Sonntag, 25. Dezember 2016 (20:05-21:00 Uhr), KW 51 Deutschlandfunk Abt. Feature/ Hörspiel/ Hintergrund Kultur FREISTIL Kleine Fluchten Vom Tagträumen Von Rolf Cantzen Regie: Philippe Bruehl Redaktion: Klaus Pilger Deutschlandfunk 2016 Manuskript Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - ggf. unkorrigiertes Exemplar - 1 Musik: (M 1. Ab Anfang, bei 0.11 dem Folgenden unterlegen.) (hier und im Folgenden "intim", fast verschwörerisch) Zitator 2: Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen... Musik: (Aus.) O-Ton 1: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Die Tagträume des Menschen sind natürlich viel, viel stärker als alle Zugriffe, die ich von Außen erfahre. Insofern ist der Tagtraum eine sichere Betriebsform meiner Autonomie. Musik: (M 1. Ab 0.37, kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.) Zitator 2: Hier gilt es, denn alltäglichen Umgang mit uns selbst zu pflegen. Musik: (Aus.) O-Ton 2: Heiko Ernst Über Tagträume sprechen wir nur selten offen ... Im Prinzip ist es das Privateste, was wir besitzen, diese Innenwelt. Das ist auch eine Rückzugswelt: "Ach, wie gut, dass niemand weiß ..." Musik: (M 1. Ab 1.47, kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.) Zitator 2: Unsere Seele vermag sich selbst Gesellschaft zu leisten, sie hat sich genug zu geben. Musik: (Aus.) O-Ton 3: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Tagträume sind so etwas wie der Alltag ... unseres ganz normalen, tagtäglichen Versuchs mit der Umwelt, mit uns selber, mit dem Beruf zurecht zu kommen. Musik: (M 1. Ab 2.30. Kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen) Zitator 2: Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ... 2 Erzählerin: ... das empfahl Montaigne bereits im 16. Jahrhundert Geräusch: (Handyklingeln.) ... - ein "Hinterstübchen", das uns abschirmt vor den ständigen Zudringlichkeiten und Übergriffen der Außenwelt. Geräusch: (Collage aus Handyklingeln, Computersignalen, Jingle DLF, Türklingeln etc. übertönt Musik.) -------------------------------------------------------ANSAGE: Kleine Fluchten. Tagträume Feature von Rolf Cantzen -------------------------------------------------------Musik: (M1. Hart aus mit Geräusch: Ping) Musik: (M 2: Text: "Du bist nicht allein, wenn du träumst heute Abend...".) (aggressiv auffordernd) Zitator 1: Möchten Sie zum Thema Tagträume etwas sagen, etwas schreiben, fragen oder haben Sie eine Idee dazu? Dann drücken Sie auf den Button unten links. (hier und im Folgenden verunsichert) Zitatorin: Hier? (etwas genervt) Zitator 1: Nein, noch weiter links. - Noch ein Stückchen weiter. - Ja da! Jetzt drücken. Geräusch: (Ping) 3 (höhnisch) Zitator 1: Geschafft. Wunderbar! ("intim", zart, etwas zögerlich) Zitatorin: ... ich bin eine Tagträumerin. Ich tauche oft ein in meine eigene Welt. Ich träume dann so vor mich hin. Das ist schön. Manchmal nehme ich das, was um mich herum ist, nicht mehr so richtig wahr. - Also, das ist nicht so, dass ich davon gar nichts mitkriege. Das nicht. Ich bin ja nicht völlig verpeilt oder so. - Ich hab kein Problem damit. Eigentlich nicht. Ich bin halt manchmal etwas abwesend. Meine Kollegin sagt dann: Du starrst wieder Löcher in die Luft. Oder fragt: Warum grinst du so vor dich ... Geräusch: (Töööt) Zitator 1: Danke! Das waren Ihre 30 Sekunden. Musik: (M 2: Text: "O, glaub mir: Du bist nicht allein, wenn du träumst heute Abend...") (leicht ironisch) Erzählerin: ... wir tagträumen alle - mehr oder weniger. Das liegt am Gehirn. Das braucht regelmäßig Zeit für sich und nimmt sich deshalb oft Auszeiten und beschäftigt sich dann nur mit sich selbst. Geräusch: (Gehirn-Blubbern, kurz.) O-Ton 4: Heiko Ernst ... richtig erforscht und tief erforscht ist es sehr wenig worden, dieses Phänomen. Und das, obwohl wir - und das zeigt die wenige Forschung schon - die immerhin ausreichend belegen kann, dass wir fast 50 Prozent des Tages, unseres Wachbewusstseins mit Tagtraum oder tagtraumähnlichen Gehirnprozessen verbringen. 4 Erzählerin: Heiko Ernst ist Psychologe und gehört zu den wenigen, die sich um diese eine Hälfte unseres Wachzustandes, also um die Tagträume, kümmern. Ein Buch von ihm heißt: Zitator 1: "Innenwelten. - Warum Tagträume uns kreativer, mutiger und gelassener machen." Erzählerin: Trotz des buchmarktopportunistischen Untertitels keiner dieser um es nett zu sagen - "komplexitätsreduzierten" Ratgeber, wirklich nicht. O-Ton 5: Heiko Ernst Wir sind sehr viel öfter weg aus der Realität, in einer anderen Parallelwelt, gedanklichen, bildlichen Parallelwelt, als wir das für möglich halten und glauben. Geräusch: (Blubbern dem Folgenden unterlegen, dann ausblenden.) Musik: (M 2: Musik als "Schleife" unterlegen. Text: "Du bist nicht allein, du bist nicht allein, du bist nicht allein ...") Erzählerin: Unser Gehirn führt sich das Gespräch mit der Freundin noch einmal vor und entwickelt einen möglich gewesenen alternativen Gesprächsverlauf. Es antizipiert die Zubereitung des Abendessens und weshalb deine Tochter wieder so wenig essen wird. Das Gehirn stellt sich vor, wie es wäre, wenn der nette Kollege wieder in den Flirtmodus geht und wenn du dann nachgibst, zurückflirtest und dann zustimmst, mit ihm nach der Arbeit noch etwas trinken zu gehen, deinem Ehemann zu sagen, du seist auf einem wichtigen Meeting. Und dann gibt dir dein Gehirn die Erlaubnis mit dem netten Kollegen zu ihm nach Hause zu gehen. Wenn er dir dann zuerst den Mantel abnimmt, Dir dann näher kommt ... ja, und dann ... 5 Musik: (Aus.) O-Ton 6: Prof. Dr. Thomas Kretschmar ja, und dann gäbe es vielleicht auch viele Dinge, die für das Radio zu privat sind. (Sirenen im Hintergrund) Erzählerin: ... schöne sexuelle Tagträume, auch sehr unschöne Rachephantasien ... Musik: (M 2: Text: "Mit meiner Sehnsucht, mit meinen Träumen bin ich bei dir ..."- nach "Sehnsucht" dem Folgenden unterlegen.) (verhalten) Zitator 2: ... und ich haue ihm eine in die Fresse, und trete ihm dann noch mit dem Stiefel in die Weichteile... O-Ton 7: Prof. Dr. Thomas Kretschmar ... viele Dinge, die für das Radio zu privat sind, aber man könnte natürlich fragen, warum da etwas stört. (Sirenen im Hintergrund - ggf. verstärken) Erzählerin: ...im Tagtraum experimentiert unser Gehirn mit möglichen Handlungsoptionen ... Geräusch: (Blubbern kurz gegen Ende des O-Tons.) O-Ton 8: Heiko Ernst Wir legen uns eine Rolle in der Phantasie zurecht, die wir ausfüllen möchten. Das kann manchmal sehr kurz sein. Viele Tagträume sind Schnipsel oder Videoclips, wenn man so vergleichen möchte. Andere sind sehr lange. Bei einer langen Autofahrt oder Bahnfahrt kann man schon einen richtigen Film sich träumen, aber auch dieses kurzfristige hin und her schalten zwischen reinen Gedanken, wo wir etwas überlegen, wie ist das jetzt morgen und dann schiebt sich schon wieder ein Bild dazu ... (verhalten) Zitator 2: ... und ich ihm dann mit dem Stiefelabsatz in die Augen ... 6 O-Ton 9: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Das ist das, was wir die experimentelle Natur an uns Menschen nennen, ja. Zitator 2: Mein Gast kommt herein und sagt: "Guten Tag! Wie schön, dass ich Sie zu Hause antreffe!" Und ich haue ihm eine in die Fresse ... (Charms gesprochen mit "ch") Erzählerin: Robert Musil meint, wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben. Also: Möglich ist so einiges in der Wirklichkeit, im Tagtraum alles, auch diese Begrüßung des Gastes in einem Text des russischen Schriftstellers Daniil Charms ... Zitator 2: ... Und ich haue ihm eine in die Fresse und ich trete ihm dann noch mit dem Stiefel in die Weichteile. O-Ton 10: Heiko Ernst Ich stelle mir das bildhaft vor, wie ich morgen auftreten werde in der Konferenz oder …bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung, einer Reise. Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.) Erzählerin: Zurück zum Gehirn! Musik: (M 3: Sehr kurz.) Zitator 1: Das Gehirn ist im Ruhezustand keineswegs träge, sondern höchst aktiv. Und diese Ruheaktivität läuft nicht zufällig ab, sondern ist in hohem Maße organisiert ... 