Mio. 137 0,3 Betriebsgröße, ha 1,16 56 Anteil Beschäftigte in der LW, % 50 1,6 NEPAL BHUTAN BANGLADESCH Indien Deutschland INDIEN MYANMAR MAHARASHTRA Mumbai Dharewadi INDISCHER OZEAN Quelle: BMEL KERALA Peermade Coimbatore TAMIL NADU Jeder der 29 Bundesstaaten ist wie ein anderes Land: Landschaft, Klima, Sprache und Kultur können sich stark unterscheiden. Grafik: Driemer Bevölkerung, Mio. Indien kann nämlich bisher weitgehend auf Importe verzichten. Nennenswerte Einfuhren gibt es nur bei Hülsenfrüchten und Speiseöl. top agrar wollte wissen, wie Landwirtschaft in Indien genau abläuft und hat eine Studienreise der hessischen Landjugend nach Südindien begleitet. Mit Hilfe der Karl Kübel Stiftung für Kinder und Familie (KKS) (siehe Kasten, Seite 25) haben die Teilnehmer hautnah erlebt, wie einfach Bauernfamilien in Indien arbeiten und leben. Indien ist ein Agrar-Riese. Die Daten Deutschlands wirken dagegen winzig. top agrar 1/2015 21 Rundschau Foto: Beckhove Über dem Bergdorf Shiswad liegt morgens oft eine Rauchglocke. Schon zum Frühstück gibt es warme Mahlzeiten, die im Haus über offenem Feuer zubereitet werden. Maharashtra: Viel Fläche, wenig Wasser Brutale Hitze und 9 Monate kaum Regen: Im indischen Hinterland dreht sich alles ums Wasser. D ie Reise beginnt östlich von Mumbai im Bundesstaat Maharashtra. Im April ist hier Hochsommer, und man fragt sich, wie Menschen hier (über-)leben können: Karge Landschaft, sengende Hitze und kaum Schatten. Für die Bevölkerung dieser Region ist die Landwirtschaft fast die einzige Einnahmequelle. Auch wenn im April/Mai bei durchschnittlichen Temperaturen von 27 °C (bei Tag und Nacht) auf den ersten Blick fast alles braun und verdorrt ist, weil es hier seit Oktober des letzten Jahres fast nicht mehr geregnet hat, trügt der Eindruck. Auf den zweiten Blick finden sich etliche bewässerte Parzellen, auf denen Früchte wachsen: Tomaten, Mais, Blumen, Chili, Erdnüsse, Sorghum usw. Zu dieser Jahreszeit ist das bereits die dritte Ernte des Jahres, die hier heranwächst. Ein typisches Bergdorf in dieser Region ist Shiswad, das etwa dreieinhalb Autostunden bzw. 194 km von Mumbai entfernt ist. Gut 100 Familien leben hier fast ausschließlich von der Landwirtschaft und das sehr bescheiden: Ein kleines Haus, etwa 4 x 4 Meter, reicht für die fünfköpfige Familie. Geschlafen wird meist auf dem Boden, der regelmäßig mit Kuhdung eingeschmiert wird. Was für Europäer ekelig ist, hat einen praktischen Grund: Kuhdung wirkt antiseptisch und hält Mücken und Schlangen fern. Kaum ein Kuhfladen bleibt hier unbeachtet. Was nicht als „Bodenanstrich“ verwendet wird, wird getrocknet und dient später als Brennstoff. indische Fruchtfolge sieht als Erstfrucht fast immer Reis vor. Er benötigt viel Wasser und wird deshalb direkt nach dem Monsun angebaut. Nach gerade mal 90 Tagen ist er reif. Das tropische Klima ermöglicht mehrere Ernten im Jahr, wenn das Wasser ausreicht. 22 top agrar 1/2015 Foto: Diesner Aussaat und Ernte in 90 Tagen: Die Um das Getreide zu dreschen, nutzen Inder auch gerne den Straßenverkehr. beitstag einer indischen Familie beginnt früh. Morgens um fünf sind die Frauen schon auf den Beinen, um Wasser zu holen oder Feuer für das Frühstück zu machen. Die Häuser haben keinen Schornstein, sodass sich der Rauch in den Häusern hält und Ungeziefer vertreibt. Das regelmäßige Feuern ist allerdings auch ein Problem. Denn in weiten Teilen Maharashtras gibt es immer weniger Bäume, weil sie zu Brennholz verarbeitet wurden. Die zahlreichen Ziegen verhindern zudem jeg lichen Neubewuchs. Über Jahrzehnte wurde so Raubbau an der Natur