Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 17. Dezember 2016, 11.05 – 12.00 Uhr KW 50 Zwischen Kampfgeist und Hoffnungslosigkeit: Die Türkei fünf Monate nach dem Putschversuch Mit Reportagen von Luise Sammann Moderation und Redaktion: Manfred Götzke Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – 2 OPENING: O-Ton OPENING Sprecher: In jener Nacht haben wir unsere Demokratie verteidigt. Was wir getan haben, war wie eine Wahl: Das Volk hat seinen Willen gezeigt und die Putschisten gestoppt. MOD … sagt ein Erdogan-Anhänger, der sich am 15.Juli todesmutig vor einen rollenden Panzer warf, um die türkische Demokratie zu verteidigen. Ein gefeuerter Uniprofessor meint: O-Ton OPENING 3 Sprecher: Das Leben hier hat sich verändert. Die Türken flüstern heute viel. Und das, obwohl sie von Natur aus eigentlich gern laut sprechen. Keiner hier traut sich heute mehr laut etwas gegen die Regierung zu sagen. MOD: Zwischen Kampfgeist und Hoffnungslosigkeit – Die Türkei 5 Monate nach dem Putschversuch. „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Luise Sammann. Am Mikrofon: Manfred Götzke MUSIK 1 3 REPORTAGE 1 Geschenk Gottes – so nannte Tayip Erdogan den Putschversuch noch in derselben nacht. Der türkische Präsident hat das Geschenk genutzt. Die Türkei ist seit dem 15. Juli ein anderes Land. Journalisten, Akademiker selbst oppositionelle Abgedoernete wurden verhfaftet. Jeder der nur Kritek am Kurs des Regimes äußert, läuft Gefahr unter Terrorverdacht zu geraten. Aus Sicht der Anhänger Erdogans wurde vor 5 Monaten die Demokratie verteidigt. Märtyerer nennt der Präsident die Menschen, die sich damals den Panzern entgegenstellten. Im ganzen Land werden sie präsentiert – ihre Geschichte erzählt. --Atmo Kantine, Metin erzählt Wäre der Panzer fünf Zentimeter weiter gefahren, er hätte seinen Kopf zermalmt wie eine Papierkugel. Metin Dogan blickt von den Bildern auf, die den kritischsten Moment seines Lebens zeigen. Fünf Zentimeter mehr, und der junge Mathelehrer säße heute nicht mit einem Glas Cay in der Kantine der Istanbuler Marmara-Universität. Sprecher 1 O-Ton 1 Metin (Orig.Türkisch) Sprecher: Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, der als Märtyrer für irgendwas sterben will. Aber an jenem Abend habe ich mich vor den Panzer gelegt, um damit Hunderttausende andere Leben zu retten. Metin Dogan, ein sportlicher Typ – Lederjacke, Spiegelglatze, schwarzer Vollbart – gehört zu den türkischen Helden des 15.Juli. Gemeinsam mit anderen so genannten Putschveteranen soll er heute vor Publikum erzählen, wie er den Tod in Kauf nahm, um die Aufständischen zu stoppen. Früher, sagt er lachend, hatte er vor jeder Unterrichtsstunde Lampenfieber. Inzwischen spricht er regelmäßig zu Tausenden. 4 Sprecher 1 O-Ton 2 Metin (Orig.Türkisch) Sprecher: Ich war in den letzten Wochen in 30 Städten, habe an Gymnasien und Unis Vorträge gehalten. Wenn Gott mich das Zusammentreffen mit einem Panzer überleben ließ, dann vielleicht, weil er wollte, dass ich darüber rede – dass ich all denen widerspreche, die behaupten, dass dieser Putschversuch nur inszeniert war. Die Männer und Frauen, die mit Dogan am Tisch sitzen, nicken zustimmend. Auch sie sollen gleich auf die Bühne: Sabri Ünal, ein schüchterner Computerprogrammierer mit dicken Brillengläsern, der an jenem Abend gleich von zwei Panzern überrollt wurde und nur durch ein Wunder überlebte. Rentner Ahmed, der in der Putschnacht einen Sohn schwer verletzt, den anderen tot nach Hause trug. Und die gerade erst 14jährige Adviyye, die gemeinsam mit ihren Eltern auf die Straße rannte, nachdem Präsident Erdogan das Volk im Fernsehen dazu aufgerufen hatte. Eine Soldatenkugel zerfetzte der Neuntklässlerin dabei den Rücken. „Unsere jüngste Veteranin“, Dogan deutet eine Verbeugung vor Adviyye an, die so rot wird wie die Türkei-Flagge auf ihrem Kopf. Noch wissen die Ärzte nicht, ob sie je wieder ganz gesund wird. Sprecherin 1 O-Ton 3 Adviyye (Orig.Türkisch) Sprecherin: Ich bin trotzdem froh, dass ich da rausgegangen bin. Ich würde es sofort wieder tun, auch jetzt, wo ich weiß, was passieren kann. Hätten wir die Putschisten nicht aufgehalten, hätte unser Land eine dunkle Zukunft erwartet. Da bin ich sicher. Adviyyes Mutter kommt an den Tisch, legt der Tochter voller Stolz die Hand auf die Schulter. Nicht eine Sekunde, sagt sie, habe sie je bereut, dass sie Adviyye in jener Nacht mitgenommen hat. 5 Sprecherin 2 O-Ton 4 Adviyyes Mutter (Orig.Türkisch) Sprecherin: Einige Nachbarn haben später gesagt: ‚Was hatte das Mädchen dort draußen zu suchen, was hätte nicht alles passieren können…‘ Ich habe ihnen geantwortet: Wenn sie für unser Land gestorben wäre, wäre ich erst recht stolz gewesen! Wirklich, ich beneide sie darum, dass sie verletzt wurde und ich nicht. Atmo Gruppe geht in Veranstaltungsraum, Fotokameras Als die Gruppe der Veteranen aufsteht um in den Veranstaltungraum zu gehen, bitten ein paar Frauen um ein Foto mit Metin und Adviyye. Man kennt die Gesichter der Veteranen des 15.Juli in der Türkei. In den Medien werden sie täglich