7 Erzählerin: .... so der Neuropsychologe Alvaro Pascual-Leone über das vom Hirn veranstaltete Kopfkino. Rege Gehirnaktivitäten lassen sich beim Tagträumen übrigens in der Nachbarschaft des Sprachzentrums messen: Das Gehirn steht also in lebhaftem Kontakt mit sich selbst. Es führt beim Tagträumen Selbstgespräche. Musik: (M 3: Ab 0.03, bei 0.05 aus.) O-Ton 11: Heiko Ernst Während dieses Zustandes des Tagträumens ist unser Gehirn im Gegensatz zu einem verbreiteten Vorurteil hoch aktiv. Es verknüpfen sich da eben Gehirnregionen miteinander oder sie kommunizieren miteinander, die sonst keine Zeit und Gelegenheit haben, weil sie fokussiert sind auf etwas. Erzählerin: So verwissenschaftlicht und verwichtigt die Gehirnforschung das, was jedem bewussten Tagträumer, jeder bewussten Tagträumerin, ohnehin klar sein dürfte: Tagträume sind nicht nur angenehm und unterhaltsam, sondern irgendwie auch nötig für das seelische Gleichgewicht. O-Ton 12: Heiko Ernst Wir haben nun in dieser scheinbaren äußeren Ruhephase, Rückzugsphase, Gelegenheit, Synapsen, Verbindungen einzuüben, zu verstärken, zu rekapitulieren sozusagen, sich wieder einzustimmen auf das, was man erlebt hat, das muss abgespeichert werden im Langzeitgedächtnis und man kann dann später darauf zurückgreifen. Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.) Erzählerin: Es gibt auch einige wissenschaftliche psychologische Tests zur Häufigkeit und dem Inhalt von Tagträumen. Die Probanden erhielten in unregelmäßigen Abständen Signale über ihr Handy ... 8 Geräusch: (kurz aus dem Hintergrund: Handyklingeln.) ... und sollten dann aufschreiben, bei welchen Tätigkeiten sie mit was gedanklich beschäftigt waren. Das Ergebnis verwundert nicht: Bei Tätigkeiten, die sie intellektuell nicht beanspruchen Geschirrspülen, Autofahren, Geschlechtsverkehr, Warten vor der Kasse im Supermarkt etc. - gehen die Menschen in den Tagtraummodus. (dozierend) Zitator 1: Im Wesentlichen sind den Tagträumen drei Funktionen zugeschrieben worden. Sie erlauben eine Simulation alternativer Realitäten, können regulierend auf die eigene Stimmungslage wirken ... (verhalten) Zitator 2: ... und ich haue ihm eine in die Fresse ... Zitator 1: ... und helfen dabei, die eigenen Ziele und Anliegen durch eine Revitalisierung von Zielanreizen ... (verhalten) Zitatorin: Ich werde Chefin! Zitator 2: ... und ich werde mit ihr spazieren gehen ... Zitator 1: ... und helfen dabei, Zielanreize nicht aus den Augen zu verlieren. Erzählerin: ... das schreibt der Motivationsforscher Thomas A. Langens in einer der wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Tagtraum ... 9 Zitator 1: Tagträume, Anliegen und Motivation. (zunehmend ironisch) Erzählerin: Die "Revitalisierung von Zielanreizen" - liegt diesem Motivationsforscher besonders am Herzen. Er will nachweisen, dass Tagträume mehrheitlich motivations- und damit leistungssteigernd wirken, also wichtige Funktionen einnehmen in der Leistungsgesellschaft. Tagträume induzieren Dynamik, Kreativität, Energie, Fortschritt, Wirtschaftswachstum ... (Sequenz flüsternd aus dem Hintergrund) Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.) (leicht verurteilend) Zitator 1: Ein wenig überraschend erscheint das Ergebnis, dass ein Drittel aller Tagträume einen positiv-eskapistischen Charakter haben, also um angenehme, aber völlig realitätsferne Szenarien kreisen. Erzählerin: ... muss der enttäuschte Motivationsforscher Thomas A. Langens einräumen. Zitator 1: Solche Tagträume haben keinen direkt erkennbaren Nutzen. 10 O-Ton 13: Heiko Ernst Tagtraum hat auch immer dieses Leistungsfeindliche oder dieses Realitätsverweigernde, den Vorwurf in sich und ist deshalb zunächst einmal kritikwürdig. Musik: (M 3: Ab Anfang, bei 0.02 aus.) O-Ton 14: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Die Einbildungskraft, die schafft etwas aus dem Reservoir der Nichtanwesenheit. Das ist das Schöne an der Einbildungskraft, das sie nicht auf eine Empirizität angewiesen ist, das ist die Kraft, die das Abwesende organisiert, die dem Abwesenden eine Gestalt gibt. Das ist das, was an der Einbildungskraft, auch am Tagtraum strukturell und philosophisch interessant ist, dass das Abwesende eine Gestalt bekommt. Erzählerin: Das heißt: Den Philosophen Prof. Dr. Steffen Dietzsch interessiert, was anwesend ist im Zustand der Abwesenheit. O-Ton 15: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Das ist das, was an der Einbildungskraft, auch am Tagtraum strukturell und philosophisch interessant ist, das das Abwesende eine Gestalt bekommt. Erzählerin: Dass das Gestalt gewinnende Abwesende empirisch abwesend bleiben kann, zeichnet den Tagtraum philosophisch aus. Zitator 2: Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ... Erzählerin: Der Tagtraum schafft Distanz zur "Empirizität", also zur Wirklichkeit, und will diese Distanz kultivieren, um uns Autonomie zu verschaffen. O-Ton 16: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Ich brauche etwas, was mich selber auch in eine gewisse Distanz bringt zu den Umständen, zu den Personen, mit denen ich alltäglich zu tun habe oder auch die mir zufällig begegnen und dafür sind Tagträume sehr gut. Musik: (M 3: Ab 0.03 kurz stehen lassen, bei 0.12 jeweils wieder bei 0.03 beginnen und dem Folgenden unterlegen.) 11 Erzählerin: Zurück zur Wissenschaft! Motivationsforschung. (hier und im Folgenden "inquisitorisch") Zitator 1: In welcher Situation hatten Sie den Tagtraum? Erzählerin: ... fragte der Motivationsforscher seine Probanden mittels Fragebogen: Zitator 1: In einem Verkehrsmittel (Bus, Auto, Zug)? Zitatorin: 31,7 Prozent. Zitator 1: Während Vorlesung oder Seminar? Erzählerin: ... befragt wurden Studenten. Die sind es heute gewohnt, brav alle Fragen mittels Kreuzchen zu beantworten ... Zitatorin: 22,1 Prozent! Zitator 1: Vor dem Einschlafen? Zitatorin: 12,7 Prozent. Musik: (M 3: Ab 0.27 kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.) (immer schneller werdend.) Zitator 1: Wie lang hat der Tagtraum gedauert? Wenige Sekunden 12 Zitatorin: 35,4 Prozent Zitator 1: 15 Sekunden bis eine Minute? Zitatorin: 42,6 Prozent. Zitator 1: Länger als eine Minute? Zitatorin: 21,9 Zitator 1: Länger als 5 Minuten ? Zitatorin: 17,785 Zitator 1: Länger als 30 Minuten ? Zitatorin: 21,6393 Musik: (Aus.) (sehr ruhig) Zitator 2: Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ... Musik: (M 2: Text: "Es finden tausend Herzen heute keine Ruh' ...".) (aggressiv auffordernd) Zitator 1: Wenn Sie sich auch beteiligen wollen, drücken sie einfach den Button unten links. Musik: (M 2: Text: "... keine Ruh' ...".) Geräusch: (Ping) 13 (etwas genervt) Zitator 1: Ah, wir haben schon jemanden. - Bitte! - Ja, Sie, Sie haben den Button doch gedrückt, oder? Sie können jetzt ... ja ... (vorsichtig) Zitator 2: ... ich muss sagen, ich bin auch so ein Träumer, also Tagträumer. Seit meiner frühsten Kindheit. Ich erinnere mich, also ich erinnere mich .... Zitator 1: Ja! Zitator 2: ... erinnere mich so bei Besuchen der Großeltern und Tanten und Onkel. Da war ich dann weg, da habe ich mich weggebeamt. Das konnte ich nicht aushalten, das Gequatsche. Ist heute noch so. Wenn dann einer was zu mir sagt, fühle ich mich nicht angesprochen. Das ist manchmal peinlich. Die fragen dann, wo bist du denn wieder? Oder, letztens habe ich bei einer Sitzung was vor mich hin gemurmelt. Da fragte mein Feind: "Was erzählst du dir denn wieder?" das ist echt peinlich! Ich muss mich dann richtig dazu zwingen, dabei zu bleiben, obwohl ... Geräusch: (Töööt) Zitator 1: Danke! Das waren Ihre 30 Sekunden plus etliche Bonussekunden. Musik: (M 4: Ab Anfang, kurz frei stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.) (schnell, sehr sachlich) 14 Zitator 1: Tagtraum, auch Wachtraum genannt: ein im Wachzustand erfolgender Ersatz der Realität durch Ausdenken unwirklicher, meist gewünschter Erlebnisse. Musik: (Kurz aufblenden, dann wieder dem Folgenden unterlegen.) Tagträumer wenden sich von der Wirklichkeit ab und ergeben sich ganz und gar ihren Phantasien. Dabei haben Wunschträume eine positive Valenz, Angstträume eine negative. Tagträume kommen vor allem bei introvertierten labilen ... Musik: (Aus.) Erzählerin: ... damit Sie uns nicht wegträumen, verehrte Zuhörerin, verehrter Zuhörer, hier der Zitatnachweis: Zitator 2: Clauß, G. 1976, Wörterbuch der Psychologie, Köln, PahlRugenstein Verlag, Seite 523 ... Musik: (M 4: Ab Anfang dem Folgenden - etwas leiser dem O-Ton unterlegen.) Zitator 1: ... kommen vor allem bei introvertierten labilen Menschen vor, in normalem Ausmaß bei Pubertierenden. O-Ton 17: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Kinder, die sich oft in die Traumwelt flüchten, leiden sehr oft an emotionaler Unterversorgung. Zitator 1: Wenn es stärkere Formen annimmt, kann Tagträumen zum Zeichen einer psychischen Fehlentwicklung (siehe Autismus) werden und die Lebensbewältigung der Patienten erheblich beeinträchtigen. 