8 KULTUR FREIT AG, 25. M ÄRZ 20 16 Musik für die letzten Meter Aus Innervillgraten vernimmt man immer wieder denkwürdige Klänge. Nun stellt die Musikkapelle eine CD mit Trauermärschen vor. ERNST P. STROBL WIEN. Innervillgraten ist ein Osttiroler Dorf, das ein wenig abgelegen, aber von großer Schönheit ist. Auf der Bundesstraße bei Sillian muss man aufpassen, die Abzweigung ins Villgratental nicht zu übersehen. Dass in der einschichtigen Gegend ein paar Charakterköpfe herangewachsen sind, erstaunt nicht. Die Musicbanda Franui – nach einer hochgelegenen Almwiese benannt – hatte in den Anfängen sogar Kämpfe gegen „Kulturbewahrer“ durchzustehen. Heute spielt die zehnköpfige Banda im Burgtheater oder bei den Salzburger Festspielen, der „alpine“ Stil ist unverkennbar. Gerne nehmen sich Andreas Schett und Markus Kraler, die musikalischen Anführer, Inspirationen bei Musik von Gustav Mahler und Franz Schubert, den beiden Chefmelancholikern der Musikgeschichte. Nach ein paar Takten von Schuberts Musik, die nach Trauermarsch klingt, wird oft das Tempo gewechselt, und plötzlich klingt alles nach Tanz. „Tanz! (Franz)“ heißt auch die neue CD von Franui. Und eine weitere CD kam auf den Markt, die sofort verdeutlicht, wo- her der Bartl (Schett) den Most holt. Die Musikkapelle Innervillgraten, geleitet von Vizekapellmeister Hannes Schett, legt damit ein geradezu musikethnologisches Dokument vor, das zu Herzen geht. Auf die Idee muss man erst einmal kommen, es sind lauter Trauermärsche. Jeder hat das schon verspürt, wenn man bei einem Begräbnis die Fassung zu wahren versuchte, aber wenn die Kapelle „Ich hatt einen „Ein Trauermarsch, vier Mal so schnell gespielt, wird eine Polka.“ Andreas Schett, Franui Kameraden“ anstimmte, dann war es vorbei mit dem Tränenverdrücken. Natürlich ist dieser Trauermarsch auf der CD, aber zu den sechzehn Märschen wurde auch Musik gewählt, die aus dem Dorf stammt. Von 1892 bis 1934 führte einer der Bergbauern namens Josef Steidl sen. die Musikkapelle, er arrangierte und komponierte auch und gilt bis heute als großer Musiker, dem das ersehnte Studium unerreichbar bleiben musste ob der Die Musikkapelle Innervillgraten bei einem Begräbnis, Mai 2015. landwirtschaftlichen Verpflichtungen. Sein Sohn Josef Steidl jun. leitete die Musikkapelle von 1935 bis 1974, das kann man Kontinuität nennen. Und beide Steidls komponierten auch für die Musikkapelle. Nicht nur die jeweiligen Kapellmeister, auch die Musikanten nehmen das gemeinsame Musizieren ernst. Wenn jemand aus dem Dorf stirbt – da wird kein Unterschied gemacht zwischen Bürgermeister oder einer kinderlosen Tante, die zeitlebens nie auffiel, wie Schett sagt – ist es Ehrensache, bei jedem Wetter, zu jedem Termin möglichst vollzählig „auszurücken“. Die Intention dieser Musik ist ja durchwegs gleich, sie möge Trost spenden oder – wie es Kapellmeister Schett nennt – auch an die schönen Zeiten mit dem Verstorbenen erinnern. Ob der Marsch nun „Trost in Tränen“ oder „Mein Trost in Tränen“ heißt, ein „Andante Religioso“ wirklich wie ein solches klingt, alle Märsche werden von den Laien- musikern – derzeit umfasst die Musikkapelle Innervillgraten 61 aktive Mitglieder – mit Herz präsentiert. Dass im Villgratner Tale die Toten noch zu Hause aufgebahrt und dann mit Musikbegleitung zur letzten Ruhestätte geleitet werden, hört man in einigen Stücken deutlich. Und ein Marsch wie „Der letzte Seufzer“ erinnert geradezu an Giuseppe Verdi, wenn er etwas Düsteres in seinen Opern einbaute. Das wiederum führt zu Franui, Seelenverwandte der Musikkapelle. Man muss einen Trauermarsch nur in der vierfachen Geschwindigkeit spielen, dann ist er plötzlich Tanzmusik, wie Andreas Schett sagt. Mit Temporückungen und Klangfarben kennt sich Franui aus, immer wieder führt das zu Brechungen und Überraschungen. Die Banda spannt mit 16 Titeln den Bogen von Trauer zu Übermut, vom Friedhof zum Tanzboden. Schubert und seine melancholietrunkenen Lieder geben neben seinen Tänzen melo- Blumen erzählen von Leid, Not und Flucht Passionsgeschichten der anderen Art: Eine Künstlerin will dem Schmerz Raum geben. MARTIN BEHR GRAZ. Seltsame Objekte wachsen aus der Wand heraus: Drahtgeflechte mit bunten Textilteilen, blumenähnlich, aber nicht lieblich, eher sperrig. Mit diesen „Blumen“, deren Material aus der Hinterlassenschaft ihrer kürzlich verstorbenen Mutter stammt, thematisiert die deutsche Künstlerin Reinhild Gerum die eigene belastete Familiengeschichte: Sie konnte und wollte ihrer Mutter nie Blumen schenken. In den nachträglich entstandenen Skulpturen aus Stoff, Draht und Kurzwaren schwingt das Gefühl des Unangenehmen, des