gefeiert, Straßen und Schulen werden nach ihnen benannt, der Staat kümmert sich finanziell um sie und ihre Angehörigen. Atmo Videovorführung Auch das hochprofessionell gestaltete Video, mit dem die Veranstaltung schließlich eröffnet wird, widmet sich den Helden der Putschnacht. Bilder von zerbombten Regierungsgebäuden und auf Zivilisten schießenden Soldaten ziehen über die Leinwand. Dramatische Musik unterstreicht die Szenen. Dann kommen die Auftritte der Veteranen. Atmo Veteranin durchs Mikro („Dank sei Allah…“) Eine Frau humpelt mit Krücken auf die Bühne, dankt Allah dafür, dass er sie auserwählt hat, ihr den Mut gegeben hat, sich den Putschisten entgegenzustellen… „In dieser Nacht hat dieses großartige Volk gezeigt, wie sehr es sein Land liebt“, sagt der Redner nach ihr. „Ich bin stolz, Teil dieser Nation zu sein, die heute noch stärker und demokratischer ist als sie es vor dem 15.Juli schon war!“ Die vielleicht 300 Zuschauer sind sichtlich ergriffen. Als schließlich Erdogans Tochter Esra die Bühne betritt, mit leiser 6 aber bestimmter Stimme betont, dass ihr Vater nie etwas anderes wollte, als dieses Volk, diese Nation zu verteidigen, hält der Applaus minutenlang an. Atmo Applaus Eine gute Stunde später verlassen viele Anwesende den Saal mit Tränen in den Augen. Auch die Veteranen sind zufrieden. Die Botschaft, die sie Kritikern im In- und Ausland seit Wochen entgegensetzen, scheint wieder einmal angekommen. Sprecher 2 O-Ton 5 Sabri (Orig.Türkisch) Sprecher: In unserem Land gibt es eine vom Volk gewählte Regierung. Niemand hat sie uns wie eine Diktatur aufgezwungen… …sagt Computerprogrammierer Sabri zum Abschied, den vom Panzer zerquetschten Arm in einer Schlinge. Sprecher 2 O-Ton 6 Sabri (Orig.Türkisch) Sprecher: In jener Nacht haben wir unsere Demokratie verteidigt. Was wir getan haben, war wie eine Wahl: Wir haben unseren Volkswillen gezeigt und die Putschisten gestoppt. MUSIK 7 ANMOD LITERATUR Der türkische Musiker, Autor und Filmregisseur Zülfü Livaneli gehört zu einer Generation von Türken, die nach 1960, 1971 und 1980 in diesem Sommer schon zum vierten Mal miterleben, wie sich am Bosporus das Militär gegen eine gewählte Regierung erhebt. In seiner 2011 auf Deutsch erschienenen Autobiographie beschreibt Livaneli das Leben im Ausnahmezustand. Er erzählt von den Verfolgungs- und Verhaftungswellen, die auf die Umstürze folgen - und die vor allem kritische Intellektuelle wie ihn nicht verschonen. Die tiefen Gräben, die sich damals wie heute durch die türkische Gesellschaft ziehen, sie sind zum Leitmotiv seiner Arbeit geworden. LITERATUR Die Militärs regierten mittlerweile ohne jegliche Kontrolle und ließen alle Teile der Bevölkerung gnadenlos ihre Macht spüren. Unmittelbar nach dem Putsch hatten sie sich noch zurückhaltend gegeben, doch als sich ihnen niemand entgegenstellte, fühlten sie sich zu irrwitzigen Strafaktionen ermutigt. Das Putschregime war davon besessen, bestimmte Intellektuellenkreise, um jeden Preis ins Gefängnis zu bringen. Den Staatsanwälten oblag es dann, für die Verhaftungen irgendeinen Vorwand zu finden und sich Anklageschriften auszudenken. Unter dem Einfluss der Regimepropaganda wurde überall nach „Stadträubern“ gesucht, wie es damals hieß, und viele Bürger eiferten danach, als „verehrte Informanten“ tätig zu werden, wie diese allen Ernstes von der Regierung genannt wurden. Nachbarn und Verwandte zeigten sich gegenseitig an… ANMOD: „Es besteht kein Unterschied, ob jemand Kugeln im Namen einer Terrororganisation schießt, oder ob er Propaganda für sie macht.“, das hatte Präsident Erdogan bereits im Januar 2016 verkündet. Damals hatte die Initiative „Akademiker für den Frieden“ die Regierung 8 aufgerufen, die Gewalt im kurdischen Südosten des Landes einzustellen. Erdogan war erzürnt und kündigte öffentlich Vergeltung an. Der Putschversuch kam ihm dafür gerade recht. In kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich, waren die so genanten Säuberungen so hart und so umfangreich wie in der Bildung. Mit Dekret Nummer 672 haben allein an den Hochschulen 2300 Dozenten und Professoren wegen angeblicher Terrorverbindungen über Nacht ihre Anstellungen verloren und dazu das Recht, je wieder in den Staatsdienst zurückzukehren. An den Schulen des Landes wurden 30.000 Lehrer entlassen. Während für die Regierungsanhänger nach wie vor allein die Putschnacht und die abgewendete Gefahr im Mittelpunkt steht, verweisen sie auf all das, was seit dem geschehen ist. Ein Putsch nach dem Putsch. REPORTAGE 2 Atmo Vorlesung Etwa 250 Menschen drängeln sich in einem provisorischen Hörsaal im türkischen Kocaeli, gut eine Autostunde von Istanbul entfernt. Atmo Zuhörer lachen Die Luft im Raum ist schlecht – die Stimmung dafür ausgelassen. Fast so, als wollten die Veranstalter ihrem Publikum etwas beweisen. Sprecher 3 O-Ton 1 Medizinprofessor Hamzaoglu Sprecher: Ja, wir wollen zeigen, dass wir ganz bewusst hier in der Stadt bleiben, uns nicht vertreiben lassen. Und, dass wir weiter lehren und forschen werden, auch ohne offizielle Universitätstitel! Professor