15 O-Ton 18: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Das wäre dann schon ein Fall fürs Krankenhaus. Musik: (Aus.) Erzählerin: Nein, so schnell geht das nicht. Vorher kommen Psychotherapie oder das Coaching - vielleicht bei Prof. Dr. Thomas Kretschmar ... O-Ton 19: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Nach einigen Stunden von Diagnostik und Einführung starten wir dann mit inneren Bildern. Also der Klient lehnt sich bequem auf diese Sessel hier zurück, die Sie hier sehen, in eine Liegeposition oder in eine bequeme Sitzposition ... (zunehmend langsamer gesprochen) Erzählerin: ... damit er therapeutisch träumen kann. Psychopharmaka helfen auch, wenn das gelegentliche Wegdriften zum Dauerzustand wird, wenn Tagtraum und Wirklichkeit sich miteinander vermischen und wenn Psychiater die Diagnose stellen: Dissoziative Symptomatik. (O-Ton unter dem Vorangehenden einblenden und unter der Erzählerin ausblenden) O-Ton 20: Prof. Dr. Thomas Kretschmar ... wenn man dem Drachen in die Augen sieht und sich lange genug beschäftigt mit dem Gesichtsausdruck, mit dem, was mit dem Drachen vielleicht los ist, dann wandelt er sich. Dann wandelt sich damit auch ein zugrunde liegendes Gefühl, dass das Kind vielleicht früher abgewehrt hat, dass man gesagt hat, albere nicht so rum und das dann gelernt hat, mit diesem Gefühl auch umzugehen, es auszuhalten und umzugehen. Erzählerin: Der Drache ist ein Glücksdrache. Vielleicht kam er ja aus Michael Endes "Unendliche Geschichte" und heißt Fuchur. Doch zurück zur Wissenschaft! 16 Musik: (M 4: Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.) (Passage sehr wissenschaftlich) Zitatorin: Dissoziation-Definition: Lexikon der Psychologie: Zitator 1: Prozess, durch den bestimmte Gedanken, Einstellungen und andere psychologische Aktivitäten ihre normale Regulation zu anderen, bzw. zur übrigen Persönlichkeit verlieren, sich abspalten und mehr oder minder unabhängig funktionieren. (bedeutsam) Zitator 2: Ich ist ein anderer! Zitatorin: Definitions-Dissoziation: Psychologie des Lexikons: Zitator 1: So können logisch unvereinbare Gedanken, Gefühle und Einstellungen nebeneinander beibehalten und doch einen Konflikt zwischen ihnen vermieden werden. Zitator 2: Ich ist ein anderer, aber - das stört mich nicht - und den anderen auch nicht, so lange man uns in Ruhe träumen lässt. Musik: (Aus.) O-Ton 21: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Insofern ist der Tagtraum eine überraschende, subversive Struktur, eine subversive Kraft ... (verschwörerisch) Zitator 2: Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten. Erzählerin: Allerdings ist Vorsicht angebracht: Bei Konfusionen und Realitätsverweigerung droht Pathologisierung. Zur Prophylaxe hilft und half Pädagogik: 17 Zitator 1: Hans Guck in die Luft. Erzählerin: Eine Geschichte aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann (hier und im Folgenden sehr rhythmisch) Zitator 1: Wenn der Hans zur Schule ging, Stets sein Blick am Himmel hing. Nach den Dächern, Wolken, Schwalben Schaut er aufwärts allenthalben: Musik: (M 5: Langsam unter dem Folgenden einblenden und unterlegen.) (Einwürfe drohend) Zitatorin: Träum nicht! Zitator 2: Pass doch auf! Zitatorin: Starr nicht immer aus dem Fenster! Zitator 1: Vor die eignen Füße dicht, Ja, da sah der Bursche nicht, Also daß ein jeder ruft: "Seht den Hans Guck-in-die-Luft!" Zitator 2: Erzähle mir keine Lügengeschichten! Zitatorin: Deine Phantasie geht mal wieder mit dir durch! Musik: (Aus.) 18 Musik: (M 6: Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.) Zitator 1: Einst ging er an Ufers Rand Mit der Mappe in der Hand. Nach dem blauen Himmel hoch Sah er, wo die Schwalbe flog, Also dass er kerzengrad Immer mehr zum Flusse trat. Und die Fischlein in der Reih' Sind erstaunt sehr, alle drei. (Sequenz flüsternd aus dem Hintergrund) Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Zitator 1: Noch ein Schritt! und plumps! der Hans Stürzt hinab kopfüber ganz! - Musik: (Aus.) O-Ton 22: Heiko Ernst Tagträume sind eigentlich in Verruf. Sie gelten als etwas - ja - Kindisches, Kindliches, als etwas Minderwertiges, ein Abfallprodukt des Geistes sozusagen, wir sind nicht bei einer Sache, wir sind nicht konzentriert, wir schweifen ab. Es hat von vornherein immer den Geschmack gehabt der Abwesenheit, des Rückzugs, des Eskapismus. Musik: (M 6: Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.) 19 Zitator 1: Doch die Fischlein alle drei, Schwimmen hurtig gleich herbei; Strecken's Köpflein aus der Flut, Lachen, daß man's hören tut ... Musik: (Aus.) O-Ton 23: Heiko Ernst Präsent zu sein, alles mitzukriegen, ist einerseits da, es beherrscht uns sehr, und dieses Wegtreten ist eigentlich schon fast auf ganz andere Kanäle abgeleitet. Also dieses Wegtreten in die eigene Innenwelt ist schon fast verdrängt worden durch das Wegtreten in andere Welten, die mir aber vorgegeben sind durch Handys, durch elektronische Geräte und so weiter. Erzählerin: Hans guckt heute nicht mehr in die Luft, er guckt aufs Handy. Das verursacht auch Unfälle ... Zitator 1: Bauz! Perdauz! - da liegen zwei! Hund und Hänschen nebenbei. Erzählerin: ... doch diese Unfälle sind heute oft nicht auf die eigene Phantasietätigkeit zurückzuführen, sondern auf Beschäftigungen mit dem Smartphone. Wer mit anderen kommuniziert, entzieht sich nicht. Das ist nichts anstößiges. Er bleibt anwesend in der großen Kommunikationsgemeinde. Wer sich allerdings der Gesellschaft entzieht, ist suspekt, meint der Philosoph Steffen Dietzsch: O-Ton 24: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Es wird zunehmend das Feindbild der Alltagskultur und auch der Jugendkultur, die ja nur lebt in einer Netzwelt, die nur in sozialen, besser gesagt: asozialen Netzen lebt, wo man gewissermaßen den Eindruck hat, dass die den ganzen Tag nichts weiter machen als ihre Tagträume zu vermeiden. 20 Erzählerin: Doch Tagträume sind gestattet, wenn sie nicht privat bleiben, wenn sie kommuniziert werden: Musik: (M 7: Text: "Komm, komm, sag uns deinen Traum ...") Zitator 2: Reden wir drüber! Zitatorin: Behalt es nicht für dich! O-Ton 25: Prof. Dr. Steffen Dietzsch "Wollen wir reden?" - Musik: (M 7: Text: " ... sag uns deinen Traum ...") O-Ton 26: Prof. Dr. Steffen Dietzsch ... das ist gar keine Forderung mehr, sondern ... der Alltag: Wir reden und zwar zur gleichen Zeit und damit ist die klassische Form eines Diskurses, ist über Bord geworfen worden. Es ist damit auch jede kommunikative Vernunft ist damit erledigt. Es gibt dann auch keine wirklich unterscheidbaren Neuigkeiten und Belanglosigkeiten. Und Neuigkeiten und Belanglosigkeiten - das zerfließt alles in eins. Musik: (M 7: Text: " ... sag uns deinen Traum ...") Zitator 2: Bleib nicht allein damit. Zitatorin: Vergrab' dich nicht in dich selbst! Zitator 2: Lass' es raus! Musik: (M 7: Text: "Komm, komm ...") (aggressiv auffordernd) Zitator 1: Sie kennen das ja: Einfach unten links den Button drücken, unten links, ja. Dann sagen sie es uns ... Musik: (M 7: Text: "Es ist so schön ...") 