(Musik: Cellier: Das Geheimnis der bulgarischen Stimmen, CD I

Sonntag, 25. Dezember 2016 (20:05-21:00 Uhr), KW 51
Deutschlandfunk Abt. Feature/ Hörspiel/ Hintergrund Kultur
FREISTIL
Kleine Fluchten
Vom Tagträumen
Von Rolf Cantzen
Regie: Philippe Bruehl
Redaktion: Klaus Pilger
Deutschlandfunk 2016
Manuskript
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1
Musik: (M 1. Ab Anfang, bei 0.11 dem Folgenden unterlegen.)
(hier und im Folgenden "intim", fast verschwörerisch)
Zitator 2:
Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns,
ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren
wichtigsten Zufluchtsort zu machen...
Musik: (Aus.)
O-Ton 1: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Die Tagträume des Menschen sind natürlich viel, viel stärker als alle
Zugriffe, die ich von Außen erfahre. Insofern ist der Tagtraum eine sichere
Betriebsform meiner Autonomie.
Musik: (M 1. Ab 0.37, kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 2:
Hier gilt es, denn alltäglichen Umgang mit uns selbst zu pflegen.
Musik: (Aus.)
O-Ton 2: Heiko Ernst
Über Tagträume sprechen wir nur selten offen ... Im Prinzip ist es das
Privateste, was wir besitzen, diese Innenwelt. Das ist auch eine
Rückzugswelt: "Ach, wie gut, dass niemand weiß ..."
Musik: (M 1. Ab 1.47, kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 2:
Unsere Seele vermag sich selbst Gesellschaft zu leisten, sie hat
sich genug zu geben.
Musik: (Aus.)
O-Ton 3: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Tagträume sind so etwas wie der Alltag ... unseres ganz normalen,
tagtäglichen Versuchs mit der Umwelt, mit uns selber, mit dem Beruf
zurecht zu kommen.
Musik: (M 1. Ab 2.30. Kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen)
Zitator 2:
Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ...
2
Erzählerin:
... das empfahl Montaigne bereits im 16. Jahrhundert
Geräusch: (Handyklingeln.)
... - ein "Hinterstübchen", das uns abschirmt vor den ständigen
Zudringlichkeiten und Übergriffen der Außenwelt.
Geräusch: (Collage aus Handyklingeln, Computersignalen, Jingle DLF,
Türklingeln etc. übertönt Musik.)
-------------------------------------------------------ANSAGE:
Kleine Fluchten.
Tagträume
Feature von Rolf Cantzen
-------------------------------------------------------Musik: (M1. Hart aus mit Geräusch: Ping)
Musik: (M 2: Text: "Du bist nicht allein, wenn du träumst heute Abend...".)
(aggressiv auffordernd)
Zitator 1:
Möchten Sie zum Thema Tagträume etwas sagen, etwas
schreiben, fragen oder haben Sie eine Idee dazu? Dann drücken
Sie auf den Button unten links.
(hier und im Folgenden verunsichert)
Zitatorin:
Hier?
(etwas genervt)
Zitator 1:
Nein, noch weiter links. - Noch ein Stückchen weiter. - Ja da! Jetzt drücken.
Geräusch: (Ping)
3
(höhnisch)
Zitator 1:
Geschafft. Wunderbar!
("intim", zart, etwas zögerlich)
Zitatorin:
... ich bin eine Tagträumerin. Ich tauche oft ein in meine eigene
Welt. Ich träume dann so vor mich hin. Das ist schön. Manchmal
nehme ich das, was um mich herum ist, nicht mehr so richtig
wahr. - Also, das ist nicht so, dass ich davon gar nichts mitkriege.
Das nicht. Ich bin ja nicht völlig verpeilt oder so. - Ich hab kein
Problem damit. Eigentlich nicht. Ich bin halt manchmal etwas
abwesend. Meine Kollegin sagt dann: Du starrst wieder Löcher
in die Luft. Oder fragt: Warum grinst du so vor dich ...
Geräusch: (Töööt)
Zitator 1:
Danke! Das waren Ihre 30 Sekunden.
Musik: (M 2: Text: "O, glaub mir: Du bist nicht allein, wenn du träumst heute
Abend...")
(leicht ironisch)
Erzählerin: ... wir tagträumen alle - mehr oder weniger. Das liegt am Gehirn.
Das braucht regelmäßig Zeit für sich und nimmt sich deshalb oft
Auszeiten und beschäftigt sich dann nur mit sich selbst.
Geräusch: (Gehirn-Blubbern, kurz.)
O-Ton 4: Heiko Ernst
... richtig erforscht und tief erforscht ist es sehr wenig worden, dieses
Phänomen. Und das, obwohl wir - und das zeigt die wenige Forschung schon
- die immerhin ausreichend belegen kann, dass wir fast 50 Prozent des Tages,
unseres Wachbewusstseins mit Tagtraum oder tagtraumähnlichen
Gehirnprozessen verbringen.
4
Erzählerin:
Heiko Ernst ist Psychologe und gehört zu den wenigen, die sich
um diese eine Hälfte unseres Wachzustandes, also um die
Tagträume, kümmern. Ein Buch von ihm heißt:
Zitator 1:
"Innenwelten. - Warum Tagträume uns kreativer, mutiger und
gelassener machen."
Erzählerin:
Trotz des buchmarktopportunistischen Untertitels keiner dieser um es nett zu sagen - "komplexitätsreduzierten" Ratgeber,
wirklich nicht.
O-Ton 5: Heiko Ernst
Wir sind sehr viel öfter weg aus der Realität, in einer anderen Parallelwelt,
gedanklichen, bildlichen Parallelwelt, als wir das für möglich halten und
glauben.
Geräusch: (Blubbern dem Folgenden unterlegen, dann ausblenden.)
Musik: (M 2: Musik als "Schleife" unterlegen. Text: "Du bist nicht allein, du
bist nicht allein, du bist nicht allein ...")
Erzählerin:
Unser Gehirn führt sich das Gespräch mit der Freundin noch
einmal vor und entwickelt einen möglich gewesenen alternativen
Gesprächsverlauf. Es antizipiert die Zubereitung des
Abendessens und weshalb deine Tochter wieder so wenig essen
wird. Das Gehirn stellt sich vor, wie es wäre, wenn der nette
Kollege wieder in den Flirtmodus geht und wenn du dann
nachgibst, zurückflirtest und dann zustimmst, mit ihm nach der
Arbeit noch etwas trinken zu gehen, deinem Ehemann zu sagen,
du seist auf einem wichtigen Meeting. Und dann gibt dir dein
Gehirn die Erlaubnis mit dem netten Kollegen zu ihm nach
Hause zu gehen. Wenn er dir dann zuerst den Mantel abnimmt,
Dir dann näher kommt ... ja, und dann ...
5
Musik: (Aus.)
O-Ton 6: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
ja, und dann gäbe es vielleicht auch viele Dinge, die für das Radio zu privat
sind. (Sirenen im Hintergrund)
Erzählerin:
... schöne sexuelle Tagträume, auch sehr unschöne
Rachephantasien ...
Musik: (M 2: Text: "Mit meiner Sehnsucht, mit meinen Träumen bin ich bei dir
..."- nach "Sehnsucht" dem Folgenden unterlegen.)
(verhalten)
Zitator 2:
... und ich haue ihm eine in die Fresse, und trete ihm dann noch
mit dem Stiefel in die Weichteile...
O-Ton 7: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
... viele Dinge, die für das Radio zu privat sind, aber man könnte natürlich
fragen, warum da etwas stört. (Sirenen im Hintergrund - ggf. verstärken)
Erzählerin:
...im Tagtraum experimentiert unser Gehirn mit möglichen
Handlungsoptionen ...
Geräusch: (Blubbern kurz gegen Ende des O-Tons.)
O-Ton 8: Heiko Ernst
Wir legen uns eine Rolle in der Phantasie zurecht, die wir ausfüllen möchten.
Das kann manchmal sehr kurz sein. Viele Tagträume sind Schnipsel oder
Videoclips, wenn man so vergleichen möchte. Andere sind sehr lange. Bei
einer langen Autofahrt oder Bahnfahrt kann man schon einen richtigen Film
sich träumen, aber auch dieses kurzfristige hin und her schalten zwischen
reinen Gedanken, wo wir etwas überlegen, wie ist das jetzt morgen und dann
schiebt sich schon wieder ein Bild dazu ...
(verhalten)
Zitator 2:
... und ich ihm dann mit dem Stiefelabsatz in die Augen ...
6
O-Ton 9: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Das ist das, was wir die experimentelle Natur an uns Menschen nennen, ja.
Zitator 2:
Mein Gast kommt herein und sagt: "Guten Tag! Wie schön, dass
ich Sie zu Hause antreffe!" Und ich haue ihm eine in die Fresse
...
(Charms gesprochen mit "ch")
Erzählerin: Robert Musil meint, wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss
es auch einen Möglichkeitssinn geben. Also: Möglich ist so
einiges in der Wirklichkeit, im Tagtraum alles, auch diese
Begrüßung des Gastes in einem Text des russischen
Schriftstellers Daniil Charms ...
Zitator 2:
... Und ich haue ihm eine in die Fresse und ich trete ihm dann
noch mit dem Stiefel in die Weichteile.
O-Ton 10: Heiko Ernst
Ich stelle mir das bildhaft vor, wie ich morgen auftreten werde in der
Konferenz oder …bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung, einer Reise.
Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.)
Erzählerin:
Zurück zum Gehirn!
Musik: (M 3: Sehr kurz.)