Onur Hamzaoglu – die Hände in den Taschen eines abgetragenen Jackets vergraben – ist ein leiser, zurückhaltender Mann. Doch beim 9 Sprechen funkeln seine Augen hinter den Brillengläsern. Gemeinsam mit 18 Kollegen hat der wegen angeblicher Terrorunterstützung gefeuerte Mediziner die „Kocaeli-Solidaritäts-Akademie“ gegründet. Eine alternative Mini-Uni, an der seit Kurzem wöchentlich zu kritischen Vorträgen und Diskussionen geladen wird. Atmo Vortag, Applaus „Parallelen zwischen deutschen Universitäten des Jahres 1933 – und türkischen im Jahr 2016“ heißt das heutige Thema. Onur Hamzaoglu, ganz Professor, hebt den Zeigefinger der rechten Hand: Sprecher 3 O-Ton 2 Professor Hamzaoglu Sprecher: Die Türkei von heute ähnelt den Anfängen der Nazizeit in Deutschland sehr, dementsprechend sollten wir auf alles gefasst sein! Auch in Deutschland traf es mit den Universitätsgesetzen die kritische Wissenschaft mit als erstes. Das Publikum im Saal – bestehend aus geschassten Dozentenkollegen, ein paar Dutzend solidarischen Studenten und linksintellektuellen Regierungskritikern aus der Umgebung – lauscht gespannt. Der Respekt, den Professor Hamzaoglu genießt, ist unübersehbar. Die KocaeliUniversitäts-Akademie war seine Idee. Sprecher 3 O-Ton 3 Professor Hamzaoglu Sprecher: Erdogan und die AKP haben beschlossen die Republik Türkei völlig umzustrukturieren, den Staat von null neu aufzubauen. Und natürlich müssen da auch die Unis erneuert werden. Deswegen diese Säuberung unter den Akademikern. Sie wollen, dass Lehrende und Studierende zu gehorchenden, nicht selber denkenden Elementen werden. 10 Hamzaoglus Augen funkeln jetzt wieder. Genau das, ein unpolitischer, nichtmitdenkender Wissenschaftler, ist das schlimmste, was er und die mehr als 200 anderen gefeuerten Unterzeichner der Initiative „Akademiker für den Frieden“ sich vorstellen können. Schon lange vor seiner Entlassung galt der Mediziner aus Kocaeli wegen seiner linken Ansichten als Querulant in Regierungskreisen, fünf Jahre lang stritt er sich wegen einer kritischen Studie zur industriellen Umweltverschmutzung vor Gericht mit der AKPRegierung seiner Stadt. Sprecher 3 O-Ton 4 Professor Hamzaoglu Sprecher: Manchmal warnen mich meine Freunde. Sie sagen: Du solltest dich mehr im Hintergrund halten, du solltest wegziehen. Aber wenn wir in einer Zeit wie dieser Angst zulassen, dann können wir nicht kämpfen! Atmo Teegarten Wenige Tage nach der Eröffnung der Kocaeli-Solidaritäts-Akademie sitzt Professor Hamzaoglu entspannt in einem Istanbuler Teegarten, lässt den Blick über den Bosporus schweifen. Ein paar junge Mädchen hocken kichernd am Nebentisch, eine Gruppe alter Männer brüten über ihrem Backgammonspiel. Onur Hamzaoglus Blick fällt auf die Armbanduhr am linken Handgelenk. Montagvormittag. Normalerweise säße er um diese Zeit vor seinen Studenten an der eigentlichen Universität in Kocaeli. Der 54Jährige seufzt. Sprecher 3 O-Ton 5 Hamzaoglu Sprecher: Es ist eine Form von Gewalt, die sie uns angetan haben. Nicht nur im finanziellen Sinne. Sie nehmen dir deinen Alltag weg, deinen gewohnten Rhythmus. Ich war dreißig Jahre lang jeden Morgen um halb acht im Büro und bin nicht vor sechs nach Hause gegangen. Diese Routine ist jetzt zerstört. Allein das ist wie ein Trauma. 11 Atmo Cayglas Hamzaoglu rührt Zucker in seinen Cay, starrt auf den kleinen Strudel, der sich in der Mitte bildet. Ausgerechnet ihn als Unterstützer der GülenBewegung zu bezeichnen, ihn, der wie viele andere säkulare Türken schon vor dem Einfluss des Netzwerks warnte, als die AKP es noch offen unterstützte, macht ihn nach wie vor fassungslos. Sprecher 3 O-Ton 6 Hamzaoglu Sprecher: Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich Kommunist bin. Es ist einfach nur absurd, ausgerechnet mich als Unterstützer eines islamischen Netzwerks zu bezichtigen! Hamzaoglu verstummt. Er weiß, dass es in der Türkei momentan Tausenden geht wie ihm selbst. Was gestern war, zählt nicht mehr. Selbst einige Unikollegen, sogar Freunde, distanzierten sich nach seiner Entlassung von ihm, schienen den Vorwürfen zu glauben, die die lokalen Medien ganz im Sinne der Regierung verbreiteten. Angst, glaubt Onur Hamzaoglu, ist das, was viele Türken in diesen Tagen schweigen lässt, was sie lähmt. Nachdenklich blickt er auf das Treiben rundherum: Ein Sesamkringelverkäufer schiebt rufend seinen Karren vorbei, die Mädchen am Nebentisch haben begonnen sich gegenseitig mit ihren Handys zu fotografieren, die alten Männer beenden ihr Backgammonspiel um sich zum Mittagsgebet in die Moschee aufzumachen… Atmo Sesamkringelverkäufer Von Ausnahmezustand und Verhaftungswellen ist in Istanbuls Straßen auf den ersten Blick nichts zu spüren. Alles wie immer, könnte man meinen. Hamzaoglu schüttelt mit dem Kopf. Sprecher 3 12 O-Ton 7 Hamzaoglu Sprecher: Doch, das Leben hier hat sich verändert. Die Türken flüstern heute viel. Und das, obwohl sie von Natur aus eigentlich gern laut sprechen. Keiner hier traut sich mehr laut etwas gegen die Regierung zu sagen. Hamzaoglu steht von seinem Hocker auf, als