21 Geräusch: (Ping) (etwas genervt, parodierend) Zitator 1: Ja, schöhön. Legen Sie los. (vorsichtig) Zitatorin: ... ich ... also ich halte es oft nicht einfach mehr aus: Keine Lust morgens aufs Aufstehen, aufs Duschen, aufs Zähneputzen, auf die Arbeit, auf den langweiligen Feierabend, auf alles. Keine Lust mehr. Dann beam ich mich weg, dann verabschiede ich mich, dann bin ich weg, in meinem Tagtraum, quasi auf der Flucht. Ich kann dem nicht widerstehen. Ich lasse mich einfach fallen und treibe dahin in mein privates Paradies, bin bei meinem einfühlsamen Lover. Plötzlich merke ich, dass es schon spät ist, zu spät. Ich komme mal wieder zu spät zur Arbeit und mein Chef sagt ... Geräusch: (Töööt) Zitator 1: 30 Sekunden. Ende! Aber schön, dass wir darüber gesprochen haben. O-Ton 27: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Das ist offensichtlich mit Tagträumen auch verbunden, diese Flucht, ist aber etwas, was ich randständig nur berühren würde. Erzählerin: ... aber das gab es schon immer: Löcher in die Luft gucken, antriebslos dasitzen, sich von der feindlichen Außenwelt in die besseren Innenwelten flüchten, Zitator 2: .... Hinterstübchen ... 22 Erzählerin: ... Kommunikationsverweigerung, Handlungshemmung. Die Kampfansage der irritierten Außenwelt lautete dann: (gesprochen (azedia") Zitator 1: Acedia! Erzählerin: Eine der sieben Todsünden. Wer sie begeht, landet in der Hölle. "Acedia" ist schwer zu übersetzen. Am besten mit: Zitator 1: Trägkeit, Müdigkeit, Erschöpfung, Unlust, Gleichgültigkeit ... Erzählerin: Virulent wurde dieses Phänomen in den ersten christlichen Jahrhunderten. Die sich in die Wüste zurückziehenden Mönche verfielen in diese äußerliche Trägheit, hinter der sich offenbar eine lebhafte Innenwelt verbarg, der die Außenwelt misstraute. Musik: (M 8: Unter dem Folgenden einblenden und unterlegen.) Und manchmal erhielten die Mönche in ihrer Innenwelt Besuch von äußerst raffinierten Teufelchen. Diese tarnten sich als verführerische Frauen mit eindeutigen Absichten. Viele Mönche kapitulierten, und so galt die Acedia als Einfallstor für weitere Sünden - etwa die der Wollust. Ähnlich wie den Mönchen erging es später Nonnen mit einem zudringlichen Engel: (leicht verzückt) Zitatorin: Er war nicht groß, sondern klein und sehr schön. ... In den Händen sah ich einen langen goldenen Wurfpfeil ... Erzählerin: Der Heiligen Theresia von Avila gelang es allerdings, derlei Tagträume als fromme Erscheinung zu sublimieren: 23 Zitatorin: Es kam mir vor, als durchbohre er mit dem Pfeile einige Male mein Herz bis ins Innerste. ... Die Wonne, die dieser ungemeine Schmerz verursachte, war so überschwänglich... Musik: (Aus.) Zitator 2: Es muss etwas geschehen! Erzählerin: ... gegen das Verschwinden frommer Menschen in ihren Innenwelten. Das sagten sich einige Hüter der christlichen Ordnung. Die Lösung: Zitator 1: Ora et labora! - Bete und arbeite! Musik: (M 9: Ab Anfang bis etwa 0.20, mehrfach aneinander und dem Folgenden unterlegen.) Erzählerin: Die Mönche und Nonnen wurden in den Klöstern zu einer tagtraumvertreibenden asketischen, disziplinierten, rationalen und arbeitsamen Lebensführung angehalten. Damit gewann die disziplinierte Arbeit an Bedeutung, außerhalb der Klostermauern zuerst bei den Calvinisten und anderen protestantischen Glaubensgemeinschaften des 16. und 17. Jahrhunderts. Der Soziologe Max Weber spricht von „innerweltlicher Askese“ und der Entwicklung eines "protestantischen Arbeitsethos". Zitator 1: Die rastlose Berufsarbeit … allein verscheucht den religiösen Zweifel und gibt die Sicherheit des Gnadenstandes. 24 Erzählerin: Die Calvinisten arbeiteten nicht, um genießen zu können, sondern weil sie glaubten, sie könnten am Erfolg ihrer Arbeit ablesen, ob Gott sie für die ewige Seligkeit im besseren Jenseits vorgesehen habe. Ihr ganzes Leben orientierte sich an der Arbeit, war rational und diszipliniert. Konzentrierte Arbeit als Tagtraumkiller. Muße, freie Zeit, Rückzüge in Hinterstübchen, Vergnügen aller Art, Gefühlsäußerungen waren verpönt. Dieses Arbeitsethos schuf die ideologische oder religiös-psychologische Grundlage des Kapitalismus, sagt Max Weber, ein Klassiker der Soziologie. (Sequenz flüsternd aus dem Hintergrund: Hart, militärisch, schnell) Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Erzählerin: Arbeit! Arbeit heißt Fortschritt: Fortschreitende Naturerkenntnis, technischer Fortschritt, wissenschaftlicher Fortschritt, sozialer Fortschritt, Fortschritt der Menschheit. Unvereinbar mit diesem Arbeitsverständnis war das Nichtstun mit offenen Augen, das scheinbar sinn- und zwecklose Tagträumen. Zitator 1: Arbeit – der Motor der Geschichte. Erzählerin: Deshalb ging es Marx und Co um eine Befreiung der Arbeit, nicht um eine Befreiung von der Arbeit. In der befreiten gesellschaftlichen Arbeit erfüllt sich das Menschsein. 25 Musik: (Ausblenden.) Zitator 2: Immer muss etwas geschehen. Erzählerin: Das Verschwinden in den unkontrollierbaren Labyrinthen der Tagträume bringt die Menschen nur auf merkwürdige Ideen: Zitator 2: Arbeit ist die beste Polizei ... Erzählerin: ... lästert Friedrich Nietzsche. Zitator 2: Jeder fühlt es, dass die Arbeit jeden im Zaume hält und dass sie die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Musik: (M 8: Unter dem Folgenden einblenden und unterlegen.) Erzählerin: Und wenn die disziplinierte Arbeit es nicht schafft, die heimlichen Rückzüge in lustvolle Hinterstübchen zu verhindern, dann greifen vielleicht die religiösen Sanktionsandrohungen: Zitator 1: Was sagt Jesus? Erzählerin: Jesus sagt - beziehungsweise Matthäus lässt Jesus in seinem Evangelium sagen: Zitator 1: Wer eine Frau anschaut, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon die Ehe mit ihr gebrochen. 26 Erzählerin: ... anschauen reicht, sich hineinträumen in bestimmte Situationen schon lange. Wir können in Tagträumen sündigen. Tagtraumsünden sorgen für immerwährende Schuldgefühle: Wer denkt schon an nichts Böses, wenn er an nichts Böses denken soll? Für religiöse Fundamentalisten aller Couleur ist der Tagtraum ein Alptraum. Musik: (Aus.) O-Ton 28: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Der Alptraum ist jenseits von gut und böse Erzählerin: Ja, der Alptraum ganz sicher auch, aber Steffen Dietzsch meint hier den Tagtraum. Nebenbei bemerkt: Wer träumt schon gern einen Tagtraum als Alptraum? Doch es gibt sie auch: Unfreiwillige Tagträume, zwanghafte Angstträume, die immer wieder kehren: Zitator 2: Autounfall des Kindes, Tod eines geliebten Menschen, das Haus brennt ab, das Flugzeugt stürzt ab, Bein-, Schädel- und Armbrüche, Herzinfarkte ... O-Ton 29: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Das wäre dann schon ein Fall fürs Krankenhaus. Zitator 1: ... jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit. Erzählerin: ... also auch eine Beinbruchphantasie bei sich und anderen, sagt Sigmund Freud. 27 O-Ton 30: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Der Tagtraum ist, ist jenseits von gut und böse, jenseits von Wahrhaftigkeit und Falschheit. Das ist meine, mir eigene und nur von mir zu leistende, meine ganz souveräne Selbstkonstruktion über mich selbst, der Tagtraum. Erzählerin: Kurzum: Ich kann träumen, was ich will. Das geht niemanden etwas an: O-Ton 31: Prof. Dr. Steffen Dietzsch 5.37 Das ist auch wichtig, dass Tagträume nicht verwirklicht werden müssen. Das ist einer ihrer Vorteile, dass sie diesen Zwang - philosophisch gesagt - von der Theorie zur Praxis, dass man diesem Zwang enthoben ist im Tagtraum. Erzählerin: Tagträume sind Spiele: Machtspiele, Rachespiele, Liebesspiele, Glücksspiele, Spiele, die ermächtigen, stark und berühmt machen ... O-Ton 32: Heiko Ernst Ich möchte beachtet werden, ich möchte im Mittelpunkt stehen, ich möchte berühmt werden. Da gibt es auch ein paar Studien dazu: "Fame" also Ruhm ist ein ganz starker Stoff, der da zu den Tagträumen motiviert. Geräusch: (Applaus, Gröhlen etc.) Zitatorin: Germany's next Topmodel ... Zitator 2: Superstar. Zitatorin: Superköchin. Zitator 2: Superman. Zitatorin: Superbäcker, Fußballstar, Supergirl ... 