betrieben, sodass heute weite Landstriche einer Wüste gleichen. Es ist eine Abwärtsspirale: Je weniger Bäume und Sträucher hier wachsen, desto anfälliger ist der Boden für Erosion. Wenn die Krume abgetragen ist, hält der Boden kaum noch Wasser, und es muss noch mehr bewässert werden. Der Grundwasserspiegel sinkt und immer weniger Flächen können in der Trockenzeit bewässert werden. Außerdem sinken die Erträge. Weil die Dorfbewohner sich kaum noch selbst versorgen können, müssen viele Landbewohner als Erntehelfer in anderen Regionen anheuern oder sie suchen ihr Glück in der Großstadt, wo sie zumeist in den zahlreichen Slums landen. Den Monsun besser nutzen:Um die- sen Teufelskreis aufzubrechen, werden in einigen Regionen sogenannte Watershed Programme unterstützt. Mit einfachen Maßnahmen versucht man, möglichst viel Wasser zu nutzen: • Die Anlage von Gräben, Barrieren und Terrassen, die den Regen bremsen. Im Idealfall versickert das Wasser und erhöht den Grundwasserspiegel. • Schaffung von Regenrückhaltebecken bzw. Stauseen, die das Wasser sammeln und später zur Bewässerung dienen. • Die Anpflanzung von Sträuchern, Bäumen und Gras entlang der Gräben, um der Erosion vorzubeugen und die Wasserhaltefähigkeit zu erhöhen. Die Bewohner müssen bei den Maßnahmen mit anpacken. „Hilfe zur Selbsthilfe“ heißt hier das Motto. Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), wie in diesem Falle der Water Organisation Trust (WOTR), unterstützen die Projekte und stellen Pflanzen und Ausrüstung zur Verfügung. Dass es funktioniert, sieht man in Purushwadi einem Nachbarort von Shiswad, der seit 2002 an dem Programm teilnimmt: • Die Bauern können nun zwei Monate länger bewässern als früher. • Es werden mehr Flächen bewässert. Foto: Tepel Inder sind Frühaufsteher: Der Ar- Hätten Sie es erkannt? Die Muskatnuss im Hintergrund sieht im frischen Zustand ganz anders aus. Indiens Landwirtschaft: Sanfter Wandel Indiens Agrar-Bilanz kann sich sehen lassen: Trotz kleiner Strukturen ist der Subkontinent der zweitgrößte Erzeuger von Weizen, Reis und Zucker. Bei den tierischen Produkten sind die Zahlen ebenfalls beeindruckend. Man schätzt, dass Indien derzeit auf eine Milchproduktion von rund 133 Mio. t pro Jahr kommt und damit weltgrößter Milchproduzent ist (Kuh- und Büffelmilch). Nachfrage und Produktion sollen in den nächsten 10 Jahren sogar nochmals um knapp 60 % steigen. Bei der Fleischproduktion spielt Indien ebenfalls vorne mit. Vor allem Büffelfleisch hat sich zu einem Exportschlager entwickelt, da es HalalStandards erfüllt und in muslimischen Ländern gefragt ist. Indien hat 2014 schätzungsweise 4,1 Mio. t Rind- und Büffelfleisch produziert und davon knapp die Hälfte exportiert – Tendenz steigend. Angesichts dieser Zahlen ist es kein Wunder, dass die indische Regierung den Sektor nicht völlig umkrempeln möchte, und sich nur langsam dem Weltmarkt öffnet. Bei den WTO-Verhandlungen Ende November setzte Neu-Delhi sogar durch, weiterhin unbegrenzt Lebensmittel aufkaufen und lagern zu dürfen. Die Regierung unterstützt so mit Mindestpreisen die heimische Landwirtschaft. Im laufenden Jahr kann der Erzeugerpreis für Weizen so z. B. nicht unter umgerechnet 17 €/dt rutschen. Für dieses Recht hätte Indien sogar ein Scheitern der WTO-Verhandlungen in Kauf genommen. Gleichzeitig schirmt der Staat den Markt nach außen ab. So dürfen große internationale Handelsketten nur in Metropolen mit über 1 Mio. Einwohnern Geschäfte eröffnen. 