wollte er genau das jetzt ändern. Dann aber ruft er nur den Kellner herbei um seinen Cay zu bezahlen. Laut und polternd wie etwa Präsident Erdogan wird der Professor nie. Schweigen aber will er auch nicht. Seine Entlassung liegt inzwischen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – vor allem aber haben sich Ableger der kritischen Kocaeli-Solidaritäts-Akademie in vier türkischen Städten gegründet. Weitere sind geplant. Hamzaoglu lächelt zum ersten Mal an diesem Tag. Sprecher 3 O-Ton 7 Hamzaoglu Sprecher: Egal, wie lange es dauert: Wir werden bis zum Schluss für die Demokratie in diesem Land kämpfen. Sie können mich einsperren, sie können mein Leben zerstören… Egal! Anstatt nur halb und mit einem Maulkorb zu leben, gehe ich lieber jedes Risiko ein, um frei zu sein! MUSIK 13 LITERATUR Nach einem Monat wurde ich zum Verhör in der Landwirtschaftsfakultät gebracht. In dem Gebäude, in dem ich später einmal Vorträge halten und freundlichst empfangen werden sollte, erwartete mich nun ein Verhör durch den Generalstaatsanwalt. Der Mann, der einen zivilisierten Eindruck machte, hatte einen dicken Ordner vor sich liegen, in dem er herumblätterte und mir dann Fragen stellte wie: „Ist am 4.Mai der und der zu Ihnen gekommen?“ oder „Waren Sie Ende Juni bei dem und dem?“. Es handelte sich jeweils um Leute, mit denen ich sowieso andauernd Umgang hatte; nur konnte ich mich nicht an die genauen Termine erinnern. Nach einer halben Stunde war das Verhör vorbei. „Entschuldigen Sie, darf ich Sie mal was fragen?“, sagte ich dann. Der Staatsanwalt sah etwas verwundert drein, doch er erwiderte: Bitte! „Meine Wohnung ist durchsucht worden, man hat in meinen Büchern herumgewühlt, und dann bin ich ohne irgendeine Begründung einen Monat lang eingesperrt worden. Ich darf meine Familie nicht sehen, noch bekomme ich Nachrichten von ihr. Nach all dieser Demütigung glaubte ich nun von ihnen endlich zu erfahren, was gegen mich vorliegt, und dann fragen Sie mich nach jahrelang zurückliegenden Familienbesuchen, nach Picknicks und Kaffeenachmittagen. Ich weiß wirklich nicht, was ich mir darauf für einen Reim machen soll.“ Da schlug der Staatsanwalt auf den Ordner und rief: „Zum Teufel mit den Kerlen! Die blödsinnigsten Berichte schleppen sie an. Nichts als Lügen stehen da drin.“ Und damit meinte er niemand anders als den Geheimdienst. ANMOD Die angespannte Stimmung in der Türkei beschränkt sich längst nicht mehr auf die Politik oder auf politisch aktive Kreise. Obwohl viele Türken sich zunehmend ins Private zurückziehen und obwohl ihr Alltag trotz Ausnahmezustand und Verhaftungswellen fast absurd normal weitergeht: Ganz unberührt bleibt niemand mehr von der Situation im Land. Und sei es nur, weil inzwischen auch die Wirtschaft stagniert. Immer häufiger geht das Wort von der Krise um. Vor allem der 14 Tourismus, eines der wichtigsten Standbeine der türkischen Wirtschaft, steckt längst mittendrin: Mehr als ein Drittel der Läden im traditionsreichen Großen Basar von Istanbul, warnt die Vereinigung der Basarhändler, dürfte bis Ende des Jahres ihr Geschäft aufgeben! REPORTAGE 3 Atmo Basar/ Tee aufbrühen Heißer Dampf steigt auf als Cihan Tas 10 kleine Gläser mit Tee befüllt: Aus der Kanne in seiner Rechten ein guter Schluck bitterstarker Sud, aus der Linken heißes Wasser dazu – bis die Mischung genau die goldbraune Farbe hat, die ein guter türkischer Cay braucht. Atmo kurz frei Seit 14 Jahren steht Cihan – ein hagerer, dunkler Typ um die Vierzig – in seiner 1x1 Meter großen Nische mitten im Labyrinth des Großen Basars von Istanbul, brüht Cay für die Händler rundherum. Ein sicheres Geschäft. Bis vor Kurzem. Cihan zeigt auf die ausgestorbene Gasse vor sich. Sprecher 1 O-Ton 1 Cihan Sprecher: Früher, als die Geschäfte hier noch gut liefen, habe ich jedem Händler am Tag 5-10 Tees gebracht. Und wenn er Kunden dahatte, dann bestellte er für die auch gleich eine Runde mit. Aber jetzt verdienen die Leute hier nicht mal mehr dafür genuhg. Sie halten sich den ganzen Tag an einem Gläschen fest… Atmo Basar Cihan muss los. Mit sicherer Hand greift er nach seinem voll beladenen Silbertablett, macht sich auf den Weg durch das 500 Jahre alte 15 Gassengewirr des Basars. Der Duft von frischem Cay mischt sich mit dem von zu Pyramiden aufgetürmten Gewürzen, Pistazziensüßigkeiten und Zigarettenrauch. Zu Cihans Rechter haben die Lederhändler ihr Revier, bieten Jacken und Mäntel, Taschen, Gürtel und Portemonnaies. Weiter links leuchten handgewebte Kelims aus Anatolien neben dunkelroten historischen Teppichen vor den Läden... Atmo Händler unterhalten sich In der Gasse der Juweliere stehen ein paar Händler zusammen, trippeln frierend von einem Fuß auf den anderen. Zwei von ihnen bestellen per Handzeichen einen Cay bei Cihan, die anderen winken ab. Sprecher 2 O-Ton 2 Sami Sprecher: Wir langweilen uns hier. Nicht ein einziger Kunde kommt mehr. Also unterhalten wir uns. Aber selbst das bringt keinen Spaß mehr, weil alle schlechte Laune haben. Juwelier Sami – ein knapp dreißigjähriger Sonnyboy, mit Gelfrisur und schwarzen