28 O-Ton 33: Heiko Ernst Tagträume und Spiel sind sehr verwandte Dinge. Denken Sie an das Kinderspiel, wo ja das Kind aus einem Stock das Schwert macht und aus einem Topf ein Helm, und sich in eine Welt hinein phantasiert, eine Ritterwelt in dem Fall oder mit Puppen spielt und diese Puppen gewinnen plötzlich an Lebendigkeit. Also dieses Tagträumen und Spielen hängen eng zusammen ... Erzählerin: Spielerisch können wir geplante Handlungen vorwegnehmen - O-Ton 34: Heiko Ernst Wie soll es laufen? Was will ich eigentlich? All das kann ich im inneren Probehandeln - das ist der Tagtraum nämlich auch oft - durchspielen in allen Varianten, positiven, negativen usw. Erzählerin: ... zum Beispiel die Begegnung mit dem unangenehmen Nachbarn, mit dem Chef ... (verhalten) Zitator 2: ... und ich haue ihm eine in die Fresse ... Erzählerin: ... oder wir erinnern uns später daran, was vorgefallen ist, imaginieren einen anderen, vielleicht angenehmeren Verlauf eines Gesprächs und fühlen uns dabei besser, beruhigen uns, wenn wir eine Niederlage einstecken mussten. So bekommen wir Distanz zu einer Realität, die Präsenz und Konzentration verlangt! Doch ein vollständiges Abdriften in ferne Welten ist verboten. (Sequenz schnell.) Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... 29 Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Zitator 2: Deine Phantasie geht mit dir durch! Zitatorin: Werde endlich erwachsen! Zitator 2: Nimm mal die Realität zur Kenntnis! Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Musik: (M 10. Ab 0.04, bei 0.07 dem Folgenden unterlegen.) Zitator 1: Wunsiedel war einer von den Leuten, die morgens, kaum erwacht, schon entschlossen sind zu handeln. "Ich muss handeln", denken sie, während sie energisch den Gürtel ihres Bademantels zuschnüren. "Ich muss handeln", denken sie, während sie sich rasieren. Auch die intimeren Verrichtungen lösen Befriedigung bei diesen Leuten aus: Wasser rauscht, Papier wird verbraucht. Wenn er sein Büro betrat, rief er seiner Sekretärin als Gruß zu: Zitator 2: Es muss etwas geschehen! Erzählerin: Und diese antwortete – in Heinrich Bölls Erzählung – frohen Mutes: (Sekretärin!) Zitatorin: Es wird etwas geschehen! Zitator 2: Es muss etwas geschehen! 30 Erzählerin: So folgt der erwachsene, zivilisierte Mensch dem Realitätsprinzip - der Welt der Arbeit, der Pflichterfüllung, der gesellschaftlichen Konventionen. So wird das Lustprinzip gedeckelt. Musik: (M 11: Text: "Tagtraummelodie") (sehr gelangweilt) Zitator 1: Wie immer. Button drücken! Musik: (M 2: Text: "... und ich fühl mich ....") Geräusch: (Ping) Musik: (M 2: Text: "... wie noch nie.") (etwas genervt) Zitator 1: ... und wie fühlen Sie sich? Musik: (M 2: Text: "... und ich fühl mich wie noch nie.") (schleimig, geil) Zitator 2: ... großartig, in meinen Tagträumen. Also ich habe sexuelle Tagträume. Wenn ich so durch die Straßen gehe, dann stelle ich mir vor, dass mir eine Fee erscheint und dann habe ich drei Wünsche frei. Und ich wünsche mir dann, dass meine Nachbarin, also die mit diesen Wahnsinns... ... Geräusch: (Töööt) Zitator 1: Danke! Erzählerin: Sexuelle Phantasien sind ein fester Bestandteil der Weltliteratur: Anais Nin ... 31 Zitatorin: Ich träumte von einem großen, starken Mann .... Erzählerin: ... bereits in ihrer Kindheit. Später schrieb sie Romane über ... O-Ton 35: Prof. Dr. Thomas Kretschmar ... viele Dinge, die für das Radio zu privat sind ... Erzählerin: Samuel Pepys, der englische Staatssekretär und Tagebuchschreiber aus dem 17. Jahrhundert dachte sogar an sich und die Königin und phantasierte... O-Ton 36: Prof. Dr. Thomas Kretschmar ... viele Dinge, die für das Radio zu privat sind ... Musik: (M 11: Text: "Tagtraummelodie") O-Ton 37: Heiko Ernst Tagträume sind eigentlich in Verruf. Das zieht sich ein bisschen auch durch die Psychologiegeschichte. Immer mal wieder tauchte ein Interesse am Tagtraum auf, namentlich bei Sigmund Freud ... Musik: (M 12. Ab Anfang, bei 0.02 aus.) Zitator 1: Der Glückliche fantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Erzählerin: ... Tagträume sind für Freud schnöde Ersatzbefriedigungen Zitator 2: Oh-nah-nie ... Zitatorin: Masturbation! Musik: (M 12. Ab 0.03 dem Folgenden unterlegen.) 32 Zitator 1: Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Musik: (Aus.) Erzählerin: ... räumt Freud ein, verurteilt aber derlei kleine Fluchten: Statt sich tapfer der Realität zu stellen und die Triebwünsche zu sublimieren, wird in Tagträumen wild herum phantasiert. Zitator 1: Realitätsverweigerung! Realitätsverleugnung! Erzählerin: Und Freud warnt: Je archaischer ihr Inhalt und je häufiger ihre Verwendung, desto gefährlicher sind Tagträume. Musik: (M 12. Ab Anfang, bei 0.02 aus.) Zitator 1: Der Erwachsene schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie vor anderen ... O-Ton 38: Heiko Ernst Tagträume kreisen um unsere heimlichsten Wünsche, unsere mächtigsten Triebe, unsere Aggressionen, unsere Begierden, unsere sexuellen Wünsche und so weiter. Musik: (M 12. Ab 0.18 dem Folgenden unterlegen.) Zitator 1: Es ist kein Zweifel, dass das Verweilen bei den Wunscherfüllungen der Phantasie eine Befriedigung mit sich bringt. Musik: (Aus.) 33 Erzählerin: Zitat Sigmund Freud. Doch, wie gesagt, leider - oder Gott sei Dank - je nachdem: Tagträume sind nur eine schwache ErsatzBefriedigung. Wenn der Mensch seine Begierden immer rücksichtslos befriedigen würde, sie realisieren würde, so Freud, wäre kein soziales Zusammenleben möglich. O-Ton 39: Heiko Ernst Insofern hat der Tagtraum manchmal im günstigen Falle auch präventive Wirkung. Es wird vieles nur in der Phantasie ausgelebt. Sie reicht dann manchmal schon. Erzählerin: Tagträume sind also besser als nichts - und sozial verträglich. Der Psychologe Heiko Ernst hebt hervor, dass ... O-Ton 40: Heiko Ernst ... dass diese Gedanken unglaublich wichtig sind, dass diese negativen Phantasien, Rachephantasien, sexuellen Phantasien, Dinge, die man wirklich nicht aussprechen kann oder mag, weil sie verpönt sind, weil sie strafwürdig sind oder riskant sind oder unethisch sind - dass auch hier der Tagtraum eine ganz wichtige Funktion hat. Musik: (M 12. Ab 0.30 dem Folgenden unterlegen.) Erzählerin: Allerdings: Zitator 1: Der Mensch findet mit der kargen Befriedigung, die er der Wirklichkeit abringen kann, eben nicht sein Auskommen. Musik: (Aus.) Erzählerin: ... er ist, so Freud, nie vollständig zufrieden. Er bleibt unentrinnbar im Hamsterrad seiner Tagträume und Sehnsüchte gefangen und läuft und läuft ... 34 O-Ton 41: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Als Mensch hat man die eigene Aufgabe, dass man sich über die Jahre bringt, die man hat. Erzählerin: Ja, ja ... Musik: (M 13. Ab Anfang, sehr kurz stehen lassen dann unter dem O-Ton ausblenden.) O-Ton 42: Heiko Ernst Es gibt regelrechte Lieblingstagträume: Das Haus am Meer oder die Traumfrau oder irgend etwas und man kehrt immer wieder zu diesem Wunsch zurück ... Erzählerin: Fortsetzungstagträume: Musik: (M 13. Ab Anfang oder dem Folgenden unterlegen.) Immer wieder malen wir uns eine Situation aus, immer wieder verändern wir sie, fügen Details hinzu. Immer wieder schieben wir kleinere Konflikte ein, lösen sie. Immer wieder entwickeln wir das Geschehen fort, fügen neue Stränge hinzu, lassen neue Personen auftreten. Wir freuen uns mit unserem Phantasiepersonal, leiden mit ihm, trauern mit ihm, hassen mit ihm, lieben mit ihm, wir werden innerlich warm und weich ... Geräusch: (Collage aus Telefonklingeln, Türklingeln etc.) ... - jedenfalls solange wir mit unseren Phantasien nicht unterbrochen werden. Musik: (M 13. Kurz aufblenden, dann wieder Folgenden unterlegen.) (zunehmend märchenhaft) Wenn wir uns mit einem Langzeittagtraum langweilen, arrangieren wir eine neue Geschichte mit neuem Personal vermutlich aber nach ähnlichen Mustern: Leidenschaftliche 35 Liebesromane für die unbefriedigten Lüste und ungestillten Sehnsüchte. Heldenromane für unser gebeuteltes Ego. Zur Besänftigung unseres ruhelosen Gemüts: Idyllen aus wunderschönen Frühsommerlandschaften, aus wellenumspülten Südseeinseln, vielleicht sogar sind wir auf heimeligen Planeten in fernen Galaxien unterwegs mit eigentümlichen Pflanzen, wundersamen Wesen ... Musik: (Aus.) (mahnend) Zitator 2: Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten ... Musik: (M 19. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.) Erzählerin: Immer wieder gab es Menschen, die andere in ihr Hinterstübchen einluden und damit Irritationen auslösten. Etwa Charles Fourier. (persönlich) Zitator 1: Ich mag Pastetchen. Erzählerin: Fourier träumte von Butterbirnen und von nicht zu schweren Pastetchen. So widmet er sich ihnen ... (persönlich) Zitator 1: Ich mag Pastetchen. Erzählerin: ... und anderen kulinarischen Ereignissen in seinem Werk fast ebenso so detailiert wie der Liebe, genauer: seinen sexuellen Tagträumen. (persönlich) 36 Zitator 1: Ich habe festgestellt, dass ich selbst bis zum Alter von dreißig in Unwissenheit war, was meine Neigung zu Lesbierinnen anbelangt. Erzählerin: Charles Fourier gilt als utopischer Sozialist. Er lebte zwischen 1772 und 1837. Die politische Konkurrenz, die "wissenschaftliche" Sozialisten, also Marx, Engels und Co, hielten ihn für völlig durchgeknallt, weil er seinen Sozialismus phantasievoll ausschmückte: Er kreierte eine abwechslungsreiche Arbeits- und Liebesordnung. Zitator 1: Die Natur treibt uns zur Liebesorgie. Erzählerin: Allerdings bedarf das Vergnügen laut Fourier gewisser Voraussetzungen - die wichtigste: Menschen müssten in Großkommunen leben. Wenn sich die Menschen in Gruppen von etwa 2000 zusammenschlössen, werde jeder für seine individuellen Neigungen Gegenparts finden. Sei das erst einmal zufriedenstellend organisiert, würde sich sich peu à peu der ganze Kosmos ändern. Im bevorstehenden Zeitalter der Harmonie, prognostiziert Fourier ... Zitator 1: ... wird die Nordpolkrone geboren ... Erzählerin: Sie wird überall auf der Erde für ein angenehmes, stets gleichbleibendes Klima sorgen. Die Meere würden dann nicht mehr salzig, sondern nach Zitronenlimonade schmecken. Der Mensch werde dann durchschnittlich 2,30 Meter groß und 144 Jahre alt werden. 37 Es gäbe auf den Straßen Zebraspuren - keine Zebrastreifen, sondern Spuren, die für Zebras reserviert seien. Die schädlichen Tiere - Haie, Wölfe, giftige Reptilien u.a. - würden durch eine Reihe von nützlichen Neubildungen ersetzt, der Löwe durch den Anti-Löwen; und der Anti-Löwe werde dann, so Fourier ... Zitator 1: ... leicht im Schritt mit raschem Trabe springen, und der Reiter wird auf seinem Rücken so weich sitzen wie in einem Federwagen. Es wird ein Vergnügen sein, diese Welt zu bewohnen, wenn man solche Diener haben wird. ... Erzählerin: Fouriers Visionen akzeptieren keine anatomischen Grenzen: Den Menschen werde ein neues Organ wachsen am Ende eines Schwanzes. Mit diesem Organ nähmen die Menschen die ätherische Fluida auf und könnten problemlos mit den Bewohnern anderer Sterne in Kommunikation treten. Zitator 1: Da die Planeten androgyn sind wie die Pflanzen, kopulieren sie mit sich selbst und mit anderen Planeten; so wird die Erde durch Kopulation mit sich selbst, durch Verschmelzung ihrer typischen Wohlgerüche, wobei das Männliche dem Nordpol und das Weibliche dem Südpol zuneigt, die Kirsche hervorbringen, die sub-pivotale Frucht der roten Früchte. Erzählerin: Vielleicht sollte man Tagträume dieser Extravaganz besser für sich behalten, vielleicht aber auch nicht. Musik: (Aus.) 38 O-Ton 43: Heiko Ernst Im Prinzip ist es das Privateste, was wir besitzen, diese Innenwelt. Musik: (M 12. Ab Anfang, bei 0.02 aus.) Zitator 1: Dürfen wir wirklich den Versuch machen, den Dichter mit dem "Träumer am helllichten Tag", seine Schöpfungen mit Tagträumen zu vergleichen? Erzählerin: ... das fragt Sigmund Freud. Er ist ein bisschen vorsichtig und bejaht diese Frage für die ... Zitator: ... anspruchslosen Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden. Erzählerin: Freud macht sich lustig über Tagträume und Romane, in denen der tapfere Held todesmutig Leben rettet, Feinde massakriert und selbst ungeschoren davon kommt. Musik: (M 12. So timen, dass bei "Musik aus", das Stück endet.) Zitator 1: An diesem verräterischen Merkmal der Unverletzbarkeit erkennt man ohne Mühe - Seine Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane. Erzählerin: Psychoanalyse kann grausam sein. Doch Freud rettet den wahren Dichter vor seinem trivialen Tagtraumkonkurrenten: 39 Zitator 1: .... der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen, das heißt ästhetischen Lustgewinn. Musik: (Aus.) Zitator 2: Ich schenke seelenruhig ein Glas kochendes Wasser ein und schütte es dem Gast in die Fresse. ... Und ich sage zu ihm: "Es ist keine Tugend mehr in meinem Herzen." Erzählerin: Daniil Charms Literaturstückchen muten vielleicht etwas "rabulistisch" an, bringen es aber auf den Punkt. Zitator 2: "Scheren Sie sich raus!" Und ich stoße den Gast hinaus. Musik: (M 14. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.) Erzählerin: Literatur besteht nicht nur aus Tagträumen, sie werden hier auch thematisiert, wie in Gustave Flauberts "Madame Bovary": Zitatorin: Das Bild des Vicmonte begann von sich aus langsam zu erstehen, und je mehr die junge Frau davon träumte, desto deutlicher wurde er mit jedem Tag … Erzählerin: Madame Bovary setzt ihre taggeträumten Sehnsüchte in die Praxis um, scheitert und macht ihrem Dasein mittels Arsen ein schmerzhaftes Ende. Zitator 2: Fein sachte, lieber Leser! ... 40 Erzählerin: Tagträume, die nicht verwirklicht werden, die sich selbst genügen, spiegeln sich überall in der Literatur und auf unterschiedlichste Weise. Zitator 2: Fein sachte, lieber Leser! ... Erzählerin: ... an die Leserinnen dachte der englische Erzähler Laurence Sterne nicht, als er sich in seinem „Tristram Shandy“ in Abschweifungen verwickelt, in die auch erinnernde Tagträume geraten ... Zitator 2: ... ich meine mit meines Urgroßvaters Nase das äußere Riechorgan oder denjenigen Teil des Menschen, der ihm prominent aus dem Gesichte ragt, - und der, wie die Maler sagen, bei guten famosen Nasen und wohlproportionierten ... ("herunterlesen"(ohne Punkt und Komma), ab "Riechorgan" unter dem Vorangehenden einblenden und dann auch in Kreuzblenden unter das Folgende. Die Zitatorin nur kurz freistehen lassen, und dann wieder nach der Erzählerin aufblenden.) Zitatorin: ... solange ich die beiden nicht direkt unter der Nase habe wie bei dieser Schlampe damals der Mary die wir in der Ontario Terrace hatten die sich immer den Hintern ausstopfte um ihn zu reizen schlimm genug den Geruch von diesen angemalten Weibern von ihm runterzukriegen so einmal oder zweimal hatte ich ja direkt einen Verdacht wo ich ihm dann gesagt habe er soll mal näher rankommen an mich wie ich das lange Haar fand auf seinem Rock und dann schon sowieso wie ich in die Küche kam und er so tat wie wenn er Wasser trinkt ... 41 Erzählerin: Bewusstseinsströme sind wie Tagtraumströme - hier in James Joyce's "Ulysses". Sie fließen dahin, ohne Ziel, versickern und tauchen wieder auf. (kurz Zitatorin aufblenden und hat aus.) Musik: (Aus.) Musik: (M 7: Text: "Es ist so schön in der Welt der Träume…") (energisch) Zitator 1: Ja, noch einmal. Button drücken! Musik: (M 7: Text: "... Träume ....") Geräusch: (Ping, Ping, Ping) (genervt) Zitator 1: Ja, ja, ja. Einmal drücken reicht vollkommen! (scheu) Zitatorin: ... Entschuldigung. Tut mir wirklich leid … vielleicht habe ich zu lang gedrückt … (genervt) Zitator 1: … okay, okay, was möchten Sie uns mitteilen? Zitatorin: … also, ich habe wirklich nur einmal gedrückt. Das ist doch hier unten links, oder? Geräusch: (Ping) Zitator 1: Ja, ja, jetzt sagen Sie schon. 