Zitator 1:
Das Gehirn ist im Ruhezustand keineswegs träge, sondern höchst
aktiv. Und diese Ruheaktivität läuft nicht zufällig ab, sondern ist
in hohem Maße organisiert ...
7
Erzählerin: .... so der Neuropsychologe Alvaro Pascual-Leone über das vom
Hirn veranstaltete Kopfkino. Rege Gehirnaktivitäten lassen sich
beim Tagträumen übrigens in der Nachbarschaft des
Sprachzentrums messen: Das Gehirn steht also in lebhaftem
Kontakt mit sich selbst. Es führt beim Tagträumen Selbstgespräche.
Musik: (M 3: Ab 0.03, bei 0.05 aus.)
O-Ton 11: Heiko Ernst
Während dieses Zustandes des Tagträumens ist unser Gehirn im Gegensatz
zu einem verbreiteten Vorurteil hoch aktiv. Es verknüpfen sich da eben
Gehirnregionen miteinander oder sie kommunizieren miteinander, die sonst
keine Zeit und Gelegenheit haben, weil sie fokussiert sind auf etwas.
Erzählerin:
So verwissenschaftlicht und verwichtigt die Gehirnforschung das,
was jedem bewussten Tagträumer, jeder bewussten
Tagträumerin, ohnehin klar sein dürfte: Tagträume sind nicht nur
angenehm und unterhaltsam, sondern irgendwie auch nötig für
das seelische Gleichgewicht.
O-Ton 12: Heiko Ernst
Wir haben nun in dieser scheinbaren äußeren Ruhephase, Rückzugsphase,
Gelegenheit, Synapsen, Verbindungen einzuüben, zu verstärken, zu
rekapitulieren sozusagen, sich wieder einzustimmen auf das, was man erlebt
hat, das muss abgespeichert werden im Langzeitgedächtnis und man kann
dann später darauf zurückgreifen.
Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.)
Erzählerin:
Es gibt auch einige wissenschaftliche psychologische Tests zur
Häufigkeit und dem Inhalt von Tagträumen. Die Probanden
erhielten in unregelmäßigen Abständen Signale über ihr Handy ...
8
Geräusch: (kurz aus dem Hintergrund: Handyklingeln.)
... und sollten dann aufschreiben, bei welchen Tätigkeiten sie mit
was gedanklich beschäftigt waren. Das Ergebnis verwundert
nicht: Bei Tätigkeiten, die sie intellektuell nicht beanspruchen Geschirrspülen, Autofahren, Geschlechtsverkehr, Warten vor der
Kasse im Supermarkt etc. - gehen die Menschen in den
Tagtraummodus.
(dozierend)
Zitator 1:
Im Wesentlichen sind den Tagträumen drei Funktionen
zugeschrieben worden. Sie erlauben eine Simulation alternativer
Realitäten, können regulierend auf die eigene Stimmungslage
wirken ...
(verhalten)
Zitator 2:
... und ich haue ihm eine in die Fresse ...
Zitator 1:
... und helfen dabei, die eigenen Ziele und Anliegen durch eine
Revitalisierung von Zielanreizen ...
(verhalten)
Zitatorin:
Ich werde Chefin!
Zitator 2:
... und ich werde mit ihr spazieren gehen ...
Zitator 1:
... und helfen dabei, Zielanreize nicht aus den Augen zu verlieren.
Erzählerin:
... das schreibt der Motivationsforscher Thomas A. Langens in
einer der wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen zum
Tagtraum ...
9
Zitator 1:
Tagträume, Anliegen und Motivation.
(zunehmend ironisch)
Erzählerin: Die "Revitalisierung von Zielanreizen" - liegt diesem
Motivationsforscher besonders am Herzen. Er will nachweisen,
dass Tagträume mehrheitlich motivations- und damit
leistungssteigernd wirken, also wichtige Funktionen einnehmen
in der Leistungsgesellschaft. Tagträume induzieren Dynamik,
Kreativität, Energie, Fortschritt, Wirtschaftswachstum ...
(Sequenz flüsternd aus dem Hintergrund)
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.)
(leicht verurteilend)
Zitator 1:
Ein wenig überraschend erscheint das Ergebnis, dass ein Drittel
aller Tagträume einen positiv-eskapistischen Charakter haben,
also um angenehme, aber völlig realitätsferne Szenarien kreisen.
Erzählerin:
... muss der enttäuschte Motivationsforscher Thomas A. Langens
einräumen.
Zitator 1:
Solche Tagträume haben keinen direkt erkennbaren Nutzen.
10
O-Ton 13: Heiko Ernst
Tagtraum hat auch immer dieses Leistungsfeindliche oder dieses
Realitätsverweigernde, den Vorwurf in sich und ist deshalb zunächst einmal
kritikwürdig.
Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.)
O-Ton 14: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Die Einbildungskraft, die schafft etwas aus dem Reservoir der
Nichtanwesenheit. Das ist das Schöne an der Einbildungskraft, das sie nicht
auf eine Empirizität angewiesen ist, das ist die Kraft, die das Abwesende
organisiert, die dem Abwesenden eine Gestalt gibt. Das ist das, was an der
Einbildungskraft, auch am Tagtraum strukturell und philosophisch
interessant ist, dass das Abwesende eine Gestalt bekommt.
Erzählerin:
Das heißt: Den Philosophen Prof. Dr. Steffen Dietzsch
interessiert, was anwesend ist im Zustand der Abwesenheit.
O-Ton 15: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Das ist das, was an der Einbildungskraft, auch am Tagtraum strukturell und
philosophisch interessant ist, das das Abwesende eine Gestalt bekommt.
Erzählerin:
Dass das Gestalt gewinnende Abwesende empirisch abwesend
bleiben kann, zeichnet den Tagtraum philosophisch aus.
Zitator 2:
Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ...
Erzählerin:
Der Tagtraum schafft Distanz zur "Empirizität", also zur
Wirklichkeit, und will diese Distanz kultivieren, um uns
Autonomie zu verschaffen.
O-Ton 16: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Ich brauche etwas, was mich selber auch in eine gewisse Distanz bringt zu
den Umständen, zu den Personen, mit denen ich alltäglich zu tun habe oder
auch die mir zufällig begegnen und dafür sind Tagträume sehr gut.
Musik: (M 3: Ab 0.03 kurz stehen lassen, bei 0.12 jeweils wieder bei 0.03
beginnen und dem Folgenden unterlegen.)
11
Erzählerin:
Zurück zur Wissenschaft! Motivationsforschung.
(hier und im Folgenden "inquisitorisch")
Zitator 1:
In welcher Situation hatten Sie den Tagtraum?
Erzählerin:
... fragte der Motivationsforscher seine Probanden mittels
Fragebogen:
Zitator 1:
In einem Verkehrsmittel (Bus, Auto, Zug)?
Zitatorin:
31,7 Prozent.
Zitator 1:
Während Vorlesung oder Seminar?
Erzählerin:
... befragt wurden Studenten. Die sind es heute gewohnt, brav alle
Fragen mittels Kreuzchen zu beantworten ...
Zitatorin:
22,1 Prozent!
Zitator 1:
Vor dem Einschlafen?
Zitatorin:
12,7 Prozent.
Musik: (M 3: Ab 0.27 kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.)
(immer schneller werdend.)
Zitator 1:
Wie lang hat der Tagtraum gedauert?
Wenige Sekunden
12
Zitatorin:
35,4 Prozent
Zitator 1:
15 Sekunden bis eine Minute?
Zitatorin:
42,6 Prozent.
Zitator 1:
Länger als eine Minute?
Zitatorin:
21,9
Zitator 1:
Länger als 5 Minuten ?
Zitatorin:
17,785
Zitator 1:
Länger als 30 Minuten ?
Zitatorin:
21,6393
Musik: (Aus.)
(sehr ruhig)
Zitator 2:
Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ...
Musik: (M 2: Text: "Es finden tausend Herzen heute keine Ruh' ...".)
(aggressiv auffordernd)
Zitator 1:
Wenn Sie sich auch beteiligen wollen, drücken sie einfach den
Button unten links.
Musik: (M 2: Text: "... keine Ruh' ...".)
Geräusch: (Ping)
13
(etwas genervt)
Zitator 1:
Ah, wir haben schon jemanden. - Bitte! - Ja, Sie, Sie haben den
Button doch gedrückt, oder? Sie können jetzt ... ja ...
(vorsichtig)
Zitator 2:
... ich muss sagen, ich bin auch so ein Träumer, also Tagträumer.
Seit meiner frühsten Kindheit. Ich erinnere mich, also ich
erinnere mich ....
Zitator 1:
Ja!
Zitator 2:
... erinnere mich so bei Besuchen der Großeltern und Tanten und
Onkel. Da war ich dann weg, da habe ich mich weggebeamt. Das
konnte ich nicht aushalten, das Gequatsche. Ist heute noch so.
Wenn dann einer was zu mir sagt, fühle ich mich nicht
angesprochen. Das ist manchmal peinlich. Die fragen dann, wo
bist du denn wieder? Oder, letztens habe ich bei einer Sitzung
was vor mich hin gemurmelt. Da fragte mein Feind: "Was
erzählst du dir denn wieder?" das ist echt peinlich! Ich muss mich
dann richtig dazu zwingen, dabei zu bleiben, obwohl ...
Geräusch: (Töööt)
Zitator 1:
Danke! Das waren Ihre 30 Sekunden plus etliche Bonussekunden.
Musik: (M 4: Ab Anfang, kurz frei stehen lassen, dann dem Folgenden
unterlegen.)
(schnell, sehr sachlich)
14
Zitator 1:
Tagtraum, auch Wachtraum genannt: ein im Wachzustand
erfolgender Ersatz der Realität durch Ausdenken unwirklicher,
meist gewünschter Erlebnisse.