Lackschuhen – fährt mit einem Tuch über den blitzeblanken Goldschmuck in seiner Vitrine. Ansonsten, sagt er, tigert er von morgens bis abends sinnlos vor dem Geschäft auf und ab. Sprecher 2 O-Ton 3 Sami Um 80 Prozent sind die Touristenzahlen hier zurückgegangen. Die Terroranschläge, die politischen Probleme… Wir verdienen schon seit gut einem Jahr kaum noch etwas. Aber seit dem Sommer ist es ganz aus. Der Putschversuch hat uns den Rest gegeben. Drei junge Frauen, die türkisen Kopftücher lose um die schwarzen Haare geschlungen, schlendern vorbei. Irannerinnen. Sami, der wie alle hier mehrere Sprachen spricht, versucht sein Glück auf Farsi, hält den Frauen 16 ein paar Ringe und Ketten hin. Alles zum Sonderpreis, verspricht er schmeichelnd. Atmo Sami verhandelt auf Farsi Eine der Frauen zeigt schließlich auf einen klitzekleinen Silberanhänger, streckt Sami einen 10-Lira-Schein entgegen, knapp drei Euro. Besser als gar nichts, Sami zuckt mit den Schultern. Sprecher 2 O-Ton 3 Sami Sprecher: Immerhin die Iraner kommen noch. Aber was können die sich schon leisten? Früher haben wir die völlig ignoriert, erst seit sonst keiner mehr kommt, beachten wir sie… Auch Araber und Chinesen kommen noch. Aber das hilft uns genauswenig. Wir brauchen die Europäer zurück! Während Sami die Irannerinen schäkernd verabschiedet, taucht Cihan mit seinem Tablett auf, sammelt die leeren Teegläser ein. Mit der Linken reibt er Daumen und Zeigefinger zusammen, blickt fragend herüber. Es ist Samstag, eigentlich der Tag, an dem die Händler ihre Tees der letzten Woche bezahlen. Heute aber lässt Sami den 10-Lira-Schein der Iranerin in der Hostentasche verschwinden, zeigt entschuldigend die leeren Handflächen. Cihan zuckt mit den Schultern. Sprecher 1 O-Ton 4 Cihan Sprecher: Immer vertrösten sie mich jetzt auf nächste Woche. Und ich weiß ja: Sie würden bezahlen, wenn sie selbst etwas verdienen würden. Der Teemann zieht weiter. Früher, sagt er, war das Gedränge im Basar oft so groß, dass er mit seinem Tablett kaum durchkam. Heute hat er die von Geschäften gesäumten Gassen fast für sich allein. „Zu vermieten“ steht an 17 einigen der leeren Schaufenster rechts und links. Ein Mann vor einem Geldwechselbüro schüttelt fassungslos den Kopf. Sprecher 3 O-Ton 5 Börsen-Ali Sprecher: Ich arbeite seit 20 Jahren im Basar, aber zum ersten Mal, sehe ich hier Zu-Vermieten-Schilder. Früher mussten Interessenten die Ladenbesitzer mit extra Geld bestechen, so groß war die Nachfrage. 10.000 Dollar kostete ein gut gelegener Shop im Monat. Heute ist es um die Hälfte weniger, und trotzdem will keiner mehr mieten. Atmo Männer schreien laut Als die Männer neben ihm anfangen zu schreien, verstummt Geldwechsler Ali, blickt hektisch auf die Tafel mit den Wechselkursen über seinem Kopf. Durch den Devisenhandel der brüllenden Männer am Rande des Großen Basars wurden jahrzehntelang die Gold-, Euro- und Dollarkurse der ganzen Türkei bestimmt. Auch wenn inzwischen internationale Banken das Geschäft bestimmen – die so genannte „Börse mit Füßen“ existiert weiter. „Aber wer weiß, wie lange noch?“, Ali, der in abgewetzter Lederjacke und mit Wollmütze auf dem Kopf so gar nicht an einen Börsianer erinnert, zündet sich sorgenvoll eine Zigarette an. Sprecher 3 O-Ton 6 Ali Sprecher: Auch unser Geschäft hier läuft schlecht. Gucken Sie sich die paar Männer an, die überhaupt noch hier stehen. Früher waren wir zehn Mal so viele! Von Sekunde zu Sekunde verfällt die türkische Lira mehr. Der anhaltende Ausnahmezustand, die ständigen Antiterroreinsätze – das verängstigt ausländische Investoren, die wollen nur noch weg hier... Und den Zustand der türkischen Wirtschaft, den sieht man nun mal als erstes hier, am Großen Basar von Istanbul. 18 Ali schnippt die Zigarette weg, macht sich auf den Weg in die Basarmoschee. Wenigstens dort, sagt er zynisch, wird es dieser Tage noch voll. „Denn Beten ist das einzige, was uns noch bleibt“. Atmo Muezzin auslaufend MUSIK ANMOD: Kritischer Journalismus hat es in der Türkei nicht erst seit dem 15 Juli schwer: Fast alle Massenmedien, sogar die Dogan-Gruppe mit ihrem Flaggschiff Hürryit, haben sich in den letzten Jahren auf die Seite der AKP geschlagen. In der Vergangenheit spielten dabei auch wirtschaftliche Gründe eine Rolle. D och nach dem Putschversuch haben selbst die mutigsten Journalisten kaum eine Wahl. Fast alle, die dem Druck bisher standgehalten hatten, wurden in die Knie gezwungen: Über Hundert türkische Redaktionen wurden bei den so genannten Antiterroroperationen geschlossen, Dutzende Journalisten entlassen, verhaftet. Die bekannte Journalistin und Schriftstellerin Asli Erdogan ist nur eine von vielen, die seit Monaten im Gefängnis sitzen. Eine Gruppe steht dabei gleich doppelt unter Druck: Kurdische Journalisten gelten als Staatsfeinde Nummer Eins in der Türkei. Wieder einmal. 