lesen - Radiopredigt

Die Radiopredigten
Auf Radio SRF 2 Kultur und Radio SRF Musikwelle gehört, zur Ergänzung notiert.
Es gilt das gesprochene Wort
Caroline Schröder Field, ev.-ref.
4. Dezember 2016
Der Fuss in der Tür
Rut 2, 1-23
«Wenn jemand getötet wird, dann ist sein engster Verwandter verpflichtet,
den Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn jemand als Sklave verkauft
wird, dann ist sein engster Verwandter verpflichtet, ihn loszukaufen. Wenn
jemand kinderlos stirbt und eine Frau hinterlässt, die noch gebären kann,
dann ist sein engster Verwandter verpflichtet, die Frau zu heiraten und mit
ihr ein Kind zu zeugen. Dieses gilt dann nicht als sein eigenes Kind, sondern als Kind des verstorbenen Ehemanns.» Die alte Frau machte eine bedeutungsvolle Pause. Sie führte den Becher zum Mund und nahm einen
Schluck Wasser. Mit dem Handrücken strich sie sich über die Lippen und
sah Rut eindringlich an. «Wenn jemand aus Armut sein Land verkaufen
muss, dann hat sein Verwandter das Vorkaufsrecht.»
Die junge Frau hörte der Älteren aufmerksam zu. Sie ahnte, dass heute etwas Besonderes geschehen war. Lange hatte sie ihre Schwiegermutter nicht
so lebhaft gesehen. Noomi sprach mit grosser Konzentration. «Löser», sagte
sie, «Löser heisst der Mann, der seinem Verwandten gegenüber diese besonderen Rechte und Pflichten hat. Er kann einem Ermordeten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Nun, in unserer Familie ist kein Mord geschehen.
Unsere Männer sind ohne fremde Schuld ums Leben gekommen. Aber der
Löser kann ja auch noch ganz andere Aufgaben haben. Er kann für eine
Familie die letzte Chance sein zu überleben.» Hier zögerte sie kurz. Dann
fuhr sie fort: «Er kann für unsere Familie die letzte Chance sein zu überleben.»
Bei dem Wort ‘Familie’ spürte Rut einen Schmerz, der ihr für einen Augenblick fast die Luft nahm. Ruts Eltern und Geschwister waren weit weg. Sie
lebten in dem Land auf der anderen Seite des Jordans. Es war nicht wahrscheinlich, dass sie sie jemals wiedersehen würde. Ruts Ehemann, Noomis
Sohn, war dort gestorben. Das Leben hatte der ganzen Familie übel mitgespielt, und nun waren nur noch Noomi und Rut übrig. «Wenigstens haben
wir keine Kinder», dachte Rut. «Was würde aus ihnen?» Und im selben Au-
genblick durchfuhr es sie: «Ach, hätten wir wenigstens ein Kind. Noomi
wäre als Grossmutter in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Und auch ich könnte alt werden, und dann wäre da später einmal noch jemand, der für mich
sorgen könnte.» Waren Rut und Noomi etwa eine Familie? Sie waren Überlebende. Gestrandete. All das ging Rut durch den Kopf, als Noomi vom
Löser sprach und sagte: «Er kann für unsere Familie die letzte Chance sein
zu überleben.» Noomi hatte ihre Schwiegertochter beobachtet und legte ihr
nun sanft die Hand an die Wange: «Wenn die Zukunft hinter einer Tür liegt,
die gerade im Begriff ist, für alle Zeiten ins Schloss zu fallen, dann ist der
Löser unser Fuss in der Tür.» Viele Jahre später würde Rut noch an diesen
Satz zurückdenken. «Wenn die Zukunft hinter einer Tür liegt, die gerade im
Begriff ist, für immer zuzufallen, dann ist der Löser unser Fuss in der Tür.»
Als wäre es gestern gewesen, wird sich noch Jahre später Ruth an den Augenblick erinnern, als sie dem Löser zum ersten Mal begegnete. Am frühen
Morgen hatte sie sich den Erntearbeiterinnen angeschlossen. Nein, das ist
nicht wahr. Sie hätte es nie im Leben gewagt, sich den einheimischen Frauen Betlehems anzuschliessen. Sie war ihnen gefolgt, im gebührenden Abstand, mit leerem, knurrenden Magen und wohlwissend, dass sie keine Erntearbeiterin war, angestellt von einem wohlhabenden Grundbesitzer, um
sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Rut war als Ungebetene dazu gestossen. Sie erwartete keinen Lohn, doch sie wusste um das Recht der Hungernden, die bei einer Ernte einsammeln, was die Arbeiterinnen übersehen
oder versehentlich fallen lassen. Ruts Recht war das Recht der Armen. Es
war ein fragiles Recht. Es platzierte sie an das allerunterste Ende der Hackordnung. Auch dass da Männer waren, die die Arbeiterinnen beaufsichtigten, war eine Gefahr. Wenn die Arbeiterinnen für die Knechte auch tabu
waren, ungebetene Habenichtse waren nicht unantastbar. Jeder Zeit hätte
sich einer von den Männern an ihr vergreifen können. Nun, Rut hatte keine
Wahl. Es ging ihr nicht nur um sich selbst, sie musste für zwei sammeln, für
sich und Noomi. Die Sonne stand schon beinahe im Zenit, als ein Mann
sich den Arbeiterinnen näherte. Boas hiess er. An der Art, wie die Knechte
mit ihm redeten, erkannte Rut sofort: Ihm gehören Land und Ernte. Sie
bückte sich, um weiter hinter den Schnitterinnen aufzulesen. Da sprach er
sie an, und seine Stimme war freundlich: «Ich weiss, wer du bist, woher du
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kommst und was du getan hast», sagte er. «Du hast dein Land und deine
Familie verlassen. Du tatest dies für deine Schwiegermutter, obwohl kein
Gesetz dich dazu verpflichtete. Niemand hätte es dir übel genommen, hättest du die alte Frau verlassen. Und doch bist du jetzt hier, suchst Schutz
unter den Flügeln unseres Gottes. Mögest du nicht enttäuscht werden!»
