Materialien zur Vorlesung „Zugänge zur modernen Kunst“ 7. Vorlesung Unterschiede zwischen moderner und traditioneller Kunst: - Kunst ist nicht mehr Abbildung der Welt. - Die Empfindung verdrängt das Sujet. - Der moderne Künstler entdeckt oder findet anstatt zu suchen. - Ebnung des Weges in die Abstraktion - Polyfokalität, Mehransichtigkeit - Wahrheit statt Schönheit. - Einbeziehung des Betrachters, von der Rezeption zur Teilnahme. - Vom Auftragnehmer zum Ausstellungskünstler - Der Zwang zur Innovation - Kunst äußert sich offen politisch. - Neue Techniken verändern die Kunst und ihre Rezeption. - Ausweitung des Kunstbegriffs (Fluxus, Übermalung, Performance, Land-Art) - Ironische Distanzierung - Provokation statt Unterhaltung; manchmal Kitsch statt Kunst. - Mythos des Meisterwerks. „Von jetzt an, sagt dieses Bild, ist es der Künstler, der die Welt erschafft, nicht mehr Gott… Sie können das so verstehen, dass ‚das Atelier‘ entweder eine riesige Blasphemie ist oder eine sehr hohe Bedeutung für die Kunst beansprucht – je nach Ihrem Standpunkt. Oder beides.“ (Barnes, 2015, S. 62) „Zweifellos … prüft hier der Künstler seinen Auftraggeber auf Tauglichkeit, nicht umgekehrt. Dem Bild wurde die satirische Bezeichnung ‚Reichtum begrüßt das Genie‘ verliehen. Wie weit haben wir uns von jener Zeit entfernt, als der Auftraggeber eines Gemäldes kniend an der Seite von Heiligen dargestellt wurde, während der Maler im besten Fall als Bauer verkleidet am Bildrand erschien.“ (Barnes, S. 61) „In keiner anderen Epoche der Kunstgeschichte, einschließlich der italienischen Renaissance, besaßen bildende Künstler so viel Macht, Ansehen und Hochmut wie die Pariser Salonmaler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die erfolgreichsten unter ihnen waren sich ihres ewigen Ruhms absolut sicher, nie hätten sie es für möglich gehalten, dass ihre Unsterblichkeit nur bis zu ihrem Tod währen sollte“ (Nicolaus 1984, S. 48) „An dem Tag, an dem der Tod Sisleys bekannt wurde, … erbebte die Kunstwelt … Seine Bilder verzeichneten einen ungeheuren Zugewinn an Wertschätzung.“ (Katalog der SisleyAusstellung 2011 in Wuppertal) Willem de Kooning, als er 1935 in ein Programm zur Förderung von Künstlern aufgenommen wurde beschrieb die neue Perspektive: „Es war ein so phantastisches Gefühl, von der Malerei leben zu können, dass ich aufhörte, nur nebenbei zu malen. Ich beschloss, zu malen und nur noch nebenbei für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten.“ (B. Hess, 2004, S. 20 f.) … sodass „die zeitgenössische Welt der Kunst mittlerweile der arbeitsteiligen Industrie der Filmwelt näher steht als dem romantisch-einsamen Atelier des genialisch inspirierten Künstlers“ (Martina Weinhart, zit. nach Ullrich, S. 99). „Sieger sind vor allem diejenigen, die ihre Werke kaufen, ersteigern oder in Auftrag geben: ein kleiner Kreis sehr reicher Menschen, oft mächtig, manchmal prominent, fast immer als Sammler bezeichnet. Siegerkunst ist also Kunst von Siegern für Sieger … Siegerkunst entsteht am ehesten im Auktionshaus, wenn ein Werk zu einer unerwartet – unfassbar – hohen Summe versteigert wird. Das Werk ist fortan fest mit seinem Preis verknüpft und erhält durch ihn eine Ausnahmestellung. Die Erhabenheit ist umso größer, je weniger der Preis zu dem Werk zu passen scheint, je weniger er sich nachvollziehen und begreifen lässt.