19 REPORTAGE 4 Atmo Motorrad In Istanbul ist der Winter eingekehrt. Tief hängen die Regenwolken zwischen den Minaretten der Moscheen. Mehmet Sirin fröstelt als er den Motorradhelm vom Kopf nimmt. An einem solchen Morgen muss alles schnell gehen. Mit klammen Fingern greift der kurdische Zeitungsbote in eine Plastiktüte, die am Lenker baumelt. Atmo Plastiktüte Sprecher 1 O-Ton 1 Mehmet Sprecher: Ich arbeite seit fünf Jahren an 365 Tagen im Jahr. Höchstens zum Opferfest mache ich mal frei, sonst nie. Denn dieses Blatt hier ist für viele die letzte Hoffnung. Özgürlükcü Demokrasi, Freiheitliche Demokratie, steht auf den dünnen Zeitungen, die Mehmet aus der Tüte zieht. Das Titelbild von einer Demonstration in Cizre – einer kurdischen Stadt im Südosten der Türkei, die seit Monaten kein türkischer Journalist mehr betritt – es sagt alles: Die Özgürlükcü Demokrasi ist die wohl letzte kurdische Zeitung des Landes. Und weil die meisten Istanbuler Zeitungskioske sie boykottieren, bringen Boten wie Mehmet sie jeden Morgen direkt zu ihren Lesern. Noch einmal öffnet der 24-Jährige die grüne Plastiktüte. Atmo Plastiktüte Sprecher 1 O-Ton 2 Mehmet Sprecher: Wenn ich die Tüte hier so hängen lasse, werden die Zeitungen in meiner Abwesenheit oft mit Drohungen beschmiert: Wir werden euch zerstören, wir bringen euch alle um, haut ab hier usw. 20 Manchmal zerreißt sie auch jemand, trampelt darauf herum… Deswegen kaufe ich jetzt morgens immer eine Ausgabe der konservativen „Türkiye“. Die lege ich ganz oben auf, zur Tarnung. Mit einem Stapel Zeitungen unterm Arm zieht Mehmet los. Fast alle seine Kunden im Istanbuler Arbeiterviertel Kücük Pazar sind wie er Kurden – ein Gemüsehändler, die Angestellten einer Reinigung, ein Schlachter. Mehmet weiß genau, wo er den Kopf durch die Tür stecken und auf Kurdisch „Roj baj“ – Guten Morgen – rufen darf, und wo er schon für diese zwei Worte verprügelt werden könnte. Atmo Mehmet „Roj baj“, Mehmet unterhält sich auf Kurdisch Sprecher 1 O-Ton 3 Mehmet Sprecher: Mit vielen Händlern hier habe ich einen Deal: Der Schlachter eben hat kurz die Augen zusammengekniffen. Das heißt: Achtung! Ich gebe ihm in diesem Fall die Zeitung nicht offen, sondern zusammengefaltet, damit sein Kunde sie nicht erkennen kann. Denn es ist schon vorgekommen, dass Leute zu den Händlern sagten: Wenn du diese Zeitung liest, dann kaufe ich nicht mehr bei dir… Mehmet zuckt mit den Schultern. Kein Wunder, dass sich kaum noch jemand traut, offen die Özgürlükcü Demokrasi zu kaufen, sagt er. Seit im vergangenen Sommer der Friedensprozess aufgekündigt und die Kurden politisch wieder zur Zielscheibe erklärt wurden, ist auch die Stimmung in der Bevölkerung angespannt. Außerdem sitzen die meisten Leser seiner Zeitung inzwischen sowieso im Gefängnis. Dort ist die Zeitung verboten. Dass sie überhaupt noch gedruckt wird, nachdem ihre Vorgängerin, die Özgür Gündem, im August bei einer Polizeirazzia verwüstet, geschlossen und schließlich verboten wurde, grenzt an ein Wunder. Atmo weg bzw. überblinden in Atmo Tür zur Redaktion, dann Atmo Drinnen, Stühle rücken etc. 21 Irgendwo in einer kleinen Seitengasse in der Nähe des Taksim-Platzes – die genaue Adresse bleibt geheim – haben die Journalisten, die bei der Razzia nicht im Gefängnis landeten, unter falschem Namen neue Räumlichkeiten gemietet und die Özgürlükcü Demokrasi gegründet. Chefredakteur Ersin, ein jugendlicher Typ mit Jack-Wolfskin-Jacke und ernsten schwarzen Augen, bittet herein. Atmo kurz frei Auf engstem Raum drängeln sich hinter ihm zwei Dutzend Mitarbeiter in der umfunktionierten Erdgeschosswohnung. Autoren, Redakteure, Layouter… Weil im August die gesamte Redaktionsausstattung konfisziert wurde, haben viele von zuhause mitgebrachte Laptops auf den Knien. 12 Seiten bringen sie so täglich heraus, früher waren es 20. „Aber wir machen weiter. Und darum geht es!“. Chefredakteur Ersin lässt sich in seinem abstellkammergroßen Arbeitszimmer nieder. Sprecher 3 O-Ton 4 Chefredakteur Ersin Sprecher: Die kurdischen Medien wurden fast völlig ausgeschaltet. Fernsehsender, Radios, Agenturen… Zuletzt wurde sogar unser Kinderkanal verboten! Außerdem weigert sich Anadolu, die staatliche Nachrichtenagentur der Türkei, uns zu beliefern. Wir haben also nur noch unsere eigenen, lokalen Korrespondenten. Gestern wurden zwei von ihnen hier in Istanbul festgenommen, fünf weitere in Adana. Der türkische Staat, so ist sich Ersin sicher, setzt auf eine einfache Strategie: Wenn der Kurdenkonflikt in den Medien nicht vorkommt, dann gibt es ihn praktisch nicht mehr. Seit im Südosten die Kämpfe mit der PKK wieder aufgeflammt sind, Stadtzentren in Kriegsgebiet verwandelt und Tausende Menschen mit Ausgangssperren belegt wurden, erklärten die Behörden zahlreiche kurdische Städte zum Sperrgebiet für Journalisten. Die 22 letzten, die es noch wagen aus umkämpften Städten wie Sirnak, Cizre oder Silopi zu berichten, sind die Korrespondenten der Özgürlükcü Demokrasi. Sprecher 3 O-Ton 5 Chefredakteur Ersin Sprecher: Um ehrlich zu sein, ist der Unterschied zwischen der Zeit vor dem 15.Juli und danach für uns Kurden gar nicht so groß. Für uns herrschte ja schon vorher Ausnahmezustand. Nur, dass der Druck vielleicht noch ein bisschen größer geworden ist. Die AKP setzt jetzt Dinge um, die sie