Musik: (Kurz aufblenden, dann wieder dem Folgenden unterlegen.)
Tagträumer wenden sich von der Wirklichkeit ab und ergeben
sich ganz und gar ihren Phantasien. Dabei haben Wunschträume
eine positive Valenz, Angstträume eine negative. Tagträume
kommen vor allem bei introvertierten labilen ...
Musik: (Aus.)
Erzählerin:
... damit Sie uns nicht wegträumen, verehrte Zuhörerin, verehrter
Zuhörer, hier der Zitatnachweis:
Zitator 2:
Clauß, G. 1976, Wörterbuch der Psychologie, Köln, PahlRugenstein Verlag, Seite 523 ...
Musik: (M 4: Ab Anfang dem Folgenden - etwas leiser dem O-Ton unterlegen.)
Zitator 1:
... kommen vor allem bei introvertierten labilen Menschen vor, in
normalem Ausmaß bei Pubertierenden.
O-Ton 17: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Kinder, die sich oft in die Traumwelt flüchten, leiden sehr oft an emotionaler
Unterversorgung.
Zitator 1:
Wenn es stärkere Formen annimmt, kann Tagträumen zum
Zeichen einer psychischen Fehlentwicklung (siehe Autismus)
werden und die Lebensbewältigung der Patienten erheblich
beeinträchtigen.
15
O-Ton 18: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Das wäre dann schon ein Fall fürs Krankenhaus.
Musik: (Aus.)
Erzählerin:
Nein, so schnell geht das nicht. Vorher kommen Psychotherapie
oder das Coaching - vielleicht bei Prof. Dr. Thomas Kretschmar
...
O-Ton 19: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Nach einigen Stunden von Diagnostik und Einführung starten wir dann mit
inneren Bildern. Also der Klient lehnt sich bequem auf diese Sessel hier
zurück, die Sie hier sehen, in eine Liegeposition oder in eine bequeme
Sitzposition ...
(zunehmend langsamer gesprochen)
Erzählerin: ... damit er therapeutisch träumen kann.
Psychopharmaka helfen auch, wenn das gelegentliche Wegdriften
zum Dauerzustand wird, wenn Tagtraum und Wirklichkeit sich
miteinander vermischen und wenn Psychiater die Diagnose
stellen: Dissoziative Symptomatik.
(O-Ton unter dem Vorangehenden einblenden und unter der Erzählerin
ausblenden)
O-Ton 20: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
... wenn man dem Drachen in die Augen sieht und sich lange genug
beschäftigt mit dem Gesichtsausdruck, mit dem, was mit dem Drachen
vielleicht los ist, dann wandelt er sich. Dann wandelt sich damit auch ein
zugrunde liegendes Gefühl, dass das Kind vielleicht früher abgewehrt hat,
dass man gesagt hat, albere nicht so rum und das dann gelernt hat, mit
diesem Gefühl auch umzugehen, es auszuhalten und umzugehen.
Erzählerin:
Der Drache ist ein Glücksdrache. Vielleicht kam er ja aus Michael
Endes "Unendliche Geschichte" und heißt Fuchur.
Doch zurück zur Wissenschaft!
16
Musik: (M 4: Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.)
(Passage sehr wissenschaftlich)
Zitatorin:
Dissoziation-Definition: Lexikon der Psychologie:
Zitator 1:
Prozess, durch den bestimmte Gedanken, Einstellungen und
andere psychologische Aktivitäten ihre normale Regulation zu
anderen, bzw. zur übrigen Persönlichkeit verlieren, sich abspalten
und mehr oder minder unabhängig funktionieren.
(bedeutsam)
Zitator 2:
Ich ist ein anderer!
Zitatorin:
Definitions-Dissoziation: Psychologie des Lexikons:
Zitator 1:
So können logisch unvereinbare Gedanken, Gefühle und
Einstellungen nebeneinander beibehalten und doch einen
Konflikt zwischen ihnen vermieden werden.
Zitator 2:
Ich ist ein anderer, aber - das stört mich nicht - und den anderen
auch nicht, so lange man uns in Ruhe träumen lässt.
Musik: (Aus.)
O-Ton 21: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Insofern ist der Tagtraum eine überraschende, subversive Struktur, eine
subversive Kraft ...
(verschwörerisch)
Zitator 2:
Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten.
Erzählerin:
Allerdings ist Vorsicht angebracht: Bei Konfusionen und
Realitätsverweigerung droht Pathologisierung. Zur Prophylaxe
hilft und half Pädagogik:
17
Zitator 1:
Hans Guck in die Luft.
Erzählerin:
Eine Geschichte aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann
(hier und im Folgenden sehr rhythmisch)
Zitator 1:
Wenn der Hans zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts allenthalben:
Musik: (M 5: Langsam unter dem Folgenden einblenden und unterlegen.)
(Einwürfe drohend)
Zitatorin:
Träum nicht!
Zitator 2:
Pass doch auf!
Zitatorin:
Starr nicht immer aus dem Fenster!
Zitator 1:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht,
Also daß ein jeder ruft:
"Seht den Hans Guck-in-die-Luft!"
Zitator 2:
Erzähle mir keine Lügengeschichten!
Zitatorin:
Deine Phantasie geht mal wieder mit dir durch!
Musik: (Aus.)
18
Musik: (M 6: Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 1:
Einst ging er an Ufers Rand
Mit der Mappe in der Hand.
Nach dem blauen Himmel hoch
Sah er, wo die Schwalbe flog,
Also dass er kerzengrad
Immer mehr zum Flusse trat.
Und die Fischlein in der Reih'
Sind erstaunt sehr, alle drei.
(Sequenz flüsternd aus dem Hintergrund)
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Zitator 1:
Noch ein Schritt! und plumps! der Hans
Stürzt hinab kopfüber ganz! -
Musik: (Aus.)
O-Ton 22: Heiko Ernst
Tagträume sind eigentlich in Verruf. Sie gelten als etwas - ja - Kindisches,
Kindliches, als etwas Minderwertiges, ein Abfallprodukt des Geistes
sozusagen, wir sind nicht bei einer Sache, wir sind nicht konzentriert, wir
schweifen ab. Es hat von vornherein immer den Geschmack gehabt der
Abwesenheit, des Rückzugs, des Eskapismus.
Musik: (M 6: Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.)
19
Zitator 1:
Doch die Fischlein alle drei,
Schwimmen hurtig gleich herbei;
Strecken's Köpflein aus der Flut,
Lachen, daß man's hören tut ...
Musik: (Aus.)
O-Ton 23: Heiko Ernst
Präsent zu sein, alles mitzukriegen, ist einerseits da, es beherrscht uns sehr,
und dieses Wegtreten ist eigentlich schon fast auf ganz andere Kanäle
abgeleitet. Also dieses Wegtreten in die eigene Innenwelt ist schon fast
verdrängt worden durch das Wegtreten in andere Welten, die mir aber
vorgegeben sind durch Handys, durch elektronische Geräte und so weiter.
Erzählerin:
Hans guckt heute nicht mehr in die Luft, er guckt aufs Handy. Das
verursacht auch Unfälle ...
Zitator 1:
Bauz! Perdauz! - da liegen zwei!
Hund und Hänschen nebenbei.
Erzählerin:
... doch diese Unfälle sind heute oft nicht auf die eigene
Phantasietätigkeit zurückzuführen, sondern auf Beschäftigungen
mit dem Smartphone. Wer mit anderen kommuniziert, entzieht
sich nicht. Das ist nichts anstößiges. Er bleibt anwesend in der
großen Kommunikationsgemeinde. Wer sich allerdings der
Gesellschaft entzieht, ist suspekt, meint der Philosoph Steffen
Dietzsch:
O-Ton 24: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Es wird zunehmend das Feindbild der Alltagskultur und auch der
Jugendkultur, die ja nur lebt in einer Netzwelt, die nur in sozialen, besser
gesagt: asozialen Netzen lebt, wo man gewissermaßen den Eindruck hat, dass
die den ganzen Tag nichts weiter machen als ihre Tagträume zu vermeiden.
20
Erzählerin:
Doch Tagträume sind gestattet, wenn sie nicht privat bleiben,
wenn sie kommuniziert werden:
Musik: (M 7: Text: "Komm, komm, sag uns deinen Traum ...")
Zitator 2:
Reden wir drüber!
Zitatorin:
Behalt es nicht für dich!
O-Ton 25: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
"Wollen wir reden?" -
Musik: (M 7: Text: " ... sag uns deinen Traum ...")
O-Ton 26: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
... das ist gar keine Forderung mehr, sondern ... der Alltag: Wir reden und
zwar zur gleichen Zeit und damit ist die klassische Form eines Diskurses, ist
über Bord geworfen worden. Es ist damit auch jede kommunikative Vernunft
ist damit erledigt. Es gibt dann auch keine wirklich unterscheidbaren
Neuigkeiten und Belanglosigkeiten. Und Neuigkeiten und Belanglosigkeiten
- das zerfließt alles in eins.
Musik: (M 7: Text: " ... sag uns deinen Traum ...")
Zitator 2:
Bleib nicht allein damit.
Zitatorin:
Vergrab' dich nicht in dich selbst!
Zitator 2:
Lass' es raus!
Musik: (M 7: Text: "Komm, komm ...")
(aggressiv auffordernd)
Zitator 1:
Sie kennen das ja: Einfach unten links den Button drücken, unten
links, ja. Dann sagen sie es uns ...
Musik: (M 7: Text: "Es ist so schön ...")
21
Geräusch: (Ping)
(etwas genervt, parodierend)
Zitator 1:
Ja, schöhön. Legen Sie los.
