alterne und politische Kultur in Arequi - H-Soz-u-Kult

H. Onken: Brot und Gerechtigkeit
Onken, Hinnerk: Brot und Gerechtigkeit. Subalterne und politische Kultur in Arequipa, Peru (1895–1919). Berlin: LIT Verlag 2013. ISBN:
978-3-643-12396-1; 584 S.
Rezensiert von: Martin Breuer, Universität
Bielefeld
Die Historiographie zur lateinamerikanischen
Arbeitergeschichte blickt auf eine lange Tradition zurück. Nachdem für viele Jahrzehnte eine sozialhistorische Perspektive im Vordergrund stand, rückt neuerdings ein kulturgeschichtliches Erkenntnisinteresse in den Fokus.1 Diesen Ansatz verfolgt auch Hinnerk
Onken, wenn er das Entstehen einer Arbeiterbewegung im peruanischen Arequipa und
der benachbarten Hafenstadt Mollendo um
die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert analysiert. Anknüpfend an die subaltern studies
und die „Geschichte von unten“ nimmt er
kollektives politisches Handeln subalterner
Teile der städtischen Bevölkerung zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Der stadtgeschichtliche Zugriff ermöglicht es Onken
dabei, das historische Geschehen in Arequipa detailliert und umfassend zu untersuchen
und es gleichzeitig immer in den nationalen
und transnationalen Kontext zu stellen.
Dem im südlichen Küstenstreifen Perus gelegenen Arequipa kommt in den Debatten
zur peruanischen Geschichte große Bedeutung zu, stand die Stadt doch im 19. und 20.
Jahrhundert in Konkurrenz zum weiter nördlich gelegenen Lima und war immer wieder
Ausgangspunkt eines starken Regionalismus
und politischer Opposition zur Hauptstadt.
Um 1900 zählte Arequipa etwa 40.000 Einwohner und bildete zusammen mit der naheliegenden deutlich kleineren Hafenstadt Mollendo das ökonomische Zentrum der Region über das der Export von Produkten aus
dem Andenhochland – im Untersuchungszeitraum vor allem Wolle - nach Übersee abgewickelt wurde. Daher dominierten Handel
und Transportwesen die arequipeñische Wirtschaft, die seit der Inbetriebnahme der Eisenbahnverbindung in das Andenhochland in
den 1870er-Jahren florierte.
Vor diesem Hintergrund konzentriert sich
Onkens Untersuchung in erster Linie auf drei
Gruppen innerhalb der subalternen Bevölke-
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rung Arequipas und Mollendos: Hafenarbeiter, Eisenbahner und Handwerker. Die Arbeit analysiert, wie diese Gruppen, oft auch
in gegenseitiger Solidarität, Mobilisierungsstrategien entwickelten und mit wachsendem
Erfolg politische Partizipationsmöglichkeiten
erkämpften. Onken zeigt zudem, wie diese Mobilisierung mit der Ausbildung einer
gemeinsamen proletarischen Identität einherging.
Als Quellenbasis dienen in erster Linie Artikel aus verschiedenen städtischen Zeitungen, die einerseits subalternen Akteursgruppen und andererseits konservativ bürgerlichen Kreisen nahestanden. Dies ermöglicht es
Onken, die oftmals konträre Berichterstattung
verschiedener Medien zu bestimmten politischen Ereignissen gegenüberzustellen und zu
analysieren. Darüber hinaus werden auch Gerichtsakten sowie programmatische und autobiographische Schriften von führenden Persönlichkeiten der Bewegung in die Untersuchung mit einbezogen.
Die Analyse dieses Materials folgt einem
doppelten Zugriff: So wird auf der einen Seite mit der politischen Gruppierung der Liberal Independientes eine bestimmte Akteursgruppe in den Blick genommen. Auf der anderen Seite stehen subalterne Aktionsformen,
vor allem die Streiks in politischen und ökonomischen Konflikten, im Zentrum der Untersuchung.
Nachdem im ersten Teil Arbeit der regionale, nationale und internationale politische
Kontext aufgefächert wird, widmet sich der
zweite Teil der Entstehung und dem Wirken
der Partei der Liberal Independientes in der
Stadt und auf nationaler Ebene. Onken weist
der Gruppierung, deren Organisationsstruktur auf den Raum Arequipa beschränkt war,
die aber durchaus politische Verbindungen
im nationalen Kontext - etwa zu führenden
Köpfen der Liberalen in Lima – etablierte, große Bedeutung bei der Herausbildung einer
Arbeiterbewegung in Arequipa zu. Während
sich ihre Klientel vornehmlich aus dem Kreis
der Hafenarbeiter, Eisenbahner und Handwerker rekrutierte, entstammte die Führungsriege wiederum eher den bürgerlichen Sek1 James
P. Brennan, Latin American Labor History, in:
Jose C. Moya (Hrsg.), The Oxford Handbook of Latin
American History, New York 2011, S. 342–366.
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toren der Stadt. Diesbezüglich argumentiert
Onken, dass die Liberal Independientes über
die Formulierung von politischen Anliegen
und die Organisation von alternativer sozialer
Infrastruktur – etwa dem Centro Social Obrero, einem Arbeiterverein, – die Rolle der politischen broker beim Streben der subalternen
Gruppen nach politischer Partizipation einnahmen.