“ (Ullrich 2016, S. 9 f. „Der amerikanische Kunsttheoretiker Donald Kuspit beklagt etwa, dass eine kapitalistische Elite über die Macht verfüge, die Zukunft dessen, was einmal als Kunst angesehen wird, zu schaffen, zu kontrollieren und zu besitzen‘“(Ullrich, S. 49). „Die streng konstruierte Kunst dient dazu, Fahrholz (den Bankmanager) als fortschrittlichen Analytiker zu präsentieren, der … so effizient arbeitet, dass er einen leeren Schreibtisch vorweisen kann... das Gemälde fungiert … als Imagefaktor; einige seiner Eigenschaften sollen auf die Person übertragen werden und diese positiv charakterisieren. Dabei geht jedoch völlig unter, dass Lohse eigentlich Kommunist war. Seine Bildkonzepte sollten Modelle von Hierarchiefreiheit liefern, um einen Wandel der sozialen Verhältnisse einzuleiten“ (ebd., S. 92 f.). Fazit: - Wir suchen in einem Kunstwerk nach Komplexität und Mehrdeutigkeit. Wir begegnen einem Kunstwerk, das uns anspricht, mit Interesse. Was gut ist, ist teuer. Der Umkehrsatz gilt nicht immer. Wir treffen unser Urteil über Kunstwerke unabhängig von deren Marktwert. Wir trauen unseren eigenen Augen mehr als den Preisschildern. Literatur Anderson, Friedel (2014): Licht Blick. Malerei und Grafik 2004 – 2014. Schleswig (Deutscher Kunstverlag). Barnes, Julian (2015): Keeping an Eye Open. Essays on Art. London (Jonathan Cape). Czech, Hans-Jörg (2015): Thomas Herbst. Liebermanns Freund, Lichtwarks Hoffnung. Hamburg (Stiftung Historische Museen). Hess, Barbara (2004): Willem de Kooning. Köln (Taschen). Kaschnitz, Marie Luise (1978): Die Wahrheit, nicht der Traum. Das Leben des Malers Courbet. Frankfurt (Insel). Nicolaus, Frank (1984): Bouguereau. In art, H. 6, S. 36 – 51. Parmentier, Michael (1997): Das gemalte Ich. Über die Selbstbilder von Rembrandt. In: Zeitschrift für Pädagogik 43. Jg., Nr. 5, S. 721 – 737. Ullrich, Wolfgang (2016): Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust. Berlin (Wagenbach). 6. Vorlesung Einbeziehung des Betrachters, von der Rezeption zur Teilnahme. Was schließen wir aus den Collagen der Hörer/innen? - Es ist in der Kunst offensichtlich möglich, zu finden statt zu suchen. - Die Versuchung, beim Gegenständlichen zu bleiben ist für Künstler und für Betrachter groß. - Strenge Reduktion der Mittel (nur 6 Stückchen Papier, nur gerissen) fördert die Kreativität. - Trotz identischem Ausgangsmaterial wurden nicht 2 gleiche Lösungen gefunden. - Die Orientierung (oben/unten) beeinflusst die Wahrnehmung und Interpretation, ebenso der Horizont. - Der Titel macht oft einen Unterschied. - Es sind die Betrachter, die das Kunstwerk verstehen, einen Zugang finden, es interpretieren, ihm eine Bedeutung zumessen. Nikolaus von Kues: „Befestigt das Bild an irgendeiner Stelle … und stellt Euch … in gleichem Abstand um es herum auf und betrachtet es. Ein jeder von Euch, von welchem Platze aus er auch das Bild ansehe, wird die Erfahrung machen, dass er gleichsam allein von jenem angeschaut wird.“ (Wolf 20112, S. 126) Blake hatte sich seit Mitte der 50ger Jahre und damit lange vor Andy Warhol mit Fragen der Bildlichkeit, der technischen Reproduktion und mit den Ikonen des Medienzeitalters beschäftigt und die Wirkungsmacht der medial geschaffenen Bilderwelt, ihrer Konsumgüter und Markenzeichen explizit ins Werk gesetzt – programmatisch in seinem Ölgemälde On the Balcony …, eine im Stil der Fotomontage der 20er Jahre gestaltete Collage, welche die verschiedensten Aspekte und Protagonisten der populären Kultur thematisierte und zugleich eine >gemalte Theorie der Reproduktion< (Michael Diers) enthielt.“ (Paul „das visuelle Zeitalter“, S. 414). Das Gemälde „Las Meninas“ von Velazquez „… ist ein Musterbeispiel für … die Einbeziehung des Betrachters in das Kunstwerk. Velazquez benutzt den Spiegel, um das Bild mehrdeutig zu machen. Sehen wir das Spiegelbild der Leinwand, die der Künstler gerade bemalt? Oder sehen wir das Spiegelbild des Königspaares selbst, das außerhalb des abgebildeten Raumes steht? Velazquez konfrontiert die Betrachter zum ersten Mal mit der gleichermaßen künstlerischen und philosophischen Frage: Welche Rolle spielt der Betrachter? Schlüpft er in die Rolle von König und Königin, wenn er vor dem Bild steht? Was ist Wirklichkeit und was ist Illusion? Abgesehen davon, was der Spiegel tatsächlich reflektiert, ist er noch eine Ebene weiter von der Realität entfernt, weil er die Abbildung einer Reflexion ist – er ist das Bild vom Bild