(vorsichtig)
Zitatorin:
... ich ... also ich halte es oft nicht einfach mehr aus: Keine Lust
morgens aufs Aufstehen, aufs Duschen, aufs Zähneputzen, auf
die Arbeit, auf den langweiligen Feierabend, auf alles. Keine
Lust mehr. Dann beam ich mich weg, dann verabschiede ich
mich, dann bin ich weg, in meinem Tagtraum, quasi auf der
Flucht. Ich kann dem nicht widerstehen. Ich lasse mich einfach
fallen und treibe dahin in mein privates Paradies, bin bei meinem
einfühlsamen Lover. Plötzlich merke ich, dass es schon spät ist,
zu spät. Ich komme mal wieder zu spät zur Arbeit und mein Chef
sagt ...
Geräusch: (Töööt)
Zitator 1:
30 Sekunden. Ende! Aber schön, dass wir darüber gesprochen
haben.
O-Ton 27: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Das ist offensichtlich mit Tagträumen auch verbunden, diese Flucht, ist aber
etwas, was ich randständig nur berühren würde.
Erzählerin:
... aber das gab es schon immer: Löcher in die Luft gucken,
antriebslos dasitzen, sich von der feindlichen Außenwelt in die
besseren Innenwelten flüchten,
Zitator 2:
.... Hinterstübchen ...
22
Erzählerin:
... Kommunikationsverweigerung, Handlungshemmung. Die
Kampfansage der irritierten Außenwelt lautete dann:
(gesprochen (azedia")
Zitator 1:
Acedia!
Erzählerin:
Eine der sieben Todsünden. Wer sie begeht, landet in der Hölle.
"Acedia" ist schwer zu übersetzen. Am besten mit:
Zitator 1:
Trägkeit, Müdigkeit, Erschöpfung, Unlust, Gleichgültigkeit ...
Erzählerin:
Virulent wurde dieses Phänomen in den ersten christlichen
Jahrhunderten. Die sich in die Wüste zurückziehenden Mönche
verfielen in diese äußerliche Trägheit, hinter der sich offenbar
eine lebhafte Innenwelt verbarg, der die Außenwelt misstraute.
Musik: (M 8: Unter dem Folgenden einblenden und unterlegen.)
Und manchmal erhielten die Mönche in ihrer Innenwelt Besuch
von äußerst raffinierten Teufelchen. Diese tarnten sich als
verführerische Frauen mit eindeutigen Absichten. Viele Mönche
kapitulierten, und so galt die Acedia als Einfallstor für weitere
Sünden - etwa die der Wollust. Ähnlich wie den Mönchen erging
es später Nonnen mit einem zudringlichen Engel:
(leicht verzückt)
Zitatorin:
Er war nicht groß, sondern klein und sehr schön. ... In den Händen
sah ich einen langen goldenen Wurfpfeil ...
Erzählerin:
Der Heiligen Theresia von Avila gelang es allerdings, derlei
Tagträume als fromme Erscheinung zu sublimieren:
23
Zitatorin:
Es kam mir vor, als durchbohre er mit dem Pfeile einige Male
mein Herz bis ins Innerste. ... Die Wonne, die dieser ungemeine
Schmerz verursachte, war so überschwänglich...
Musik: (Aus.)
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen!
Erzählerin:
... gegen das Verschwinden frommer Menschen in ihren
Innenwelten. Das sagten sich einige Hüter der christlichen
Ordnung. Die Lösung:
Zitator 1:
Ora et labora! - Bete und arbeite!
Musik: (M 9: Ab Anfang bis etwa 0.20, mehrfach aneinander und dem
Folgenden unterlegen.)
Erzählerin:
Die Mönche und Nonnen wurden in den Klöstern zu einer
tagtraumvertreibenden asketischen, disziplinierten, rationalen
und arbeitsamen Lebensführung angehalten. Damit gewann die
disziplinierte Arbeit an Bedeutung, außerhalb der Klostermauern
zuerst bei den Calvinisten und anderen protestantischen
Glaubensgemeinschaften des 16. und 17. Jahrhunderts. Der
Soziologe Max Weber spricht von „innerweltlicher Askese“ und
der Entwicklung eines "protestantischen Arbeitsethos".
Zitator 1:
Die rastlose Berufsarbeit … allein verscheucht den religiösen
Zweifel und gibt die Sicherheit des Gnadenstandes.
24
Erzählerin:
Die Calvinisten arbeiteten nicht, um genießen zu können, sondern
weil sie glaubten, sie könnten am Erfolg ihrer Arbeit ablesen, ob
Gott sie für die ewige Seligkeit im besseren Jenseits vorgesehen
habe. Ihr ganzes Leben orientierte sich an der Arbeit, war rational
und diszipliniert. Konzentrierte Arbeit als Tagtraumkiller. Muße,
freie Zeit, Rückzüge in Hinterstübchen, Vergnügen aller Art,
Gefühlsäußerungen waren verpönt. Dieses Arbeitsethos schuf die
ideologische oder religiös-psychologische Grundlage des
Kapitalismus, sagt Max Weber, ein Klassiker der Soziologie.
(Sequenz flüsternd aus dem Hintergrund: Hart, militärisch, schnell)
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Erzählerin:
Arbeit! Arbeit heißt Fortschritt: Fortschreitende Naturerkenntnis,
technischer Fortschritt, wissenschaftlicher Fortschritt, sozialer
Fortschritt, Fortschritt der Menschheit. Unvereinbar mit diesem
Arbeitsverständnis war das Nichtstun mit offenen Augen, das
scheinbar sinn- und zwecklose Tagträumen.
Zitator 1:
Arbeit – der Motor der Geschichte.
Erzählerin:
Deshalb ging es Marx und Co um eine Befreiung der Arbeit, nicht
um eine Befreiung von der Arbeit. In der befreiten
gesellschaftlichen Arbeit erfüllt sich das Menschsein.
25
Musik: (Ausblenden.)
Zitator 2:
Immer muss etwas geschehen.
Erzählerin:
Das Verschwinden in den unkontrollierbaren Labyrinthen der
Tagträume bringt die Menschen nur auf merkwürdige Ideen:
Zitator 2:
Arbeit ist die beste Polizei ...
Erzählerin:
... lästert Friedrich Nietzsche.
Zitator 2:
Jeder fühlt es, dass die Arbeit jeden im Zaume hält und dass sie
die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des
Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht.
Musik: (M 8: Unter dem Folgenden einblenden und unterlegen.)
Erzählerin:
Und wenn die disziplinierte Arbeit es nicht schafft, die heimlichen
Rückzüge in lustvolle Hinterstübchen zu verhindern, dann
greifen vielleicht die religiösen Sanktionsandrohungen:
Zitator 1:
Was sagt Jesus?
Erzählerin:
Jesus sagt - beziehungsweise Matthäus lässt Jesus in seinem
Evangelium sagen:
Zitator 1:
Wer eine Frau anschaut, um sie zu begehren, hat in seinem
Herzen schon die Ehe mit ihr gebrochen.
26
Erzählerin:
... anschauen reicht, sich hineinträumen in bestimmte Situationen
schon lange. Wir können in Tagträumen sündigen.
Tagtraumsünden sorgen für immerwährende Schuldgefühle: Wer
denkt schon an nichts Böses, wenn er an nichts Böses denken
soll? Für religiöse Fundamentalisten aller Couleur ist der
Tagtraum ein Alptraum.
Musik: (Aus.)
O-Ton 28: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Der Alptraum ist jenseits von gut und böse
Erzählerin:
Ja, der Alptraum ganz sicher auch, aber Steffen Dietzsch meint
hier den Tagtraum. Nebenbei bemerkt: Wer träumt schon gern
einen Tagtraum als Alptraum? Doch es gibt sie auch:
Unfreiwillige Tagträume, zwanghafte Angstträume, die immer
wieder kehren:
Zitator 2:
Autounfall des Kindes, Tod eines geliebten Menschen, das Haus
brennt ab, das Flugzeugt stürzt ab, Bein-, Schädel- und
Armbrüche, Herzinfarkte ...
O-Ton 29: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Das wäre dann schon ein Fall fürs Krankenhaus.
Zitator 1:
... jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine
Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit.
Erzählerin:
... also auch eine Beinbruchphantasie bei sich und anderen, sagt
Sigmund Freud.
27
O-Ton 30: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Der Tagtraum ist, ist jenseits von gut und böse, jenseits von Wahrhaftigkeit
und Falschheit. Das ist meine, mir eigene und nur von mir zu leistende,
meine ganz souveräne Selbstkonstruktion über mich selbst, der Tagtraum.
Erzählerin:
Kurzum: Ich kann träumen, was ich will. Das geht niemanden
etwas an:
O-Ton 31: Prof. Dr. Steffen Dietzsch 5.37
Das ist auch wichtig, dass Tagträume nicht verwirklicht werden müssen. Das
ist einer ihrer Vorteile, dass sie diesen Zwang - philosophisch gesagt - von
der Theorie zur Praxis, dass man diesem Zwang enthoben ist im Tagtraum.
Erzählerin:
Tagträume sind Spiele: Machtspiele, Rachespiele, Liebesspiele,
Glücksspiele, Spiele, die ermächtigen, stark und berühmt machen
...
O-Ton 32: Heiko Ernst
Ich möchte beachtet werden, ich möchte im Mittelpunkt stehen, ich möchte
berühmt werden. Da gibt es auch ein paar Studien dazu: "Fame" also Ruhm
ist ein ganz starker Stoff, der da zu den Tagträumen motiviert.
Geräusch: (Applaus, Gröhlen etc.)
Zitatorin:
Germany's next Topmodel ...