90 % des Lebensmittelhandels laufen über sogenannte Kirana Shops. Das sind kleine Händler, deren Existenz bei einer Freigabe des Marktes für ausländische Supermarktketten gefährdet ist, glauben Politiker. Klar ist aber: Wenn die Bevölkerung wie bisher jährlich um 15 Mio. wächst und gleichzeitig die Nachfrage nach tierischen sowie veredelten Lebensmitteln steigt, muss die Produktivität in den nächsten Jahren deutlich zulegen. Laut eines Fünfjahresplans der Regierung soll die landwirtschaftliche Produktion jährlich um 4 % steigen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Erreicht wurden zuletzt nur rund 2 % pro Jahr. Es ist fraglich, ob sich Indien auch auf Dauer selbst versorgen kann. Denn die landwirtschaftliche Produktion steht vor großen Herausforderungen: • Es fehlt in weiten Teilen des Landes das Wasser. Auch wenn Indien weltweit die größte bewässerte Anbaufläche hat, ist über die Hälfte der landwirtschaftlichen Fläche vom Sommermonsun abhängig. • Mehr als ein Drittel der Erzeugung vergammelt, weil die Infrastruktur mangelhaft ist und es nur lückenhafte Kühlketten gibt. Fast jeder zweite ländliche Haushalt hat nicht mal einen Stromanschluss. • Der Klimawandel bedroht die Produktion. Größere Schwankungen von Temperaturen und Niederschlägen beschleunigen Bodenerosion und Wüstenbildung. Wasser und Boden werden immer knapper. top agrar 1/2015 23 Fotos: Diesner, Beckhove (2) Rundschau Blumen begegnen einem überall in Indien. Den zahllosen Göttern wird täglich tonnenweise Blumenschmuck geopfert. • Die Erträge steigen und die Familien ernten bis zu dreimal im Jahr. Die besseren Ernten sind die Basis für mehr Wohlstand im Ort. Überschüssiges Getreide oder Obst wird nun verkauft. Einige Familien bauen sogar Blumen an, um sie in Mumbai zu verkaufen. Aber es geht auch um höher Eine Teepflückerin bei der Arbeit: Das Hochland von Kerala bietet gute Bedingungen für den Teeanbau. veredelte Produkte: Mittlerweile verkauft der 91 Haushalte zählende Ort jeden Tag z.B. 100 bis 150 Liter Milch. Die Einkommen steigen: 2001 kam jeder Haushalt gerade mal auf knapp 4 000 Rupien, umgerechnet 50 € pro Jahr. Heute verdient eine Familie das achtfache, also fast 400 €. Der steigende Wohlstand ist im Ort sichtbar. Früher hatten Dreiviertel der Häuser kein elektrisches Licht. Heute brennt fast in jedem Haus eine Lampe. In Purushwadi haben viele Landwirte ihre Häuser vergrößert und angebaut. Küche und Schlafräume sind getrennt und teilweise sogar gefliest. Kerala: Bio-Gewürze treffen auf Vermarktungsprofis Der Gewürzanbau in Indien hat Tradition. Wer davon leben will, braucht aber einen starken Vermarktungspartner. Foto: Buchmann E 24 top agrar 1/2015 ine völlig andere Welt erwartet uns im Bundesstaat Kerala, an der Südwestküste Indiens. Ein tropisches Klima mit regelmäßigen Niederschlägen auch im Hochsommer, schafft ideale Wachstumsbedingungen. Gebirge durchziehen die grüne Landschaft und erreichen eine Höhe von bis zu 2 700 m. Es herrschen optimale Bedingungen für den Teeanbau. Die riesigen Teeplantagen in den Höhenlagen sind eingerahmt durch dichten Dschungel. Doch was wie Urwald aussieht, ist an vielen Stellen eine ganz besondere Art der Landwirtschaft: das „mixed-farming“ (Mischkulturen). Dabei handelt es sich um kleine, arbeitsintensive „Gemischtbetriebe“. Auf dem Betrieb von Thomas Jose wächst so ziemlich alles – auch Ingwer. Einer dieser Betriebe gehört Thomas Jose. Auf 1,21 ha betreibt er seit 2006 ökologischen Landbau. Was er von dieser kleinen Fläche für eine Vielfalt an Früchten erntet, ist beeindruckend. Wenig Fläche, viel Ertrag:Bei hoher Luftfeuchtigkeit und tropischen Temperaturen gibt es fast nichts, was hier nicht wächst: Gewürze neben Kokospalmen und Bananenbäumen, Kaffeesträucher unter