In den auf liberale und sozialistische Ideen rekurrierenden programmatischen Texten
konstruierte die Gruppierung das Bild einer städtischen Arbeiterschaft mit gemeinsamen Interessen und politischen Anliegen.
In der politischen Praxis traten die Liberal Independientes bei den städtischen Wahlen an, etablierten darüber hinaus aber auch
ein Bildungsangebot für Subalterne im Centro Social Obrero und organisierten öffentliche Veranstaltungen, wie etwa Demonstrationen zum internationalen Tag der Arbeit
am Ersten Mai. Im Untersuchungszeitraum
erhielt die Gruppierung verstärkten Zulauf
von Arbeitern im Transportwesen und Handwerkern, was sich an den Wahlurnen und
bei politischen Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum zeigte. Onken prägt für diesen Mobilisierungs- und Identitätsbildungsprozess von Teilen der subalternen Bevölkerung den Begriff der „diskursiven Proletarisierung“. Hierbei ist interessant, dass sich das
sozialpolitische Interesse der Liberal Independientes auch auf die ländliche indigene Bevölkerung bezog, deren ökonomische Ausbeutung und soziale Diskriminierung kritisiert
wurden. Dabei wurden die Indigenen aber
eher als Objekt sozialpolitischer Maßnahmen
denn als Ziel politischer Mobilisierung gesehen. Die Konstruktion einer proletarischen
städtischen Gruppenidentität bezog sich also exklusiv auf die hispanische urbane Bevölkerung und fand damit auch in Abgrenzung
zum ethnisch definierten „Anderen“ statt.
Im dritten Teil analysiert Onken, wie Subalterne – und hier in erster Linie wieder
die Gruppen der Hafenarbeiter, Eisenbahner
und Handwerker – im Untersuchungszeitraum das Mittel des Streiks einsetzten. Dabei wird deutlich, wie Arbeitsniederlegungen
schrittweise in der subalternen Kultur verankert wurden und in Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern über Löhne und
Arbeitsbedingungen sowie in Konflikten mit
den staatlichen Autoritäten zum Einsatz kamen. Onken zeigt, dass in einer Reihe von
Fällen verschiedene Gruppen gemeinsam in
den Streik traten und sich auf eine gemeinsame proletarische Identität beriefen, mit der sie
sich sowohl gegenüber den Arbeitgebern als
auch den politischen Autoritäten positionierten und ihre Forderungen formulierten
Onkens Entscheidung, den Blick primär auf
die Rolle der Liberal Independientes sowie
die Arbeitskämpfe zu richten, überzeugt: Er
zeigt, dass beide Punkte zentral für die Transformation der subalternen politischen Kultur
in Arequipa und die Etablierung einer Arbeiterbewegung um die letzte Jahrhundertwende waren. Der Autor versäumt es allerdings,
deutlich zu machen, welche Verbindungslinien zwischen dem Wirken der Liberal Independientes und der sozialen Praxis der Arbeitsniederlegung bestanden. Zwar werden
vereinzelt Redebeiträge von Anführern der
Liberal Independientes auf Streikveranstaltungen zitiert. Die Frage, in welcher Weise
Vertreter der Liberal Independientes konkret
an der Etablierung der Streikkultur in Arequipa beteiligt waren, oder ob diese Praxis sich
außerhalb der organisatorischen Reichweite
der Gruppierung entwickelte, bleibt aber leider offen.
Positiv hervorzuheben ist die Detailgenauigkeit, mit der Onken die Geschehnisse und
Entwicklungen in Arequipa beschreibt. Er beweist damit profunde Kenntnisse der Regionalhistorie und auch der diesbezüglichen historiographischen Debatten. Dies ist für Leser
mit einem dezidiert lokalgeschichtlichen Interesse von großem Wert. Für diejenigen, die
stärker am Kern der Fragestellung, also der
Transformation der subalternen politischen
Kultur in Arequipa und der Entstehung einer
Arbeiterbewegung interessiert sind, schränkt
die große Fülle von Personen und Nebenschauplätzen, die Onken einführt, allerdings
den Lesefluss ein. Hier wäre im Sinne der Leserführung eine Engführung der Argumentation und Kürzung des Manuskripts oder auch
die Einbettung von zusammenfassenden analytischen Kapiteln, die ein selektives Lesen ermöglichen, sinnvoll gewesen.
Dessen ungeachtet liefert Onken einen
wertvollen Beitrag zur lateinamerikanischen
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H. Onken: Brot und Gerechtigkeit
Arbeitergeschichte. Es gelingt ihm anhand
des aussagekräftigen Archivmaterials die
Herausbildung einer Arbeiterbewegung in
Arequipa und damit den Wandel der subalternen politischen Kultur anschaulich darzustellen. Damit zeigt er auf, wie sich die
städtische politische Kultur in Peru auch abseits der Hauptstadt bereits vor dem Entstehen der weit intensiver erforschten anarchosyndikalistischen Bewegungen in den 1910erund 1920er-Jahren und den Gründungen des
Partido Communista Peruano und der Alianza Popular Revolucionaria Americana veränderte und welchen Anteil daran subalternes
Streben nach politischer Partizipation hatte.
HistLit 2016-4-175 / Martin Breuer über Onken, Hinnerk: Brot und Gerechtigkeit. Subalterne und politische Kultur in Arequipa, Peru (1895–1919). Berlin 2013, in: H-Soz-Kult
14.12.2016.
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