Zitator 2:
Superstar.
Zitatorin:
Superköchin.
Zitator 2:
Superman.
Zitatorin:
Superbäcker, Fußballstar, Supergirl ...
28
O-Ton 33: Heiko Ernst
Tagträume und Spiel sind sehr verwandte Dinge. Denken Sie an das
Kinderspiel, wo ja das Kind aus einem Stock das Schwert macht und aus
einem Topf ein Helm, und sich in eine Welt hinein phantasiert, eine
Ritterwelt in dem Fall oder mit Puppen spielt und diese Puppen gewinnen
plötzlich an Lebendigkeit. Also dieses Tagträumen und Spielen hängen eng
zusammen ...
Erzählerin:
Spielerisch können wir geplante Handlungen vorwegnehmen -
O-Ton 34: Heiko Ernst
Wie soll es laufen? Was will ich eigentlich? All das kann ich im inneren
Probehandeln - das ist der Tagtraum nämlich auch oft - durchspielen in allen
Varianten, positiven, negativen usw.
Erzählerin:
... zum Beispiel die Begegnung mit dem unangenehmen
Nachbarn, mit dem Chef ...
(verhalten)
Zitator 2:
... und ich haue ihm eine in die Fresse ...
Erzählerin:
... oder wir erinnern uns später daran, was vorgefallen ist,
imaginieren einen anderen, vielleicht angenehmeren Verlauf
eines Gesprächs und fühlen uns dabei besser, beruhigen uns,
wenn wir eine Niederlage einstecken mussten. So bekommen wir
Distanz zu einer Realität, die Präsenz und Konzentration
verlangt! Doch ein vollständiges Abdriften in ferne Welten ist
verboten.
(Sequenz schnell.)
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
29
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Zitator 2:
Deine Phantasie geht mit dir durch!
Zitatorin:
Werde endlich erwachsen!
Zitator 2:
Nimm mal die Realität zur Kenntnis!
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Musik: (M 10. Ab 0.04, bei 0.07 dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 1:
Wunsiedel war einer von den Leuten, die morgens, kaum erwacht,
schon entschlossen sind zu handeln. "Ich muss handeln", denken
sie, während sie energisch den Gürtel ihres Bademantels
zuschnüren. "Ich muss handeln", denken sie, während sie sich
rasieren. Auch die intimeren Verrichtungen lösen Befriedigung
bei diesen Leuten aus: Wasser rauscht, Papier wird verbraucht.
Wenn er sein Büro betrat, rief er seiner Sekretärin als Gruß zu:
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen!
Erzählerin:
Und diese antwortete – in Heinrich Bölls Erzählung – frohen
Mutes:
(Sekretärin!)
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen!
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen!
30
Erzählerin:
So folgt der erwachsene, zivilisierte Mensch dem Realitätsprinzip
- der Welt der Arbeit, der Pflichterfüllung, der gesellschaftlichen
Konventionen. So wird das Lustprinzip gedeckelt.
Musik: (M 11: Text: "Tagtraummelodie")
(sehr gelangweilt)
Zitator 1:
Wie immer. Button drücken!
Musik: (M 2: Text: "... und ich fühl mich ....")
Geräusch: (Ping)
Musik: (M 2: Text: "... wie noch nie.")
(etwas genervt)
Zitator 1:
... und wie fühlen Sie sich?
Musik: (M 2: Text: "... und ich fühl mich wie noch nie.")
(schleimig, geil)
Zitator 2:
... großartig, in meinen Tagträumen. Also ich habe sexuelle
Tagträume. Wenn ich so durch die Straßen gehe, dann stelle ich
mir vor, dass mir eine Fee erscheint und dann habe ich drei
Wünsche frei. Und ich wünsche mir dann, dass meine Nachbarin,
also die mit diesen Wahnsinns... ...
Geräusch: (Töööt)
Zitator 1:
Danke!
Erzählerin:
Sexuelle Phantasien sind ein fester Bestandteil der Weltliteratur:
Anais Nin ...
31
Zitatorin:
Ich träumte von einem großen, starken Mann ....
Erzählerin:
... bereits in ihrer Kindheit. Später schrieb sie Romane über ...
O-Ton 35: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
... viele Dinge, die für das Radio zu privat sind ...
Erzählerin:
Samuel Pepys, der englische Staatssekretär und
Tagebuchschreiber aus dem 17. Jahrhundert dachte sogar an sich
und die Königin und phantasierte...
O-Ton 36: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
... viele Dinge, die für das Radio zu privat sind ...
Musik: (M 11: Text: "Tagtraummelodie")
O-Ton 37: Heiko Ernst
Tagträume sind eigentlich in Verruf. Das zieht sich ein bisschen auch durch
die Psychologiegeschichte. Immer mal wieder tauchte ein Interesse am
Tagtraum auf, namentlich bei Sigmund Freud ...
Musik: (M 12. Ab Anfang, bei 0.02 aus.)
Zitator 1:
Der Glückliche fantasiert nie, nur der Unbefriedigte.
Erzählerin:
... Tagträume sind für Freud schnöde Ersatzbefriedigungen
Zitator 2:
Oh-nah-nie ...
Zitatorin:
Masturbation!
Musik: (M 12. Ab 0.03 dem Folgenden unterlegen.)
32
Zitator 1:
Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und
jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur
der unbefriedigenden Wirklichkeit.
Musik: (Aus.)
Erzählerin:
... räumt Freud ein, verurteilt aber derlei kleine Fluchten: Statt
sich tapfer der Realität zu stellen und die Triebwünsche zu
sublimieren, wird in Tagträumen wild herum phantasiert.
Zitator 1:
Realitätsverweigerung! Realitätsverleugnung!
Erzählerin:
Und Freud warnt: Je archaischer ihr Inhalt und je häufiger ihre
Verwendung, desto gefährlicher sind Tagträume.
Musik: (M 12. Ab Anfang, bei 0.02 aus.)
Zitator 1:
Der Erwachsene schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie
vor anderen ...
O-Ton 38: Heiko Ernst
Tagträume kreisen um unsere heimlichsten Wünsche, unsere mächtigsten
Triebe, unsere Aggressionen, unsere Begierden, unsere sexuellen Wünsche
und so weiter.
Musik: (M 12. Ab 0.18 dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 1:
Es ist kein Zweifel, dass das Verweilen bei den
Wunscherfüllungen der Phantasie eine Befriedigung mit sich
bringt.
Musik: (Aus.)
33
Erzählerin:
Zitat Sigmund Freud. Doch, wie gesagt, leider - oder Gott sei
Dank - je nachdem: Tagträume sind nur eine schwache ErsatzBefriedigung. Wenn der Mensch seine Begierden immer
rücksichtslos befriedigen würde, sie realisieren würde, so Freud,
wäre kein soziales Zusammenleben möglich.
O-Ton 39: Heiko Ernst
Insofern hat der Tagtraum manchmal im günstigen Falle auch präventive
Wirkung. Es wird vieles nur in der Phantasie ausgelebt. Sie reicht dann
manchmal schon.
Erzählerin:
Tagträume sind also besser als nichts - und sozial verträglich. Der
Psychologe Heiko Ernst hebt hervor, dass ...
O-Ton 40: Heiko Ernst
... dass diese Gedanken unglaublich wichtig sind, dass diese negativen
Phantasien, Rachephantasien, sexuellen Phantasien, Dinge, die man wirklich
nicht aussprechen kann oder mag, weil sie verpönt sind, weil sie strafwürdig
sind oder riskant sind oder unethisch sind - dass auch hier der Tagtraum eine
ganz wichtige Funktion hat.
Musik: (M 12. Ab 0.30 dem Folgenden unterlegen.)
Erzählerin:
Allerdings:
Zitator 1:
Der Mensch findet mit der kargen Befriedigung, die er der
Wirklichkeit abringen kann, eben nicht sein Auskommen.
Musik: (Aus.)
Erzählerin:
... er ist, so Freud, nie vollständig zufrieden. Er bleibt
unentrinnbar im Hamsterrad seiner Tagträume und Sehnsüchte
gefangen und läuft und läuft ...
34
O-Ton 41: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Als Mensch hat man die eigene Aufgabe, dass man sich über die Jahre
bringt, die man hat.
Erzählerin:
Ja, ja ...
Musik: (M 13. Ab Anfang, sehr kurz stehen lassen dann unter dem O-Ton
ausblenden.)
O-Ton 42: Heiko Ernst
Es gibt regelrechte Lieblingstagträume: Das Haus am Meer oder die
Traumfrau oder irgend etwas und man kehrt immer wieder zu diesem
Wunsch zurück ...
Erzählerin:
Fortsetzungstagträume:
Musik: (M 13. Ab Anfang oder dem Folgenden unterlegen.)
Immer wieder malen wir uns eine Situation aus, immer wieder
verändern wir sie, fügen Details hinzu. Immer wieder schieben
wir kleinere Konflikte ein, lösen sie. Immer wieder entwickeln
wir das Geschehen fort, fügen neue Stränge hinzu, lassen neue
Personen auftreten. Wir freuen uns mit unserem
Phantasiepersonal, leiden mit ihm, trauern mit ihm, hassen mit
ihm, lieben mit ihm, wir werden innerlich warm und weich ...
Geräusch: (Collage aus Telefonklingeln, Türklingeln etc.)
... - jedenfalls solange wir mit unseren Phantasien nicht
unterbrochen werden.
Musik: (M 13. Kurz aufblenden, dann wieder Folgenden unterlegen.)