Kautschukbäumen und Obstbäume neben Muskatnussbäumen. Das diversifizierte Anbauverfahren wirkt chaotisch, hat aber Vorteile: • Die Arbeit verteilt sich besser auf das gesamte Jahr. • Die Familie versorgt sich selbst mit Obst, Milch, Gemüse, Honig und Gewürzen. Der Rest wird verkauft. • Alles wird verwertet. Früchte, Neben- Die selbst gebaute Biogasanlage liefert Kochgas für den Herd. So werden Essensreste und Kuhdung noch energetisch genutzt. produkte und Unkräuter werden an die Kühe verfüttert. Die Milch wird verzehrt und der Kuhdung dient als Dünger bzw. Substrat für die Biogasanlage. Jose kommt ohne Chemie aus, was in Indien eher eine Ausnahme ist. Gedüngt wird ausschließlich organisch mit Dung von der eigenen Kuh, der zuvor meist kompostiert wird. Dass Jose so arbeiten kann, verdankt er der Peermade Entwicklungsgesellschaft (PDS). Der Verein wurde 1980 gegründet, um Kleinbauern, Familien und Frauen zu fördern. PDS berät die Bauern bei der Umstellung von konventionellem auf ökologischen Gewürzanbau. Außerdem kümmert sich die Organisation um die Vermarktung der Produkte. Gewürze für die Welt: Der Gewürzan- bau hat hier Tradition. Indien ist der größte Produzent, Konsument und Exporteur weltweit. Von den landesweit produzierten rund 6 Mio. t Gewürzen exportiert Indien knapp 12 %. Jose vermarktet seine Gewürze über PDS-Organic-Spices – eine Tochter gesellschaft von PDS – größtenteils ins Ausland. Als Biobetrieb verpflichtet sich Jose, bestimmte Auflagen zu erfüllen, die von externen Auditoren kontrolliert werden. Das gilt auch für die PDS, die die Gewürze nach westlichen Standards verarbeitet. Auch deutsche Verbände wie Demeter und Naturland gehören zur Kundschaft. Der Vorteil für die Bauern: Sie haben eine Abnahmegarantie und bekommen einen Öko-Zuschlag von ca. 20 % auf die sonst üblichen Gewürzpreise. Das Konzept geht auf. Mittlerweile stehen rund 1 900 Betriebe unter Vertrag, die auf insgesamt etwa 1 800 ha Gewürze anbauen – vor allem Pfeffer. PDS fördert die Betriebe aber auch bei anderen Investitio- nen. So vergibt PDS beispielsweise auch Kredite für kleinere Biogasanlagen, mit denen die Bauern „Kochgas“ erzeugen, um es anschließend selbst zu verbrauchen. Biogas zum Kochen: Die Systeme sind einfach: Als Substrat dient oft Kuhdung, der mit Essensresten und anderen Abfällen vermengt wird. Anschließend geht das Substrat in den Fermenter, der meist nicht mehr als zwei Kubikmeter fasst. Die hohen Temperaturen und die Sonneneinstrahlung reichen aus, um den Gärprozess in Gang zu bringen. Das so produzierte Kochgas strömt über einen einfachen Wasserhahn und Gartenschlauch direkt ins Haus zum Gaskocher. Das ist nicht nur bequemer als die traditionelle Feuerstelle im Haus. Es spart den Familien auch viel Geld für den Holzkauf. Außerdem können die Familien das Gärsubstrat, das aus dem Fermenter herausläuft und in der Sonne trocknet, als Dünger verkaufen. Ein Eimer des Nährstoffs kostet auf dem Markt etwa 30 Rupien, umgerechnet knapp 40 Cent. Die Investition in eine Biogasanlage von umgerechnet 300 € rechnet sich deshalb relativ schnell. Leider bekommen einfache Familien von Banken nur selten Kredite. In Indien sind deshalb Kredithaie weit verbreitet, die mit extrem hohen Zinsen arbeiten. Den Bau einer Biogasanlage können sich Familien oft nur leisten, wenn sich Entwicklungsorganisationen einschalten. Wofür PDS Kredite gewährt, ist völlig offen. Neben einer Biogasanlage kann es auch der Bau einer kleinen Kompostanlage oder der Kauf von Vieh sein. Jeder „Business-Plan“ wird einzeln geprüft. „Unsere Ausfallrate ist gleich Null“, sagt