Während seiner Rede hatte sich Rut erhoben und seinem Blick standgehalten. Noch ehe sie darüber nachdenken konnte, ob es ihr anstand zu antworten, sagte sie mit fester Stimme: «Ich werde nicht enttäuscht. Schon jetzt bin
ich getröstet, allein durch das, was du gerade zu mir gesagt hast.» Später
würde Rut nicht mehr wissen, was in sie gefahren war. So selbstbewusst
und auf Augenhöhe hatte sie dem Landbesitzer geantwortet.
Als es Zeit wurde, etwas zu essen, lud Boas sie mit den anderen Arbeiterinnen ein. An die Einzelheiten dieser Brotzeit wird sie sich noch im hohen
Alter erinnern können, so gut schmeckte es ihr. Als sie dann aufstand, um
weiter zu sammeln, da fand sie auf einmal viel mehr als vorher. Als seien die
Schnitterinnen nach gestilltem Appetit nicht mehr in der Lage gewesen, mit
derselben Sorgfalt zu sammeln wie noch am Morgen. Viel später erzählte
ihr Boas, welchen Befehl er seinen Arbeiterinnen damals gegeben hatte:
«Beschämt sie nicht, lasst immer etwas liegen für Rut, aber tut es so, dass sie
in ihrem Stolz nicht verletzt wird.»
Am Abend brachte Rut ihrer Schwiegermutter so viel Gerste mit, dass sie
für Tage ausgesorgt hatten. Und die Erntearbeit war so nahrhaft gewesen,
dass Rut keinen Bissen mehr herunterbekam. Da fragte Noomi: «Wo warst
du? Wer ist so grosszügig zu dir gewesen?» Und Rut sagte: «Boas hiess der
Mann.» Daraufhin rief Noomi aus: «Gesegnet ist er von Gott. Gott versagt
seine Wohltaten weder Lebenden noch Toten!» Das war der Augenblick, als
Noomi sich zu verwandeln begann. Als dieses Strahlen in ihre Augen zurückkehrte. Es war, als ginge es auf einmal nicht mehr nur ums Sattwerden.
Es ging auf einmal nicht mehr nur um zwei Frauen, die Hungersnot und
Todesfälle überlebt hatten, um für den Rest ihrer Zeit von der Hand in den
Mund zu leben. Es ging um die Lebenden und um die Toten. Es ging um
die ganze Familie, um das verloschene Leben der Ehemänner und um das
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künftige Leben noch ungeborener Kinder. Es ging um Gottes Treue zu
ihnen.
Viel später, als Rut selbst alt geworden war und die Kinder ihres Sohnes auf
den Knien hielt, da wusste sie zwar, dass die alte Rechtsidee vom Löser die
Wende gebracht hatte in ihrem Leben. Aber sie wusste auch, dass eine
Rechtsidee noch keine Gerechtigkeit schafft. Boas hätte das Recht und die
Pflicht, sie zur Frau zu nehmen, ablehnen können. Ein Löser macht noch
keine Erlösung, erst recht nicht in einer Gesellschaft, die durch und durch
patriarchalisch verfasst ist. Das alles wusste Rut, als sie Boas längst für sich
gewonnen hatte. Aber was Rut zeit ihres Lebens nicht ahnen konnte, war
dies: dass sie als Urgrossmutter König Davids dem Volk ihrer Schwiegermutter auf immer in Erinnerung bleiben würde. Und was sie ebenfalls nicht
ahnen konnte: dass die Rechtsidee des Lösers die Sehnsucht nach einer
noch viel grösseren Gerechtigkeit wecken würde. Gewiss, eine Rechtsidee
schafft noch keine Gerechtigkeit. Aber sie ist wie ein Fuss in der Tür. Der
Grund der Hoffnung ist gelegt. Es muss sich nur jemand finden, der dieser
Hoffnung gewachsen ist. Manche sagen, einer von Ruts Nachfahren werde
dieser Hoffnung gewachsen sein. Der Hoffnung, dass er sein Volk erlöst
und nicht nur sein Volk, sondern alle Menschen. Alle, für die sonst kein
Löser eintritt. Sein Name ist Jeschua. In manchen Sprachen auch «Jesus»
genannt. Auf ihn warten wir. Amen.
Caroline Schröder Field
Rittergasse 1, 4051 Basel
[email protected]
Auf Radio SRF 2 Kultur und auf Radio SRF Musikwelle um 9.30 Uhr (kath.) und
um 9.45 Uhr (ref.)
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