(zunehmend märchenhaft)
Wenn wir uns mit einem Langzeittagtraum langweilen,
arrangieren wir eine neue Geschichte mit neuem Personal
vermutlich aber nach ähnlichen Mustern: Leidenschaftliche
35
Liebesromane für die unbefriedigten Lüste und ungestillten
Sehnsüchte. Heldenromane für unser gebeuteltes Ego. Zur
Besänftigung unseres ruhelosen Gemüts: Idyllen aus
wunderschönen Frühsommerlandschaften, aus wellenumspülten
Südseeinseln, vielleicht sogar sind wir auf heimeligen Planeten in
fernen Galaxien unterwegs mit eigentümlichen Pflanzen,
wundersamen Wesen ...
Musik: (Aus.)
(mahnend)
Zitator 2:
Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ...
Musik: (M 19. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.)
Erzählerin:
Immer wieder gab es Menschen, die andere in ihr Hinterstübchen
einluden und damit Irritationen auslösten. Etwa Charles Fourier.
(persönlich)
Zitator 1:
Ich mag Pastetchen.
Erzählerin:
Fourier träumte von Butterbirnen und von nicht zu schweren
Pastetchen. So widmet er sich ihnen ...
(persönlich)
Zitator 1:
Ich mag Pastetchen.
Erzählerin:
... und anderen kulinarischen Ereignissen in seinem Werk fast
ebenso so detailiert wie der Liebe, genauer: seinen sexuellen
Tagträumen.
(persönlich)
36
Zitator 1:
Ich habe festgestellt, dass ich selbst bis zum Alter von dreißig in
Unwissenheit war, was meine Neigung zu Lesbierinnen
anbelangt.
Erzählerin:
Charles Fourier gilt als utopischer Sozialist. Er lebte zwischen
1772 und 1837. Die politische Konkurrenz, die
"wissenschaftliche" Sozialisten, also Marx, Engels und Co,
hielten ihn für völlig durchgeknallt, weil er seinen Sozialismus
phantasievoll ausschmückte: Er kreierte eine abwechslungsreiche
Arbeits- und Liebesordnung.
Zitator 1:
Die Natur treibt uns zur Liebesorgie.
Erzählerin:
Allerdings bedarf das Vergnügen laut Fourier gewisser
Voraussetzungen - die wichtigste: Menschen müssten in
Großkommunen leben. Wenn sich die Menschen in Gruppen von
etwa 2000 zusammenschlössen, werde jeder für seine
individuellen Neigungen Gegenparts finden. Sei das erst einmal
zufriedenstellend organisiert, würde sich sich peu à peu der ganze
Kosmos ändern. Im bevorstehenden Zeitalter der Harmonie,
prognostiziert Fourier ...
Zitator 1:
... wird die Nordpolkrone geboren ...
Erzählerin:
Sie wird überall auf der Erde für ein angenehmes, stets
gleichbleibendes Klima sorgen. Die Meere würden dann nicht
mehr salzig, sondern nach Zitronenlimonade schmecken. Der
Mensch werde dann durchschnittlich 2,30 Meter groß und 144
Jahre alt werden.
37
Es gäbe auf den Straßen Zebraspuren - keine Zebrastreifen,
sondern Spuren, die für Zebras reserviert seien. Die schädlichen
Tiere - Haie, Wölfe, giftige Reptilien u.a. - würden durch eine
Reihe von nützlichen Neubildungen ersetzt, der Löwe durch den
Anti-Löwen; und der Anti-Löwe werde dann, so Fourier ...
Zitator 1:
... leicht im Schritt mit raschem Trabe springen, und der Reiter
wird auf seinem Rücken so weich sitzen wie in einem
Federwagen. Es wird ein Vergnügen sein, diese Welt zu
bewohnen, wenn man solche Diener haben wird. ...
Erzählerin:
Fouriers Visionen akzeptieren keine anatomischen Grenzen: Den
Menschen werde ein neues Organ wachsen am Ende eines
Schwanzes. Mit diesem Organ nähmen die Menschen die
ätherische Fluida auf und könnten problemlos mit den
Bewohnern anderer Sterne in Kommunikation treten.
Zitator 1:
Da die Planeten androgyn sind wie die Pflanzen, kopulieren sie
mit sich selbst und mit anderen Planeten; so wird die Erde durch
Kopulation mit sich selbst, durch Verschmelzung ihrer typischen
Wohlgerüche, wobei das Männliche dem Nordpol und das
Weibliche dem Südpol zuneigt, die Kirsche hervorbringen, die
sub-pivotale Frucht der roten Früchte.
Erzählerin:
Vielleicht sollte man Tagträume dieser Extravaganz besser für
sich behalten, vielleicht aber auch nicht.
Musik: (Aus.)
38
O-Ton 43: Heiko Ernst
Im Prinzip ist es das Privateste, was wir besitzen, diese Innenwelt.
Musik: (M 12. Ab Anfang, bei 0.02 aus.)
Zitator 1:
Dürfen wir wirklich den Versuch machen, den Dichter mit dem
"Träumer am helllichten Tag", seine Schöpfungen mit
Tagträumen zu vergleichen?
Erzählerin:
... das fragt Sigmund Freud. Er ist ein bisschen vorsichtig und
bejaht diese Frage für die ...
Zitator:
... anspruchslosen Erzähler von Romanen, Novellen und
Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und
Leserinnen finden.
Erzählerin:
Freud macht sich lustig über Tagträume und Romane, in denen
der tapfere Held todesmutig Leben rettet, Feinde massakriert und
selbst ungeschoren davon kommt.
Musik: (M 12. So timen, dass bei "Musik aus", das Stück endet.)
Zitator 1:
An diesem verräterischen Merkmal der Unverletzbarkeit erkennt
man ohne Mühe - Seine Majestät das Ich, den Helden aller
Tagträume wie aller Romane.
Erzählerin:
Psychoanalyse kann grausam sein. Doch Freud rettet den wahren
Dichter vor seinem trivialen Tagtraumkonkurrenten:
39
Zitator 1:
.... der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes
durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch
rein formalen, das heißt ästhetischen Lustgewinn.
Musik: (Aus.)
Zitator 2:
Ich schenke seelenruhig ein Glas kochendes Wasser ein und
schütte es dem Gast in die Fresse. ... Und ich sage zu ihm: "Es ist
keine Tugend mehr in meinem Herzen."
Erzählerin:
Daniil Charms Literaturstückchen muten vielleicht etwas
"rabulistisch" an, bringen es aber auf den Punkt.
Zitator 2:
"Scheren Sie sich raus!" Und ich stoße den Gast hinaus.
Musik: (M 14. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.)
Erzählerin:
Literatur besteht nicht nur aus Tagträumen, sie werden hier auch
thematisiert, wie in Gustave Flauberts "Madame Bovary":
Zitatorin:
Das Bild des Vicmonte begann von sich aus langsam zu erstehen,
und je mehr die junge Frau davon träumte, desto deutlicher
wurde er mit jedem Tag …
Erzählerin:
Madame Bovary setzt ihre taggeträumten Sehnsüchte in die Praxis
um, scheitert und macht ihrem Dasein mittels Arsen ein
schmerzhaftes Ende.
Zitator 2:
Fein sachte, lieber Leser! ...
40
Erzählerin:
Tagträume, die nicht verwirklicht werden, die sich selbst
genügen, spiegeln sich überall in der Literatur und auf
unterschiedlichste Weise.
Zitator 2:
Fein sachte, lieber Leser! ...
Erzählerin:
... an die Leserinnen dachte der englische Erzähler Laurence
Sterne nicht, als er sich in seinem „Tristram Shandy“ in
Abschweifungen verwickelt, in die auch erinnernde Tagträume
geraten ...
Zitator 2:
... ich meine mit meines Urgroßvaters Nase das äußere
Riechorgan oder denjenigen Teil des Menschen, der ihm
prominent aus dem Gesichte ragt, - und der, wie die Maler sagen,
bei guten famosen Nasen und wohlproportionierten ...
("herunterlesen"(ohne Punkt und Komma), ab "Riechorgan" unter dem
Vorangehenden einblenden und dann auch in Kreuzblenden unter das Folgende.
Die Zitatorin nur kurz freistehen lassen, und dann wieder nach der Erzählerin
aufblenden.)
Zitatorin:
... solange ich die beiden nicht direkt unter der Nase habe wie bei
dieser Schlampe damals der Mary die wir in der Ontario Terrace
hatten die sich immer den Hintern ausstopfte um ihn zu reizen
schlimm genug den Geruch von diesen angemalten Weibern von
ihm runterzukriegen so einmal oder zweimal hatte ich ja direkt
einen Verdacht wo ich ihm dann gesagt habe er soll mal näher
rankommen an mich wie ich das lange Haar fand auf seinem
Rock und dann schon sowieso wie ich in die Küche kam und er
so tat wie wenn er Wasser trinkt ...
41
Erzählerin:
Bewusstseinsströme sind wie Tagtraumströme - hier in James
Joyce's "Ulysses". Sie fließen dahin, ohne Ziel, versickern und
tauchen wieder auf.
(kurz Zitatorin aufblenden und hat aus.)
Musik: (Aus.)
Musik: (M 7: Text: "Es ist so schön in der Welt der Träume…")
(energisch)
Zitator 1:
Ja, noch einmal. Button drücken!
Musik: (M 7: Text: "... Träume ....")
Geräusch: (Ping, Ping, Ping)
(genervt)
Zitator 1:
Ja, ja, ja. Einmal drücken reicht vollkommen!
(scheu)
Zitatorin:
... Entschuldigung. Tut mir wirklich leid … vielleicht habe ich zu
lang gedrückt …
(genervt)
Zitator 1:
… okay, okay, was möchten Sie uns mitteilen?