PDS-Geschäftsführer Pater Hubby. top agrar 1/2015 25 Rundschau Tamil Nadu: Kleine Betriebe nah am Markt Im Dunstkreis der Metropolen ist die Nachfrage grenzenlos. Kleinunternehmer sind für die Banken aber oft uninteressant. Foto: Beckhove D Die Geflügelställe dieser indischen Frauen stehen mitten in der Stadt. ie dritte Station führt uns nach Tamil Nadu, dem Bundesstaat östlich von Kerala. Im Tiefland liegt die Jahresduchschnitts-Temperatur bei 29 °C. Auf dem Weg in die Millionenstadt Coimbatore überholen wir zahllose Ochsengespanne, die mit Zuckerrohr beladen sind. Die meisten Flächen hier sind bewässert – ideal für Zuckerrohr, das einen sehr hohen Wasserbedarf hat. Im Dunstkreis von Coimbatore spielt hingegen die Tierhaltung eine größere Rolle. Neben den pflanzlichen Produkten, die die Bauern auf den Märkten verkaufen, erzeugen viele von ihnen Milch. Die gehört zur traditionellen indischen Küche genauso dazu wie der Reis. Da der Inder wenig Fleisch isst, zählen Hülsenfrüchte und vor allem Milchprodukte wie Käse und Joghurt zu den wichtigsten Eiweißlieferanten. Jeder Inder verzehrt etwa 120 kg Milch im Jahr (vgl. Europa: ca. 260 kg). Günstig Milch erzeugen: Die Milch- wirtschaft in Indien ist mit der in den Industriestaaten allerdings nicht zu vergleichen. Es gibt zwar auch größere Betriebe, die nach westlichen Standards produzieren. Schätzungsweise 80 % der Milch werden aber in Klein- oder Kleinstbetrieben erzeugt, d. h. mit ein bis drei Kühen pro Betrieb. Gefüttert werden solche Kühe mit dem, was gerade anfällt. Das kann Gras oder Mais sein, aber eben auch Obst oder Gemüse, das zu vergammeln droht. Kühe sind in Indien auch Reste-Verwerter. Ziel ist nicht die optimierte Fütterung mit maximaler Leistung, sondern mit wenig Aufwand Milch zu erzeugen. Insofern überrascht es nicht, dass diese Kühe kaum 5 Liter am Tag geben. Die kleinen Betriebe versorgen sich zunächst selbst und verkaufen, was übrig bleibt. Eine eigene Kühlung besitzt kaum jemand, zumal hier ständig der Strom ausfällt. Stattdessen wird die Milch mit kleinen Fahrzeugen abgeholt und in Milchkannen zu einer Sammelstation gebracht. Hier wird der Fettgehalt ermittelt, auf 4 °C heruntergekühlt und gelagert. Von dieser Station geht die Milch dann zu größeren Molkereien und wird weiterverarbeitet. Der Erzeugerpreis für Milch liegt derzeit umgerechnet zwischen 29 und 31 Cent/Liter. Aber nicht nur der Milchkonsum boomt. Inder essen auch immer mehr Fleisch, denn nur etwa 20 % der Bevölkerung lebt streng vegetarisch. Vor allem Geflügelfleisch ist beliebt. Foto: Diesner Wer ist die Karl Kübel Stiftung? Nicht bei allen Milchtransporten wird die Kühlkette eingehalten. 26 top agrar 1/2015 Die Karl Kübel Stiftung (KKS) mit Sitz in Bensheim (Hessen) unterstützt Projekte, die bedürftige Familien und Dorfgemeinschaften stärken und deren Lebensverhältnisse verbessern sollen. Die Stiftung wurde 1972 gegründet und handelt nach dem Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“. KKS engagiert sich in Indien, den Philippinen, Äthiopien und im Kosovo mit den Schwerpunkten ländliche Projekte, Armutsbekämpfung, Kampf gegen Kinderarbeit und gegen Zwangsprostitution von Minderjährigen. Die Stiftung unterstützt die im Beitrag vorgestellten Projekte. Übrigens: In einigen indischen Projekten ermöglicht die KKS jungen Menschen aus Deutschland für acht Monate Einblick in soziale und entwicklungspolitische Zusammenhänge. Bis zu 16 Freiwillige gehen jedes Jahr – zumeist in 2er-Teams – in ein Projekt. Einige werden zum Beispiel in einer Brückenschule für ehemalige Kinderarbeiter eingesetzt. Andere in der