Verletzenden mit. „Kunst vermag dem Grausamsten ein Bild, ein Wort zu geben“, sagt die 61-jährige Künstlerin. Ihre nachdenklich stimmenden Blumen sind derzeit im Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten zu sehen. Für Kurator Johannes Rauchenberger sind sie eine künstlerische Reflexion über Schmerz und Passion. Es geht auch um die Nähe von Glück und Leid. Ganz anders sind jene Blumen, die Reinhild Gerum gemeinsam mit Asylbewerbern der zentralen Erstaufnahme-Einrichtung in Zirndorf (Bayern) gestaltet hat. Seit 2009 besucht sie diese Menschen, die zum Warten gezwungen sind, und motiviert sie, et- Draht und Kurzwaren zu eigentümlichen Objekten geformt: „Die aktuellen Blumen Reinhild Gerums verletzen.“ BILD: SN/M.B. was Sinnvolles zu tun. „Flowers for Zirndorf“ eben. Gerum bittet die Flüchtlinge, Papierblumen aus Materialien aus ihrer direkten Umgebung herzustellen. Meist aus Papierhandtüchern, Prospekten oder Verpackungsmaterial. „Die Menschen entdecken wieder ihre schöpferischen Kräfte und erleben sich aktiv und positiv“, berichtet die Künstlerin. Weiterer Vorteil der Aktion: Über das bildnerische Gestalten erfolgt ein Austausch, ein Reden über Flucht, Frei- heit, die Zukunft und noch vieles mehr. „Die Passions- und Osterzeit verlangt nach einer Kunst, die um existenzielle Themen der Passion, des Schmerzes, der Transformation des Körpers kreist“, sagt Rauchenberger. Gerum verhandle in vielen ihrer Arbeiten die Angst – „und auch den Schmerz, der immer ein Teil von ihr ist“. Seit Jahrzehnten arbeitet die aus München stammende Künstlerin mit Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, mit psychisch Kranken, Traumatisierten, Gewaltopfern, auch mit Flüchtlingen. Sie schreibt deren Geschichten auf, präsentiert Gedächtnisprotokolle: „Plötzlich wurden mir die Knie weich. Meine Verzweiflung wurde von einer Welle von Wut beiseitegeschwemmt.“ Sie zeigt Fotos der Schutzsuchenden, die ihre bunten Papierblumen präsentieren. Viel Hoffnung blickt einem aus den Gesichtern der Menschen entgegen, die Leid, Gewalt und existenzielle Not erfahren haben. Es ist eine positive Energie, die Mut macht und Trost spenden kann. „Was kann Kunst derzeit tun, wenn man zuschauen muss, wie sich die öffentliche Sprache Woche für Woche verändert, enger wird, die mentalen Grenzen hochgezogen werden?“, fragt Johannes Rauchenberger und gibt auch gleich die Antwort: Man könne nicht zur Tagesordnung übergehen. Ausstellungen wie jene von Reinhild Gerum laden ein, den eigenen Blick zu schärfen und Stellung zu beziehen. Ausstellung: Reinhild Gerum, „Die Blumen der anderen – Künstlerische Reflexionen zu Schmerz und Passion“, Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz, bis 8. Mai. BILD: SN/COL LEGNO disches Spielmaterial ab, aber dieses Mal wurden die Tüftler Schett und Kraler auch bei Béla Bartók fündig, der einst Volksmusik aus Ruthenien, der Slowakei und Ungarn erforschte und „verarbeitete“, sowie einem weiteren Ungarn, György Ligeti. Ein Stück wie „Vorwärts, rückwärts, seitwärts“ bringt Schubert, Bartók und Ligeti sogar unter „ein Dach“. Überhaupt sind die Titel wohlüberlegt: „Schneekugelwalzer“, „Husch Pfusch Tusch“, „Ringelreigenwatschentanz“ oder „Wie der Bauer zur Kultur kam“ sind Zeugnisse des ironischen Zugangs. Das „Totengräberlied“ führt wieder zur Musikkapelle und ihrem Anliegen: „Grabe, Spaten, grabe! . . . Reich’ und arme Leute werden meine Beute . . .“ CDs: Musikkapelle Innervillgraten. „Nachklänge“. Trauermärsche. Franui. „Tanz! (Franz) – Und Lenz wird kommen / Und Winter wird gehn . . . “ Tanzmusik. Beide: Col legno. Centre Pompidou gastiert in München Mit einer großen Auswahl aus dem Pariser Centre Pompidou zeigt das Münchner Haus der Kunst bis 4. September zeitgenössische Kunst aus vielen Teilen der Welt. Erstmals ist ein so umfangreicher Teil der dortigen Sammlung außerhalb Frankreichs zu sehen. Die Schau „Eine Geschichte“ soll einen Überblick über Kunst seit den 1980er-Jahren geben. SN, dpa MÜNCHEN. Todesdrohung gegen Salman Rushdie erneuert Die schwedische Nobelpreis-Akademie hat nach 27 Jahren die Todesdrohung des Iran gegen den Schriftsteller Salman Rushdie verurteilt. In einer Mitteilung vom Donnerstag kritisierte die Akademie zudem, dass etwa 40 staatliche iranische Medien kürzlich angekündigt hätten, ein zusätzliches Kopfgeld von umgerechnet 537.000 Euro auf Rushdies Tod ausgesetzt zu haben. Der indisch-britische Autor war 1989 mit einer Fatwa belegt worden. Radikale Muslime empfanden seinen Roman „Die satanischen Verse“ als gotteslästerlich. SN, dpa STOCKHOLM.
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