Zitatorin:
… also, ich habe wirklich nur einmal gedrückt. Das ist doch hier
unten links, oder?
Geräusch: (Ping)
Zitator 1:
Ja, ja, jetzt sagen Sie schon.
42
Zitatorin:
… ja, also, ich wollte sagen, dass hilft auch bei der Selbstfindung,
was man so träumt. Also wenn ich - nur ein Beispiel - aggressive
Tagträume habe, dann weiß ich, ich darf meine Wut nicht zu sehr
in mich rein fressen. Wenn ich von einem Liebhaber träume, also
dann weiß ich, was mir fehlt. Wenn ich von einem entspannten
Alltag mit viel Natur und Tieren und so träume, ohne ...
Geräusch: (Töööt)
O-Ton 44: Heiko Ernst
Ich will eine Veränderung von dem, was ich in der Realität erlebe, im
Tagtraum erleben. Das ist der Sinn und Zweck eigentlich, dieses Wegtretens,
dieses Abschweifens.
Erzählerin:
Veränderung fängt im Kopf an, auch im Tagtraum, meint Heiko
Ernst:
Zitator 1:
Innere Bilder können unglaubliche Macht über uns ausüben - im
Guten wie im Schlechten ...
(Sequenz flüsternd unter das Vorangehende und Folgende)
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Zitator 2:
Es muss etwas geschehen ...
Zitatorin:
Es wird etwas geschehen ...
Erzählerin:
Warum sollten Tagträume und ihre Bilder nicht dazu beitragen,
dass etwas geschieht?
43
O-Ton 45: Heiko Ernst
Der Tagtraum muss reflektiert werden. Es reicht nicht ihn zu haben und mit
ihm zufrieden zu sein und zu sagen: Es ist halt so ...
Erzählerin:
... wie wäre es also mit einer Tagtraumtherapie ...
Musik: (M 15: Dem Folgenden dezent unterlegen.)
Zitator 1:
"Die Kraft der inneren Bilder nutzen. Seelische und körperliche
Gesundheit durch Imagination."
Erzählerin:
Ein Buch mit diesem Titel schrieben Thomas Kretschmar und
Martin Tzschaschel.
O-Ton 46: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Manchmal ist der Tagtraum aber auch eine ganz gute Lösung, um dann etwas
völlig Neues zu finden. Zum Beispiel hatte ich einen Klienten, der zu mir
kam, der hatte die berufliche Frage, ob er sich verändert oder gleich bleibt.
Wir haben das dann im Traumbild dargestellt durch eine Landschaft mit
einer Brücke und einem Fluss und die Frage war, geht er über die Brücke
oder bleibt er hier.
Erzählerin:
Prof. Dr. Thomas Kretschmar ist Chef des "Berliner Mind
Institute" in der Friedrichstraße/Ecke Unter den Linden. Teure
Gegend. Büro im "Excellent Business Center"! So lässt Thomas
Kretschmar auch Politiker, Unternehmensberater und andere
wichtige Menschen über imaginäre, also herbeigetagträumte,
Brücken gehen
O-Ton 47: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Und nachdem wir uns länger mit diesem Bild auseinandergesetzt haben,
zeigte sich dann plötzlich eine kleinere Brücke daneben, er ging da drauf und
hüpfte da rum und das machte ihm richtig Spaß, obwohl die Brücke viel
wackliger war.
Zitator 1:
No risk, no fun.
44
Erzählerin:
Die Methode ist unter der Bezeichnung "Katathym-Imaginative
Psychotherapie" Mitte des 20. Jahrhunderts von Hanscarl Leuner
entwickelt worden.
Zitator 1:
Katathym heißt: aus dem Gefühl heraus, nicht vom Willen
gesteuert.
O-Ton 48: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Nach einigen Stunden von Diagnostik und Einführung starten wir dann mit
Inneren Bildern. Also der Klient lehnt sich bequem auf diese Sessel hier
zurück, die Sie hier sehen,
Erzählerin:
"Stressless-Sessel" in beige - rückklappbar, sehr bequem ...
(Geräusch: Tiefes Atmen dem O-Ton ab "Atmung" unterlegen.)
O-Ton 49: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
... um auf diesem Sessel zu spüren, wie der Körper heute so da ist. - Und
vielleicht bemerken Sie auch, wie Ihre Atmung ganz gut so ein und aus
geht. - Und wie das Blut durch die Adern fließt und an manchen Stellen so
ein ganz leichtes Kribbeln erzeugt. - - 9.01 Alle Gedanken an Vergangenheit
und Zukunft dürfen aus dem Fenster fliegen und Sie sind nur noch hier.
Erzählerin:
... gemeint ist der Autor dieser Sendung, der ganz entspannt in
tiefer Bauchatmung im Stressless-Sessel liegt ...
O-Ton 50: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Und während Sie sich erlauben, tiefer und tiefer in die Entspannung zu
fallen, ist ein Teil von Ihnen hellwach und Sie stellen sich vor ihrem inneren
Auge irgend eine Wiese vor, ganz egal, was kommt. Alles, was kommt, ist
gut ...
Erzählerin:
Es war übrigens die leicht modifizierte Wiese mit Eiche, an der
der Autor gelegentlich spazieren geht.
O-Ton 51: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
RC: Die ist leicht ansteigend zum Horizont. Im Hintergrund habe ich einen
Wald und vorne ist eine Eiche auf der Wiese. Die Wiese ist rechts und links
in einem großen Abstand von Bäumen begrenzt. Nach vorne hin sehe ich den
Horizont. TK: Ja, wie ist das Wetter auf Ihrer Wiese? RC: Ah, wunderbar.
45
Schönes Sommerwetter, nicht zu warm, leichter Wind. TK: Ja. Kann man
etwas riechen? Ja, von hinten ist es ein bisschen muffig ...
Erzählerin:
... muffige Gerüche verweisen auf Probleme. Bäume übrigens
auch. Das sind Vaterfiguren.
O-Ton 52: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
TK: Ja. Was ist es für ein Gefühl, auf dieser Wiese zu stehen, auf den
Horizont zu sehen? - - RC: - - - Es ist ein Gefühl von Weite. TK: Ja. Seien
Sie mit dem Gefühl der Weite. - - -
Erzählerin:
... und mit diesem Gefühl der Weite geht es die Wiese hinauf.
Von dort aus sind Bauernhäuser zu sehen inmitten von
Obstbäumen - einfach schön ...
O-Ton 53: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Kommen Sie mit Ihren Gedanken bitte wieder zurück in das Jetzt und Hier in
diesem Raum. (leichte Geräusche) RC: Ja. (Geräusche)
(Geräusch: Noch einmal laut ausatmen.)
Erzählerin:
Das war allerdings nur eine extrem verkürzte Variante des
Beginns einer "Katathym-Imaginativen Psychotherapie".
O-Ton 54: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Viele Fragen, die da in Ihrem Traum waren, kann man dann auch vertiefen.
Die Frage, warum Sie den Baum nicht sehen wollten ... und das führt einen
dann - Therapie ist ja nicht für fünf Minuten - wie wir das hier gemacht
haben, sondern viele, viele Stunden, manchmal ein paar hundert Stunden,
führt das dann zu tieferliegenden, grundsätzlichen Gefühlssituationen,
Erinnerungen an Kindheit und Erinnerungen an Erlebnisse, die wir dann hier
durcharbeiten.
Musik: (Aus.)
Erzählerin:
Kurzum: Tagträume werden nutzbar gemacht, um Klienten
funktionstüchtig zu halten oder um sie zu optimieren.
Musik: (M 16: Ab 0.31 dem Folgenden unterlegen.)
46
Das gilt auch für die Therapierung der Gesellschaft: Tagträume
können helfen, eine bessere Gesellschaft herbeizuführen und den
Menschen zu erlösen - das meinte jedenfalls Ernst Bloch in
seinem Werk "Das Prinzip Hoffnung".
Zitator 1:
Der Inhalt ... der Tagfantasie ist offen, ausfabelnd, antizipierend,
und sein Latentes liegt vorn ...
Erzählerin:
... vorn, in der Zukunft. In Tagträumen verbergen sich - neben
allerlei privater Wünsche: das Haus am Meer, das Erschlagen des
Chefs, der perfekte Liebhaber etc. ... in ihnen verbergen sich
Utopien von einer besseren Gesellschaft.
Zitator 1:
Der Wachtraum kommt selber aus Selbst- und Welterweiterung ...
ist Besserhabenwollen ... So ist überall Wachtraum mit
Welterweiterung, als exaktes Phantasieexperiment der
Vollkommenheit ... vorausgesetzt.
Musik: (Aus.)
Erzählerin:
Der Tagtraum antizipiert, nimmt also die in der Geschichte
angelegte "objektive Tendenz" vorweg, meint Bloch.
O-Ton 55: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Bei Bloch ist der Tagtraum letztlich auch wieder instrumentalisiert. Er soll
eine vom Menschen ausgehende und ihm naheliegende Struktur sein, die ihm
hilft, herauszugehen aus dem Alltag und dorthin zukommen, wo noch keiner
war, .. in die Struktur der Heimat oder der Utopie.
Erzählerin:
Tagträume liefern Energien für den Fortschritt ...
(flüsternd teilweise unter das Vorangehende und Folgende.)
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Zitator 2:
Es wird etwas geschehen ...
Erzählerin:
Für "das Prinzip Hoffnung" wird der Tagtraum instrumentell
genutzt - wie in den Konzeptionen der Tagtraumtherapie, des
Tagtraumprobehandelns, der Tagtraumlustersatzbefriedigung und
der Tagtraummotivationsforschung. Bloßes Löcher-in-die-LuftStarren, abschweifen, wegbeamen gilt nicht. Es muss immer gut
sein für etwas, vor allem für die Leistungsgesellschaft:
Musik: (M 10. Ab 0.04 dem Folgenden unterlegen.)