42 Zitatorin: … ja, also, ich wollte sagen, dass hilft auch bei der Selbstfindung, was man so träumt. Also wenn ich - nur ein Beispiel - aggressive Tagträume habe, dann weiß ich, ich darf meine Wut nicht zu sehr in mich rein fressen. Wenn ich von einem Liebhaber träume, also dann weiß ich, was mir fehlt. Wenn ich von einem entspannten Alltag mit viel Natur und Tieren und so träume, ohne ... Geräusch: (Töööt) O-Ton 44: Heiko Ernst Ich will eine Veränderung von dem, was ich in der Realität erlebe, im Tagtraum erleben. Das ist der Sinn und Zweck eigentlich, dieses Wegtretens, dieses Abschweifens. Erzählerin: Veränderung fängt im Kopf an, auch im Tagtraum, meint Heiko Ernst: Zitator 1: Innere Bilder können unglaubliche Macht über uns ausüben - im Guten wie im Schlechten ... (Sequenz flüsternd unter das Vorangehende und Folgende) Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Zitator 2: Es muss etwas geschehen ... Zitatorin: Es wird etwas geschehen ... Erzählerin: Warum sollten Tagträume und ihre Bilder nicht dazu beitragen, dass etwas geschieht? 43 O-Ton 45: Heiko Ernst Der Tagtraum muss reflektiert werden. Es reicht nicht ihn zu haben und mit ihm zufrieden zu sein und zu sagen: Es ist halt so ... Erzählerin: ... wie wäre es also mit einer Tagtraumtherapie ... Musik: (M 15: Dem Folgenden dezent unterlegen.) Zitator 1: "Die Kraft der inneren Bilder nutzen. Seelische und körperliche Gesundheit durch Imagination." Erzählerin: Ein Buch mit diesem Titel schrieben Thomas Kretschmar und Martin Tzschaschel. O-Ton 46: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Manchmal ist der Tagtraum aber auch eine ganz gute Lösung, um dann etwas völlig Neues zu finden. Zum Beispiel hatte ich einen Klienten, der zu mir kam, der hatte die berufliche Frage, ob er sich verändert oder gleich bleibt. Wir haben das dann im Traumbild dargestellt durch eine Landschaft mit einer Brücke und einem Fluss und die Frage war, geht er über die Brücke oder bleibt er hier. Erzählerin: Prof. Dr. Thomas Kretschmar ist Chef des "Berliner Mind Institute" in der Friedrichstraße/Ecke Unter den Linden. Teure Gegend. Büro im "Excellent Business Center"! So lässt Thomas Kretschmar auch Politiker, Unternehmensberater und andere wichtige Menschen über imaginäre, also herbeigetagträumte, Brücken gehen O-Ton 47: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Und nachdem wir uns länger mit diesem Bild auseinandergesetzt haben, zeigte sich dann plötzlich eine kleinere Brücke daneben, er ging da drauf und hüpfte da rum und das machte ihm richtig Spaß, obwohl die Brücke viel wackliger war. Zitator 1: No risk, no fun. 44 Erzählerin: Die Methode ist unter der Bezeichnung "Katathym-Imaginative Psychotherapie" Mitte des 20. Jahrhunderts von Hanscarl Leuner entwickelt worden. Zitator 1: Katathym heißt: aus dem Gefühl heraus, nicht vom Willen gesteuert. O-Ton 48: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Nach einigen Stunden von Diagnostik und Einführung starten wir dann mit Inneren Bildern. Also der Klient lehnt sich bequem auf diese Sessel hier zurück, die Sie hier sehen, Erzählerin: "Stressless-Sessel" in beige - rückklappbar, sehr bequem ... (Geräusch: Tiefes Atmen dem O-Ton ab "Atmung" unterlegen.) O-Ton 49: Prof. Dr. Thomas Kretschmar ... um auf diesem Sessel zu spüren, wie der Körper heute so da ist. - Und vielleicht bemerken Sie auch, wie Ihre Atmung ganz gut so ein und aus geht. - Und wie das Blut durch die Adern fließt und an manchen Stellen so ein ganz leichtes Kribbeln erzeugt. - - 9.01 Alle Gedanken an Vergangenheit und Zukunft dürfen aus dem Fenster fliegen und Sie sind nur noch hier. Erzählerin: ... gemeint ist der Autor dieser Sendung, der ganz entspannt in tiefer Bauchatmung im Stressless-Sessel liegt ... O-Ton 50: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Und während Sie sich erlauben, tiefer und tiefer in die Entspannung zu fallen, ist ein Teil von Ihnen hellwach und Sie stellen sich vor ihrem inneren Auge irgend eine Wiese vor, ganz egal, was kommt. Alles, was kommt, ist gut ... Erzählerin: Es war übrigens die leicht modifizierte Wiese mit Eiche, an der der Autor gelegentlich spazieren geht. O-Ton 51: Prof. Dr. Thomas Kretschmar RC: Die ist leicht ansteigend zum Horizont. Im Hintergrund habe ich einen Wald und vorne ist eine Eiche auf der Wiese. Die Wiese ist rechts und links in einem großen Abstand von Bäumen begrenzt. Nach vorne hin sehe ich den Horizont. TK: Ja, wie ist das Wetter auf Ihrer Wiese? RC: Ah, wunderbar. 45 Schönes Sommerwetter, nicht zu warm, leichter Wind. TK: Ja. Kann man etwas riechen? Ja, von hinten ist es ein bisschen muffig ... Erzählerin: ... muffige Gerüche verweisen auf Probleme. Bäume übrigens auch. Das sind Vaterfiguren. O-Ton 52: Prof. Dr. Thomas Kretschmar TK: Ja. Was ist es für ein Gefühl, auf dieser Wiese zu stehen, auf den Horizont zu sehen? - - RC: - - - Es ist ein Gefühl von Weite. TK: Ja. Seien Sie mit dem Gefühl der Weite. - - - Erzählerin: ... und mit diesem Gefühl der Weite geht es die Wiese hinauf. Von dort aus sind Bauernhäuser zu sehen inmitten von Obstbäumen - einfach schön ... O-Ton 53: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Kommen Sie mit Ihren Gedanken bitte wieder zurück in das Jetzt und Hier in diesem Raum. (leichte Geräusche) RC: Ja. (Geräusche) (Geräusch: Noch einmal laut ausatmen.) Erzählerin: Das war allerdings nur eine extrem verkürzte Variante des Beginns einer "Katathym-Imaginativen Psychotherapie". O-Ton 54: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Viele Fragen, die da in Ihrem Traum waren, kann man dann auch vertiefen. Die Frage, warum Sie den Baum nicht sehen wollten ... und das führt einen dann - Therapie ist ja nicht für fünf Minuten - wie wir das hier gemacht haben, sondern viele, viele Stunden, manchmal ein paar hundert Stunden, führt das dann zu tieferliegenden, grundsätzlichen Gefühlssituationen, Erinnerungen an Kindheit und Erinnerungen an Erlebnisse, die wir dann hier durcharbeiten. Musik: (Aus.) Erzählerin: Kurzum: Tagträume werden nutzbar gemacht, um Klienten funktionstüchtig zu halten oder um sie zu optimieren. Musik: (M 16: Ab 0.31 dem Folgenden unterlegen.) 46 Das gilt auch für die Therapierung der Gesellschaft: Tagträume können helfen, eine bessere Gesellschaft herbeizuführen und den Menschen zu erlösen - das meinte jedenfalls Ernst Bloch in seinem Werk "Das Prinzip Hoffnung". Zitator 1: Der Inhalt ... der Tagfantasie ist offen, ausfabelnd, antizipierend, und sein Latentes liegt vorn ... Erzählerin: ... vorn, in der Zukunft. In Tagträumen verbergen sich - neben allerlei privater Wünsche: das Haus am Meer, das Erschlagen des Chefs, der perfekte Liebhaber etc. ... in ihnen verbergen sich Utopien von einer besseren Gesellschaft. Zitator 1: Der Wachtraum kommt selber aus Selbst- und Welterweiterung ... ist Besserhabenwollen ... So ist überall Wachtraum mit Welterweiterung, als exaktes Phantasieexperiment der Vollkommenheit ... vorausgesetzt. Musik: (Aus.) Erzählerin: Der Tagtraum antizipiert, nimmt also die in der Geschichte angelegte "objektive Tendenz" vorweg, meint Bloch. O-Ton 55: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Bei Bloch ist der Tagtraum letztlich auch wieder instrumentalisiert. Er soll eine vom Menschen ausgehende und ihm naheliegende Struktur sein, die ihm hilft, herauszugehen aus dem Alltag und dorthin zukommen, wo noch keiner war, .. in die Struktur der Heimat oder der Utopie. Erzählerin: Tagträume liefern Energien für den Fortschritt ... (flüsternd teilweise unter das Vorangehende und Folgende.) 