sich vorher nicht getraut hat: Sie entlassen kurdische Bürgermeister, verhaften unsere Abgeordneten, schließen und enteignen unsere Medien… Dreiundzwanzig Strafverfahren wurden in den letzten zwei Monaten gegen die Özgürlükcü Demokrasi eingeleitet. Chefredakteur Ersins Vorgänger Inan Kizilkaya sitzt seit August in Haft, mit ihm Dutzende andere kurdische Journalisten. Ersin lehnt sich entspannt auf seinem Stuhl zurück. „Es ist eine Frage der Zeit, bis sie auch mich holen werden“, sagt er ungerührt. Sprecher 3 O-Ton 6 Chefredakteur Ersin Sprecher: Kurdische Journalisten kennen das, was momentan passiert, aus den 90ern. Damals wusste man nicht mal, ob man nach Feierabend lebend seine Wohnung erreichen würde. Zahlreiche Kollegen wurden damals ermordet. Wir kennen die Gefahr also. Aber als unsere Redaktion im August gestürmt, wir beschimpft und geschlagen wurden, erschienen am nächsten Morgen alle, die nicht verhaftet worden waren, pünktlich zum Dienst… Ich habe eine Entscheidung gefällt, als ich diesen Posten übernahm. Atmo Redaktion weg Atmo Draußen, Motorrad 23 Auch Zeitungsbote Mehmet Sirin, der seine tägliche Tour inzwischen fast beendet hat, spricht von einer Entscheidung, wenn er mit leuchtenden Augen von seiner schlecht bezahlten Arbeit spricht. Die Tüte an seinem Motorradlenker ist inzwischen leer, dankbar nimmt er den heißen Cay entgegen, den ein kurdischer Händler ihm reicht. Sprecher 1 O-Ton 7 Mehmet Sirin Sprecher: Kurdische Journalisten gehen ein Risiko ein. Aber noch größer ist die Gefahr für uns hier draußen. Zahlreiche Zeitungsboten wie ich wurden in den letzten Jahren ermordet. Aber Angst kann uns nicht stoppen. Je mehr wir zu fürchten haben, desto mehr haben wir das Gefühl, dass wir weitermachen müssen. Denn wenn wir alle verstummen, wer soll dann noch die Wahrheit erzählen? MUSIK LITERATUR Obwohl mein „Vergehen“ über Lesen, Schreiben und Denken nicht hinausging, sollte ich aufgrund meiner linken Weltanschauung in meiner Existenz vernichtet werden. Die Barbaren beraubten mich meiner Arbeit, überfielen mich in meiner Wohnung, sperrten mich unter Verleumdungen ein, folterten auf unsägliche Weise, hängten Studenten auf und verwandelten das Land in eine Hölle. Was weltweit als Studentenbewegung begonnen hatte, führte in der Türkei durch die mörderische Haltung des Staates zur Gründung rachedürstender Organisationen, durch die wiederum das Land in jahrelange blutige Auseinandersetzungen gestürzt wurde. Die zivilen und militärischen Führer der Türkei wollten den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Da sich in der Türkei, einem Frontstaat des Kalten Krieges, eine linke Studentenbewegung entwickelte, förderte man die Herausbildung einer nationalistisch orientierten Jugend, um die beiden Gruppierungen aufeinanderzuhetzen. 24 Dies sollte an die 5.000 Menschen das Leben kosten. Als die Aktivitäten der als Linkenhasser bekannten Nationalisten überhandnahmen, wollte man sie wieder loswerden und erhoffte sich Abhilfe durch die Gründung anderer Organisationen, diesmal aus der islamistischen Ecke, die ebenfalls gegen die Linken in Stellung gebracht werden konnten. Das gesellschaftliche Gleichgewicht in der Türkei ging endgültig verloren. Can Dündar ist nur das berühmteste Beispiel. Der regiurungskritische Journalist hat vor vor einigen Monaten die Türkei verlassen und lebt jetzt in Berlin. Mehr und mehr seiner Landsleute folgen seinem Beispiel und wandern aus. Vor allem die jungen, die intellektullen, die gut ausgebildeten Türken. Sie können und wollen die ständigen politischen und gesellschaftlichen Spannungen nicht mehr ertragen, sehnen sich nach einem Leben ohne Erdogan und seiner Politik der Konfrontation. Er habe inzwischen mehr Freunde in San Francisco als in Istanbul, schrieb ein Kolumnist der Zeitung Hürriyet schon kurz nach dem Putschversuch. Das ist natürlich kein Zufall. Denn anders als die Gastarbeiter, die die Türkei in den 60er Jahren verlassen haben, um in deutschen Fabriken zu schuften, sind die neuen türkischen Auswanderer meist gut ausgebildet und gut situiert. 25 REPORTAGE 5 Atmo Eisensäge etc. Es riecht nach einer Mischung aus Kleber und Zigarettenrauch. Ein Mann steht an einer Werkbank, schneidet kreischend Aluminium in Streifen. Wenige Meter weiter hocken ein paar langhaarige Künstlertypen um einen Laptop, starren auf eine Bildschirmanimation aus pinken, gelben, und blauen Linien. Atmo kurz frei Rundherum stapeln sich Kabel und Luftballons, Computergehäuse, Fantasiespielzeuge, Ölfarben und Roboterprototypen… Atmo Stimme Osman Koc Osman Koc, der Gründer des Ateliers „Iskele 47“, lässt zufrieden den Blick über das Chaos schweifen, zündet sich eine selbstgedrehte Zigarette an. Ein türkischer Journalist nannte den 29-Jährigen kürzlich den modernen Daniel Düsentrieb. Osman, mit Vollbart und Pferdeschwanz, lacht. Sprecher 2 O-Ton 1 Osman (Orig.Türkisch) Sprecher: Ich habe eigentlich Elektroingenieurstechnik studiert. Aber meine tatsächliche Arbeit bewegt sich in einem Dreieck aus Kunst, Technik und Design. Manchmal gestalte