eines Bildes. In Velazquez‘ Gemälde deuten sich bereits Fragen an, die später die Vorstellungen der Moderne beherrschen sollten…Velazquez … macht … den Prozess bewusst, mit dessen Hilfe die Kunst eine Illusion der Wirklichkeit erschafft – die Illusion, dass das Gemälde die Wirklichkeit ist und nicht nur ihre künstlerische Darstellung. In einem weiteren Schritt rückt Velazquez zudem die unbewussten Vorgänge in unser Bewusstsein, mit denen der menschliche Geist die physischen und emotionalen Wirklichkeiten repräsentiert, die uns in jedem wachen Moment unseres Lebens umgeben... Dieses außergewöhnliche Gemälde… steht für den Beginn des Selbstbewusstseins. Damit ist es ein Symbol modernen philosophischen Denkens und markiert die Wende von der klassischen zur modernen Kunst.“ (Kandel 2014, Seite 460-462) In seinem Buch „Die Grundlagen der modernen Kunst“ spricht Werner Hofmann von einer „schwankenden Stellung“ des Kubismus, der „weder für den Sachinhalt (also das Sujet) noch für den Forminhalt (also das Aufbrechen des Gegenstandes in geometrische Formen) eine klare Entscheidung traf… Gemeinsam mit Picasso und Braque versucht Juan Gris …einen Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Bildgeometrie und der Erfahrungswelt herzustellen… Dieses ‚Umschlagen‘ von einer Funktion in die andere wird letztlich von der Wahrnehmung des Betrachters vollzogen und sanktioniert: bei ihm liegt die Entscheidung, ob er ein bestimmtes Linien- oder Flächengefüge auf Sachinhalte beziehen will oder nicht.“ (zit. nach Ganteführer 2004, S. 74) Was bedeutet die Einbeziehung des Betrachters für den Zugang zur modernen Kunst? - Kunstwerke sind voll unterschiedlicher Bedeutungen. Künstlern ist die Vieldeutigkeit von Kunst bewusst. Sie begeben sich in eine Kommunikation mit dem Betrachter, ohne genau zu wissen, wie ihre Werke wirken. - Was wir im Einzelfall wahrnehmen, hängt an unseren Erinnerungen und Erfahrungen. - Wie Umberto Eco 1962 in seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ festhielt, haben moderne Kunstwerke keinen vorab festgelegten Sinn. Als Betrachter nehmen wir Anregungen, Vorschläge, Provokationen oder Verführungen auf und reagieren, indem wir das Kunstwerk deuten oder (im Einzelfall) das Kommunikationsangebot zurückweisen. - Kunst liegt heute mehr denn je „im Auge des Betrachters“. Von Menschen, die an Kunst wenig interessiert sind, wird das zuweilen als Zumutung empfunden. Für Kunstinteressierte liegt darin aber eine große Chance: Indem Sie sich mit ihren Sinnen, Gedanken und Emotionen auf ein Kunstwerk einlassen, können Sie es gleichsam für sich nachschaffen und ihm eine individuelle Bedeutung geben, die vom Künstler nicht intendiert sein muss. - So wird das Kunstwerk erst im Kopf des Betrachters fertig, was die Aussage von Oscar Wilde bestätigt, dass die Kunst in Wahrheit den Betrachter spiegelt, nicht das Leben. - Der Künstler kann es uns leichter oder schwerer machen, uns an der Fertigstellung des Kunstwerks zu beteiligen. Je realistischer, täuschender und glatter ein Kunstwerk ist, umso größer die Versuchung der Betrachter, sich damit nicht näher zu befassen. Ist das Kunstwerk dagegen sperrig und entspricht nicht unseren Sehgewohnheiten, fühlen wir uns herausgefordert, hinter die Kulissen zu schauen und selbst das zu ergänzen, was der Künstler nicht zu Ende gebracht oder – wahrscheinlicher – uns absichtlich zur Vollendung offen gelassen hat. Literatur Gantheführer-Trier, Anne (2004): Kubismus. Köln (Taschen). Kandel, Eric (2014): Das Zeitalter der Erkenntnis. München (Pantheon). Nicolaus Cusanus (2011). Textauswahl und Kommentar von Gerhard Wehr. Wiesbaden (marixverlag). Paul, Gerhard (2016): Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel. Göttingen (Wallstein). Wolf, Norbert (2012): Malerei verstehen. Darmstadt (Wissenschaftliche BuchgesellschaftTaschen).
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