47 Zitator 2: Es wird etwas geschehen ... Erzählerin: Für "das Prinzip Hoffnung" wird der Tagtraum instrumentell genutzt - wie in den Konzeptionen der Tagtraumtherapie, des Tagtraumprobehandelns, der Tagtraumlustersatzbefriedigung und der Tagtraummotivationsforschung. Bloßes Löcher-in-die-LuftStarren, abschweifen, wegbeamen gilt nicht. Es muss immer gut sein für etwas, vor allem für die Leistungsgesellschaft: Musik: (M 10. Ab 0.04 dem Folgenden unterlegen.) (schnell und rhythmisch, wie die Musik) Zitator 2: Es wird etwas geschehen! Zitatorin: Es muss etwas geschehen! Zitator 2: Es wird etwas geschehen! Zitatorin: Es muss etwas geschehen! Zitator 1: An einem Dienstagmorgen stürzte Wunsiedel in sein Zimmer und rief sein "Es muss etwas geschehen!" Doch etwas Unerklärliches in seinem Gesicht ließ mich zögern, fröhlich und munter, wie es vorgeschrieben war, zu antworten. Nur mit größter Anstrengung brachte ich den Satz heraus: "Es wird etwas geschehen!". Da geschah tatsächlich etwas. Wunsiedel stürzte zu Boden. O-Ton 56: Prof. Dr. Thomas Kretschmar Das wäre dann schon ein Fall fürs Krankenhaus. Musik: (Aus.) 48 Erzählerin: Zu spät. Zitator 1: Ich wusste gleich, dass er tot war. Erzählerin: Ausgeträumt hat Heinrich Bölls Wunsiedel schon lange vorher. Wer träumt, arbeitet sich nicht tot, der hat gar keine Zeit dazu. Tagträume sind die perfekte Burnout-Prophylaxe. Sie sind außerdem literaturfähig, seit Jean-Jacques Rousseaus "Träumereien eines einsamen Spaziergängers", Ende des 18. Jahrhunderts. Musik: (M 17. Ab Anfang bei 0.03 dem Folgenden unterlegen.) Zitator 2: Diese Blätter werden eigentlich nur ein formloses Tagebuch meiner Träumereien enthalten. Es wird darin sehr oft die Rede von mir sein, weil ein nachdenkender Einsamer sich notwendig sehr viel mit sich selbst beschäftigen muss. Musik: (Aus.) O-Ton 57: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Im 18. Jahrhundert bei Rousseau in diesen Träumereien eines einsamen Spaziergängers da taucht etwas Neues auf. Hier wird nicht mehr die Gattungseigenschaft zentral genommen, sondern hier wird die individuelle Leistung eines Individuums vorgestellt und dessen Selbsterfahrung, dessen Selbstkonstruktion, dessen Zufälligkeiten, die werden als das eigentlich Interessante am modernen Menschen gezeigt. Musik: (M 17. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.) Zitator 2: So bin ich denn ... meiner eigenen Gesellschaft überlassen. Musik: (Aus.) Erzählerin: ... so beginnen die "Träumereien". 49 O-Ton 58: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Für ihn war der Mensch als Einsamer nicht ein einsamer Einzelner, sondern er war .. als Einzelner mit sich selber in Gesellschaft. Das heißt: Es gibt gar keine Einsamkeit in diesem strengen Sinne und keine Abgeschiedenheit. Sondern der Mensch, dieser rousseau‘sche Spaziergänger ist einer, der mit sich selbst in Gesellschaft ist und damit auch ein Selbstverhältnis ausbilden kann. Dieses ist viel reicher und ist für die kulturelle Praxis viel interessanter und perspektivreicher als nur dieser abstrakte Gattungssatz: Wir sind denkende Wesen. Zitator 1: Ich denke, also bin ich. Erzählerin: Das ist die Grundannahme des Philosophen Descartes für die gesamte Menschheit. O-Ton 59: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Das ist richtig, aber damit erschöpft sich nicht unser kultureller Alltag, unser intellektueller Alltag, unsere Phantasien, die muss man auch bündeln und zusammenhalten und das lernt man am besten im Tagtraum. Erzählerin: Im Tagtraum des Einzelnen öffnen sich noch andere Dimensionen des Menschseins als das Denken, meint Steffen Dietzsch. Zitator 2: Phantasie, Intuition, Sehnsucht, Unbehagen, Gefühle, Distanzbedürfnisse ... Erzählerin: ... alles das wird Gegenstand der Reflexion in Rousseaus "Träumereien eines einsamen Spaziergängers": O-Ton 60: Prof. Dr. Steffen Dietzsch . ... für diese Tagträumerei ist er einer der großen philosophischen Entwürfe, kann man sagen, die man viel zu wenig hört in der Gegenwart, auch viel zu wenig von "Ratgebern". Da wird auch immer das geschmeidige Individuum gefordert, das sich angleichen muss, das sich konditionieren muss, um immer weiter und besser zu sein. 50 Erzählerin: Rousseaus Spaziergänger ist selbstbewusst, exzentrisch, polemisch, selbstverliebt, bisweilen paranoid, aber er genießt seine eigene Gesellschaft. Musik: (M 17. Ab Anfang dem Folgenden unterlegen.) Zitator 2: ... so habe ich mir zur einzigen Pflicht gemacht, mich zurückzuziehen ... Bei dieser körperlichen Untätigkeit ist indes meine Seele noch tätig ... sie erzeugt Gefühle und Gedanken ... Musik: (Aus.) O-Ton 61: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Da hat man den Hinweis darauf, dass der tagträumerische Mensch gar kein leerer Mensch ist, dass er voll des Reichtums der Weltkultur ist. Erzählerin: ... und zwar genau deshalb, weil er den Zudringlichkeiten der Realität entkommen kann. Geräusch: (Collage aus Handyklingeln, Computersignalen, Jingle DLF, Türklingeln etc.) Musik: (M 18. Text: " Wir träumen einfach am Tag, einfach am Tag ...") Zitator 1: Tatsächlich sind wir Menschen nicht-festgestellte Tiere, Wesen, die immer woanders sind, Wesen mit Absenzen, Träumen, Phantasien ... Erzählerin: ... schreibt der Philosoph Rüdiger Safranski ... Zitator 1: Der Mensch ist nicht ganz dicht, er entweicht ins Imaginäre. Der sogenannte realistische Sinn wird beherrscht vom Willen, sich in andere Sphären hineinzuspinnen. 51 Musik: (M 18. Text: "Wir träumen einfach am Tag, einfach am Tag ...") Erzählerin: ... was nicht heißen muss, dass wir völlig abtauchen in unsere Hirngespinste. Geräusch: (Collage aus Handyklingeln, Computersignalen, Jingle DLF, Türklingeln etc.) O-Ton 62: Heiko Ernst Wenn die Individuen, die handelnden Menschen in wirtschaftlichen oder politischen Zusammenhängen nicht mehr gewohnt sind, sich selber Pausen zu geben, Reflexionsmöglichkeiten und Tagtraummöglichkeiten zu geben, dann sind sie nur noch Getriebene und dann ist nur noch dieses Außen, der Außentakt das Maßgebliche und das ist ganz verheerend. Musik: (M 18. Text: "Wir dürfen nicht aufhören zu träumen ...") O-Ton 63: Prof. Dr. Steffen Dietzsch Der Tagtraum soll uns nicht in die Lage versetzen, uns wegzuducken von den Zumutungen der Welt, sondern es ist gerade umgekehrt eine Strategie, um sich sicher zu machen in dieser Brandung der Gegenwart Bestand haben zu können - das ist die eigentliche Menschheitsform in der Kraft des Tagtraums. Und dass man im Widerstand bleibt, dieser tagträumerische Mensch, das ist jemand, der eine gewisse Macht über seine Autonomie weiter besitzt und Macht über sein eigenes Selbst auch, eine Macht, die ... seine Autonomie bewahren hilft. Musik: (M 7: Text: "Sag mir deinen Traum ...".) Zitatorin: Besser nicht! Musik: (M 7: Text: "Hallo liebe Schwester, sag uns deinen Traum. Hallo lieber ...") (die Musik unterbrechend, gelangweilt) Zitator 1: Möchten Sie zu diesem Thema noch was sagen, schreiben, und so weiter - den Button unten links. Geräusch: (Ping) 52 (höhnisch) Zitator 1: Na, wunderbar. Musik: (M 13: Ein bei 0.15. Kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.) ("intim", zart, etwas zögerlich) Zitatorin: Tagträume mögen keinen Lärm. Wer sie erzählt, der verscheucht sie. Wer sich keine Zeit für sie nimmt, von dem verabschieden sie sich. Wenn es laut wird, gehen sie. Tagträume sind nur für mich, für niemanden sonst. Wir müssen gut auf sie aufpassen. Wir müssen wachsam sein und sie schützen gegen Eindringlinge von außen, gegen den ganzen Müll, der nur darauf wartet, unsere Innenwelt zu überfluten. Geräusch: (Töööt) Musik: (M 13: Ein bei 0.15. Kurz stehen lassen, dann dem Folgenden unterlegen.) Zitator 2: Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen ... ABSAGE: Kleine Fluchten. Tagträume Feature von Rolf Cantzen Mit Texten von Daniil Charms, Heinrich Böll, Charles Fourier, Laurence Sterne, Sigmund Freud, Theresia von Avila, Michel de Montaigne, James Joyce und Friedrich Nietzsche Es sprachen: Anneke Kim Sarnau, Barnaby Metschurat, Udo Schenk und Katrin Wehlisch. Regie: Philippe Bruehl Redaktion: Klaus Pilger. Produktion: Deutschlandfunk 2016 (Musik: Aus.) 53
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