ich das Aussehen eines Roboters, mal entwickele ich sinnlosgeniale Spielzeuge, mal übersetze ich nur einen anregenden Text – alles eben, was mir Spaß macht... Osmans Mischung funktioniert. Im Atelier „Iskele 47“ entstanden schon Projekte für UNICEF und Kentucky Fried Chicken. Zuletzt schuf sein Team mit einem 3-D-Printer eine Prothese für die 7-jährige Yagmur, die ohne 26 rechte Hand auf die Welt kam. Stolz spielt Osman einen Film ab, in dem das Mädchen seine neuen Finger zum ersten Mal bewegt… Atmo Prothese-Film/ Musik, Text drauf Der selbsternannte „Kreativtechniker“ und seine Freunde gehören zu einer kleinen aber erfolgreichen Gruppe von gut ausgebildeten Türken, die in den letzten Jahren die Unis des Landes verlassen haben, fließend Fremdsprachen sprechen, als technik- und internetaffin gelten. „Made in Istanbul“ schrieben sie einst voller Stolz auf ihre Ideen und Produkte. Atmo Osman Feuerzeug Osman lässt sein Feuerzeug aufflammen. „Bitti“ – vorbei – zischt er zwischen zwei Zigarettenzügen und zeigt auf eine Umzugskiste in der Ecke. In gut einem Monat wird er in San Francisco ein neues Leben beginnen. Golden Gate statt Bosporus. Sprecher 2 O-Ton 2 Osman (Orig.Türkisch) Sprecher: Warum ich gehe? Dafür gibt es viele Gründe. Der erste: Das, was ich tue, kann man nicht alleine machen. Man braucht andere gute Leute um sich herum. Aber deren Zahl wird in der Türkei jeden Tag kleiner. Auf die Schreibunterlage vor sich kritzelt Osman die Namen seiner Freunde, die in den letzten Wochen und Monaten schon das Land verlassen haben. Als der Platz nicht ausreicht, hört er auf. Sprecher 2 O-Ton 3 Osman (Orig.Türkisch) Sprecher: Ich kann nicht sagen, dass ich allein wegen des 15.Juli gehe. Aber der Putschversuch und seine Folgen haben meinen Entschluss endgültig gemacht… Jeden Tag passiert eine neue 27 Katastrophe in diesem Land. Noch bevor man sich vom letzten Schock erholt hat, kommt schon der nächste. Diese ständige Negativstimmung macht einen kaputt. Selbst, wenn dir persönlich etwas Gutes passiert, kannst du dich nicht mehr freuen, weil rundherum alles den Bach runter geht. Atmo weg Statistiken zum türkischen Brain Drain dieser Tage gibt es keine. Doch es gibt Menschen wie Ozan Dagdeviren, die ihn von Anfang an begleitet haben. Atmo Fastfoodrestaurant Eine halbstündige Fährfahrt vom Atelier Iskele 47 entfernt sitzt der Soziologe in Hemd und Anzughose in einem Fastfoodrestaurant. Der Kaffee vor ihm ist kalt, Ozan Dagdeviren nutzt seine Mittagspause zum Arbeiten. ‚Wie bewirbt man sich in Europa? Worauf achten amerikanische Chefs im Bewerbungsgespräch? Wo bekommt man am schnellsten ein Arbeitsvisum?‘ lauten die Fragen, die er mit Filzstift auf grüne und gelbe Kärtchen schreibt. Gemeinsam mit einer Kollegin bietet er Wochenendseminare für auswanderungswillige Türken an. Sprecher 1 O-Ton 4 Ozan (Orig.Türkisch) Sprecher: Zu uns kommen Leute, die von ihrer Qualifikation her genauso in Frankreich, Italien oder Kanada Jobs finden könnten. Und oft sind das gar keine politischen Aktivisten, sondern einfach Leute, die selbst bestimmen wollen, wie sie leben. Die vielleicht abends ausgehen, ein Bier trinken oder auch kurze Röcke tragen wollen… Hier in der Türkei haben sie immer häufiger das Gefühl, dass ihr Lebensstil nicht mehr akzeptiert wird. Seit dem Putschversuch kann sich der Coach vor Anfragen kaum noch retten. Dagdevirens Partnerin Selin Yetimoglu überrascht der Erfolg kaum. 28 Sprecherin 1 O-Ton 5 Selin (Orig.Türkisch) Sprecher: So ziemlich jeder in der Türkei fragt sich in diesen Tagen: Was mache ich eigentlich noch hier, wie sicher ist dieses Land noch, was ist karrieretechnisch die beste Entscheidung… Ich organisiere seit Jahren Coachings und Fortbildungen. Aber bei diesem Thema ist das Teilnehmerinteresse zehn Mal höher als bei allen anderen. Yetimoglu und Dagdeviren – beide Absolventen der renommierten Istanbuler Bosporus-Universität – gehören selbst zu der gutausgebildeten Elite, an die sich ihr Angebot richtet. Ihr Seminarmodell ließe sich weiter ausbauen. Mit Online-Sitzungen, verknüpften Bewerbungsportalen usw. „Wahrscheinlich könnten wir reich werden“, Yetimoglu lacht, schüttelt dann bestimmt mit dem Kopf. Tatsächlich hat sie längst andere Pläne. Sprecherin 1 O-Ton 6 Selin (Orig.Türkisch) Sprecherin: Ich bin im April 2013 nach mehreren Jahren in Berlin in die Türkei zurückgekehrt. Hätte ich heute die Wahl, würde ich definitiv dableiben. Momentan will ich selbst nur noch weg hier. Irgendwohin, wo die Zukunft weniger unsicher ist, und ich – auch als Frau – entspannter leben kann… MUSIK 29 ABMOD „Zwischen Kampfgeist und Hoffnungslosigkeit. Die Türkei fünf Monate nach dem Putschversuch.“ Das waren „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Luise Sammann. Die Literaturauszüge stammen aus der Autobiographie „Roman meines Lebens“ von Zülfü Livanelie. Bernt Hahn hat sie vorgetragen. Musikauswahl und Regie: Babette Michel Ton und Technik: Michael Morawitz und Roman Weingardt Am Mikrofon: Manfred Götzke.
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