(schnell und rhythmisch, wie die Musik)
Zitator 2:
Es wird etwas geschehen!
Zitatorin:
Es muss etwas geschehen!
Zitator 2:
Es wird etwas geschehen!
Zitatorin:
Es muss etwas geschehen!
Zitator 1:
An einem Dienstagmorgen stürzte Wunsiedel in sein Zimmer und
rief sein "Es muss etwas geschehen!" Doch etwas Unerklärliches
in seinem Gesicht ließ mich zögern, fröhlich und munter, wie es
vorgeschrieben war, zu antworten. Nur mit größter Anstrengung
brachte ich den Satz heraus: "Es wird etwas geschehen!". Da
geschah tatsächlich etwas. Wunsiedel stürzte zu Boden.
O-Ton 56: Prof. Dr. Thomas Kretschmar
Das wäre dann schon ein Fall fürs Krankenhaus.
Musik: (Aus.)
48
Erzählerin:
Zu spät.
Zitator 1:
Ich wusste gleich, dass er tot war.
Erzählerin:
Ausgeträumt hat Heinrich Bölls Wunsiedel schon lange vorher.
Wer träumt, arbeitet sich nicht tot, der hat gar keine Zeit dazu.
Tagträume sind die perfekte Burnout-Prophylaxe. Sie sind
außerdem literaturfähig, seit Jean-Jacques Rousseaus
"Träumereien eines einsamen Spaziergängers", Ende des 18.
Jahrhunderts.
Musik: (M 17. Ab Anfang bei 0.03 dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 2:
Diese Blätter werden eigentlich nur ein formloses Tagebuch
meiner Träumereien enthalten. Es wird darin sehr oft die Rede
von mir sein, weil ein nachdenkender Einsamer sich notwendig
sehr viel mit sich selbst beschäftigen muss.
Musik: (Aus.)
O-Ton 57: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Im 18. Jahrhundert bei Rousseau in diesen Träumereien eines einsamen
Spaziergängers da taucht etwas Neues auf. Hier wird nicht mehr die
Gattungseigenschaft zentral genommen, sondern hier wird die individuelle
Leistung eines Individuums vorgestellt und dessen Selbsterfahrung, dessen
Selbstkonstruktion, dessen Zufälligkeiten, die werden als das eigentlich
Interessante am modernen Menschen gezeigt.
Musik: (M 17. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 2:
So bin ich denn ... meiner eigenen Gesellschaft überlassen.
Musik: (Aus.)
Erzählerin:
... so beginnen die "Träumereien".
49
O-Ton 58: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Für ihn war der Mensch als Einsamer nicht ein einsamer Einzelner, sondern
er war .. als Einzelner mit sich selber in Gesellschaft. Das heißt: Es gibt gar
keine Einsamkeit in diesem strengen Sinne und keine Abgeschiedenheit.
Sondern der Mensch, dieser rousseau‘sche Spaziergänger ist einer, der mit
sich selbst in Gesellschaft ist und damit auch ein Selbstverhältnis ausbilden
kann. Dieses ist viel reicher und ist für die kulturelle Praxis viel interessanter
und perspektivreicher als nur dieser abstrakte Gattungssatz: Wir sind
denkende Wesen.
Zitator 1:
Ich denke, also bin ich.
Erzählerin:
Das ist die Grundannahme des Philosophen Descartes für die
gesamte Menschheit.
O-Ton 59: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Das ist richtig, aber damit erschöpft sich nicht unser kultureller Alltag, unser
intellektueller Alltag, unsere Phantasien, die muss man auch bündeln und
zusammenhalten und das lernt man am besten im Tagtraum.
Erzählerin:
Im Tagtraum des Einzelnen öffnen sich noch andere Dimensionen
des Menschseins als das Denken, meint Steffen Dietzsch.
Zitator 2:
Phantasie, Intuition, Sehnsucht, Unbehagen, Gefühle,
Distanzbedürfnisse ...
Erzählerin:
... alles das wird Gegenstand der Reflexion in Rousseaus
"Träumereien eines einsamen Spaziergängers":
O-Ton 60: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
. ... für diese Tagträumerei ist er einer der großen philosophischen Entwürfe,
kann man sagen, die man viel zu wenig hört in der Gegenwart, auch viel zu
wenig von "Ratgebern". Da wird auch immer das geschmeidige Individuum
gefordert, das sich angleichen muss, das sich konditionieren muss, um immer
weiter und besser zu sein.
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Erzählerin:
Rousseaus Spaziergänger ist selbstbewusst, exzentrisch,
polemisch, selbstverliebt, bisweilen paranoid, aber er genießt
seine eigene Gesellschaft.
Musik: (M 17. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.)
Zitator 2:
... so habe ich mir zur einzigen Pflicht gemacht, mich
zurückzuziehen ... Bei dieser körperlichen Untätigkeit ist indes
meine Seele noch tätig ... sie erzeugt Gefühle und Gedanken ...
Musik: (Aus.)
O-Ton 61: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Da hat man den Hinweis darauf, dass der tagträumerische Mensch gar kein
leerer Mensch ist, dass er voll des Reichtums der Weltkultur ist.
Erzählerin:
... und zwar genau deshalb, weil er den Zudringlichkeiten der
Realität entkommen kann.
Geräusch: (Collage aus Handyklingeln, Computersignalen, Jingle DLF,
Türklingeln etc.)
Musik: (M 18. Text: " Wir träumen einfach am Tag, einfach am Tag ...")
Zitator 1:
Tatsächlich sind wir Menschen nicht-festgestellte Tiere, Wesen,
die immer woanders sind, Wesen mit Absenzen, Träumen,
Phantasien ...
Erzählerin:
... schreibt der Philosoph Rüdiger Safranski ...
Zitator 1:
Der Mensch ist nicht ganz dicht, er entweicht ins Imaginäre. Der
sogenannte realistische Sinn wird beherrscht vom Willen, sich in
andere Sphären hineinzuspinnen.
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Musik: (M 18. Text: "Wir träumen einfach am Tag, einfach am Tag ...")
Erzählerin:
... was nicht heißen muss, dass wir völlig abtauchen in unsere
Hirngespinste.
Geräusch: (Collage aus Handyklingeln, Computersignalen, Jingle DLF,
Türklingeln etc.)
O-Ton 62: Heiko Ernst
Wenn die Individuen, die handelnden Menschen in wirtschaftlichen oder
politischen Zusammenhängen nicht mehr gewohnt sind, sich selber Pausen
zu geben, Reflexionsmöglichkeiten und Tagtraummöglichkeiten zu geben,
dann sind sie nur noch Getriebene und dann ist nur noch dieses Außen, der
Außentakt das Maßgebliche und das ist ganz verheerend.
Musik: (M 18. Text: "Wir dürfen nicht aufhören zu träumen ...")
O-Ton 63: Prof. Dr. Steffen Dietzsch
Der Tagtraum soll uns nicht in die Lage versetzen, uns wegzuducken von
den Zumutungen der Welt, sondern es ist gerade umgekehrt eine Strategie,
um sich sicher zu machen in dieser Brandung der Gegenwart Bestand haben
zu können - das ist die eigentliche Menschheitsform in der Kraft des
Tagtraums. Und dass man im Widerstand bleibt, dieser tagträumerische
Mensch, das ist jemand, der eine gewisse Macht über seine Autonomie
weiter besitzt und Macht über sein eigenes Selbst auch, eine Macht, die ...
seine Autonomie bewahren hilft.
Musik: (M 7: Text: "Sag mir deinen Traum ...".)
Zitatorin:
Besser nicht!
Musik: (M 7: Text: "Hallo liebe Schwester, sag uns deinen Traum. Hallo lieber
...")
(die Musik unterbrechend, gelangweilt)
Zitator 1:
Möchten Sie zu diesem Thema noch was sagen, schreiben, und so
weiter - den Button unten links.
Geräusch: (Ping)
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(höhnisch)
Zitator 1:
Na, wunderbar.
Musik: (M 13: Ein bei 0.15. Kurz stehen lassen, dann dem Folgenden
unterlegen.)
("intim", zart, etwas zögerlich)
Zitatorin:
Tagträume mögen keinen Lärm. Wer sie erzählt, der verscheucht
sie. Wer sich keine Zeit für sie nimmt, von dem verabschieden
sie sich. Wenn es laut wird, gehen sie.
Tagträume sind nur für mich, für niemanden sonst. Wir müssen
gut auf sie aufpassen. Wir müssen wachsam sein und sie
schützen gegen Eindringlinge von außen, gegen den ganzen
Müll, der nur darauf wartet, unsere Innenwelt zu überfluten.
Geräusch: (Töööt)
Musik: (M 13: Ein bei 0.15. Kurz stehen lassen, dann dem Folgenden
unterlegen.)
Zitator 2:
Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns,
ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren
wichtigsten Zufluchtsort zu machen ...
ABSAGE:
Kleine Fluchten. Tagträume
Feature von Rolf Cantzen
Mit Texten von Daniil Charms, Heinrich Böll, Charles Fourier,
Laurence Sterne, Sigmund Freud, Theresia von Avila, Michel de
Montaigne, James Joyce und Friedrich Nietzsche
Es sprachen: Anneke Kim Sarnau, Barnaby Metschurat, Udo
Schenk und Katrin Wehlisch.
Regie: Philippe Bruehl
Redaktion: Klaus Pilger.
Produktion: Deutschlandfunk 2016
(Musik: Aus.)
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