Öffentlichkeitsarbeit und Dokumentation oder im medizinischen Bereich. Weitere Informationen unter www.kkstiftung.de Ein Bauer bringt sein frisch geschlagenes Zuckerrohr zur Fabrik. Tiere werden in der Regel lebend vermarktet, weil viele Familien keine Kühlmöglichkeit haben. Schnell gelesen • Indien versorgt sich bisher weitgehend selbst. In vielen Regionen fehlt das Wasser. • Jeder zweite Inder arbeitet noch in der Landwirtschaft. • Die Betriebe sind meistens klein und kaum mechanisiert. • Bauern sind bisher kaum organisiert, was die Vermarktung erschwert. • Die Nachfrage ist in der Nähe von Großstädten riesig. • Der Bedarf an veredelten Produkten wie Milch und Fleisch steigt stark. STANDP UNKT Indien muss sich verändern Foto: Tepel Problem, das sich sechs Frauen aus der Millionenstadt Coimbatore zunutze gemacht haben. Mit Hilfe der lokalen NGO Native Medicare Charitable Trust (NMCT) mästen sie Geflügel in ihren eigenen Ställen. Sie haben für umgerechnet 100 € pro Jahr ein 600 Quadratmeter großes Grundstück gepachtet, auf dem sie einfache Geflügelställe errichtet haben. Investiert haben sie umgerechnet 2 300 € und halten nun mehrere hundert Hähnchen und Puten in der Stadt. Das Futter kaufen sie zu. Als Einstreu dient Kokosstroh. Das Geschäft läuft gut, denn der Absatzmarkt liegt vor der Tür. Wer ein Hähnchen kaufen möchte, trifft sich einfach mit den Frauen am Stall. Die „Schlachtung und Zerlegung“ findet gleich vor Ort in einer Bambushütte statt. Hygiene und Kühlketten spielen im indischen Alltag eine eher untergeordnete Rolle. Die sechs Frauen bauen bereits einen weiteren Stall. Die Fleischnachfrage ist groß genug, da sind sie sicher. Dabei können sich eigentlich nur wenige Inder Fleisch leisten. Ein geschlachtetes Hähnchen kostet derzeit immerhin rund 4 € pro kg SG. Andreas Beckhove Foto: Beckhove Geflügelmast in der Großstadt.Ein Ursula Holzhauser, Referentin für Ernährung und Landwirtschaft, Deutsche Botschaft Neu Delhi Indien ist bei wichtigen Agrarrohstoffen wie Milch, Getreide oder auch Obst einer der weltgrößten Erzeuger. Der indische Subkontinent hat im vergangenen Jahr sogar landwirtschaftliche Produkte im Wert von über 26 Mrd. € exportiert. Doch selbst diese riesigen Mengen werden auf Dauer nicht ausreichen, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Denn jedes Jahr kommen 15 Mio. Menschen hinzu. Außerdem verlangen kaufkräftige Bevölkerungsschichten in den Städten zunehmend tierische und veredelte Produkte. Indiens Agrarwirtschaft muss sich verändern und schneller wachsen. Da- für müssen aber folgende Probleme gelöst werden: • Die Produktivität liegt unter der der südasiatischen Nachbarländer. • Die Nach-Ernteverluste sind hoch. • Landwirte leiden unter der reglementierten Vermarktung. • Die Ernährungsindustrie und die Infrastruktur für Nahrungsmitteltransporte sind kaum entwickelt. Die Regierung um Premierminister Modi will die Branche deshalb modernisieren. Nur wenn es gelingt, die Vermarktungswege zu öffnen, Kühlketten aufzubauen und Lagerkapazitäten zu schaffen, kann Indien die ständig wachsende Bevölkerung ernähren. Der ländliche Raum muss allerdings noch aus einem weiteren Grund gestärkt werden. Denn dort, wo die Wirtschaft wächst, hat die Bevölkerung auch eine echte Lebensperspektive. Da ein Großteil der indischen Bevölkerung immer noch auf dem Land lebt, lässt sich so auch die Landflucht begrenzen. Die dargestellten Ansichten sind die persönliche Meinung der Autorin und entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Auswärtigen Amtes. top agrar 1/2015 27
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