Langfassung der Pressemeldung des Projekts

Pressemitteilung zum 10.12.2016 – Tag der Menschenrechte
Deutsche Hochschule der Polizei (Münster)
Zoom – Gesellschaft für prospektive Entwicklungen e.V. (Göttingen)
Studie weist auf Defizite im staatlichen Schutz vor häuslicher Gewalt hin
In Fällen häuslicher Gewalt gibt es in Deutschland ein prinzipiell gut abgestimmtes Schutzsystem:
Nach dem Prinzip „Wer schlägt, der geht“ verweist die Polizei den Täter für zehn bis 14 Tage aus
der Wohnung. Das Opfer kann in dieser Zeit einen Antrag nach Gewaltschutzgesetz stellen, um ein
längeres Kontaktverbot oder die alleinige Zuweisung der gemeinsamen Wohnung zu erwirken.
Während die einschlägigen Regelungen und Instrumente grundsätzlich allen Opfern offen stehen,
zeigen sich in der Praxis deutliche Anwendungsprobleme und –defizite.
In einer aktuellen Studie1 haben die Deutsche Hochschule der Polizei (Münster) und Zoom –
Gesellschaft für prospektive Entwicklungen e.V. (Göttingen) die Anwendung von polizeilichen
Wegweisungen und Anordnungen nach Gewaltschutzgesetz in der Praxis untersucht. In einer
Befragung von 88 Personen aus Polizei, Justiz und Opferunterstützungseinrichtungen zu ihren
Erfahrungen mit der praktischen Anwendung von Wohnungsverweisung und Gewaltschutzgesetz
fand das Forschungsteam, dass Wegweisungen und Gewaltschutzgesetz lokal sehr unterschiedlich
gehandhabt werden und darüber hinaus die Einhaltung von Schutzanordnungen vielfach nicht
durchgesetzt wird. Diese Problematik verstärkt sich für manche Opfergruppen dadurch, dass die
vorgesehenen Maßnahmen ihnen nicht zur Verfügung stehen oder in ihrer Lebenssituation nicht
greifen, wie z. B. bei Gewaltbetroffenen mit Behinderungen und Unterstützungsbedarf,
Migrantinnen/geflüchteten Frauen, Wohnungslosen und Müttern, die mit dem Täter gemeinsame
Kinder haben.
Das Forschungsteam stellte fest, dass für Opfer, die gleichzeitig auf Pflege und Unterstützung durch
den Partner angewiesen sind, die Anwendung dieser Schutzmaßnahmen häufig nicht in Frage
kommt, wenn ohne den gewalttätigen Partner etwa der Umzug ins Pflegeheim oder Isolation droht
bzw. die notwendige Unterstützung für eine autonome Lebensführung nicht zur Verfügung steht.
Auch für viele Migrantinnen, insbesondere geflüchtete Frauen, kann eine räumliche Trennung
teilweise nicht umgesetzt werden oder ist mit unerwünschten Konsequenzen verbunden, wenn etwa
der eigene Aufenthaltsstatus vom Ehepartner abhängt oder eine Wohnsitzauflage für Opfer und
Täter besteht. Und auch wenn gewaltbetroffene Frauen gemeinsame Kinder mit dem Gewalttäter
haben, ist es häufig schwierig, ein gerichtliches Kontakt- und Näherungsverbot nach dem
Gewaltschutzgesetz zu erwirken bzw. umzusetzen. Denn Kinder haben ein Recht auf Umgang mit
beiden Elternteilen, und die Ausübung von Gewalt gegen den anderen Elternteil steht dem
Umgangskontakt mit dem Kind nach überwiegender gerichtlicher Auffassung nicht entgegen. Die
konkreten Sorge- und Umgangsregelungen berücksichtigen die Schutzbedarfe von gewaltbetroffenen
Müttern nicht immer angemessen und erzwingen Kontakte und Konfrontationen mit dem Täter.
1
Das Projekt „Specific Needs and Protection Orders“ wurde im Daphne III-Programm der Europäischen
Kommission gefördert und in Kooperation mit Partnerorganisationen aus Österreich, Polen und Portugal im
Zeitraum von Oktober 2014 bis September 2016 durchgeführt. Informationen unter www.snap-eu.org.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass der Schutz von Opfern häuslicher Gewalt in Deutschland
verbesserungswürdig ist. Eine Optimierung ist nicht nur im Sinne der Opfer, sondern auch in Bezug
auf internationale Verpflichtungen dringend erforderlich. Denn die Europäische Opferschutzdirektive
sieht vor, dass alle Maßnahmen der Justiz die Bedarfe von besonders schutzbedürftigen Opfern von
Straftaten - und zu diesen zählen Opfer von Beziehungsgewalt - berücksichtigen müssen (EUOpferschutzdirektive 2012/29/EU). Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (Art 16) ist
Deutschland zudem verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit
Behinderungen „vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, einschließlich ihrer
geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen“ sowie „Hilfe und Unterstützung für Menschen mit
Behinderungen“ in geeigneter Form zu gewährleisten.
Die zur Ratifizierung ausstehende „Istanbul Konvention“ des Europarates fordert zudem, dass
Gewaltschutzmaßnahmen allen gewaltbetroffenen Frauen leicht zugänglich sind sowie schnell und
effektiv umgesetzt werden und „dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte
und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet.“
Um die bestehenden Schutzlücken systematisch und nachhaltig abzubauen, ist ein umfassendes
politisches Gesamtkonzept sowie ein koordiniertes Vorgehen erforderlich, das die konsequente
Anwendung und Schutzwirkung der Instrumente für alle Opfer von Nahraumgewalt fördert. Es
müssen erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um für alle Opfer von Nahraumgewalt
sowohl akut als auch langfristig effektive Schutzmaßnahmen zur Verfügung zu stellen und ein Leben
in Sicherheit zu ermöglichen.
Wie ein verbesserter Gewaltschutz für Opfer von Nahraumgewalt gestaltet werden könnte, zeigt das
Policy Paper des sozialwissenschaftlichen Instituts Zoom auf (http://snap-eu.org/reports.php).
Alle weiteren Hintergrundinformationen zum Projekt, nationale und internationale
Forschungsberichte sowie politische Handlungsempfehlungen (Policy-Papiere) der beteiligten
Länder finden sich ebenfalls auf der Projektwebsite www.snap-eu.org.
Kontakt:
Sandra Kotlenga
Barbara Nägele
[email protected]
[email protected]
Tel: 0551/5084513
Tel: 0551/5084511