Vorlesung im Wintersemester 2016/17

Materialien zur Vorlesung „Zugänge zur modernen Kunst“
6. Vorlesung
Einbeziehung des Betrachters, von der Rezeption zur Teilnahme.
Was schließen wir aus den Collagen der Hörer/innen?
-
Es ist in der Kunst offensichtlich möglich, zu finden statt zu suchen.
-
Die Versuchung, beim Gegenständlichen zu bleiben ist für Künstler und für Betrachter
groß.
-
Strenge Reduktion der Mittel (nur 6 Stückchen Papier, nur gerissen) fördert die
Kreativität.
-
Trotz identischem Ausgangsmaterial wurden nicht 2 gleiche Lösungen gefunden.
-
Die Orientierung (oben/unten) beeinflusst die Wahrnehmung und Interpretation,
ebenso der Horizont.
-
Der Titel macht oft einen Unterschied.
-
Es sind die Betrachter, die das Kunstwerk verstehen, einen Zugang finden, es
interpretieren, ihm eine Bedeutung zumessen.
Nikolaus von Kues: „Befestigt das Bild an irgendeiner Stelle … und stellt Euch … in gleichem
Abstand um es herum auf und betrachtet es. Ein jeder von Euch, von welchem Platze aus er
auch das Bild ansehe, wird die Erfahrung machen, dass er gleichsam allein von jenem
angeschaut wird.“ (Wolf 20112, S. 126)
Blake hatte sich seit Mitte der 50ger Jahre und damit lange vor Andy Warhol mit Fragen der
Bildlichkeit, der technischen Reproduktion und mit den Ikonen des Medienzeitalters
beschäftigt und die Wirkungsmacht der medial geschaffenen Bilderwelt, ihrer Konsumgüter
und Markenzeichen explizit ins Werk gesetzt – programmatisch in seinem Ölgemälde On the
Balcony …, eine im Stil der Fotomontage der 20er Jahre gestaltete Collage, welche die
verschiedensten Aspekte und Protagonisten der populären Kultur thematisierte und zugleich
eine >gemalte Theorie der Reproduktion< (Michael Diers) enthielt.“ (Paul „das visuelle
Zeitalter“, S. 414).
Das Gemälde „Las Meninas“ von Velazquez „… ist ein Musterbeispiel für … die Einbeziehung
des Betrachters in das Kunstwerk. Velazquez benutzt den Spiegel, um das Bild mehrdeutig zu
machen. Sehen wir das Spiegelbild der Leinwand, die der Künstler gerade bemalt? Oder
sehen wir das Spiegelbild des Königspaares selbst, das außerhalb des abgebildeten Raumes
steht? Velazquez konfrontiert die Betrachter zum ersten Mal mit der gleichermaßen
künstlerischen und philosophischen Frage: Welche Rolle spielt der Betrachter? Schlüpft er in
die Rolle von König und Königin, wenn er vor dem Bild steht? Was ist Wirklichkeit und was ist
Illusion? Abgesehen davon, was der Spiegel tatsächlich reflektiert, ist er noch eine Ebene
weiter von der Realität entfernt, weil er die Abbildung einer Reflexion ist – er ist das Bild vom
Bild eines Bildes. In Velazquez‘ Gemälde deuten sich bereits Fragen an, die später die
Vorstellungen der Moderne beherrschen sollten…Velazquez … macht … den Prozess bewusst,
mit dessen Hilfe die Kunst eine Illusion der Wirklichkeit erschafft – die Illusion, dass das
Gemälde die Wirklichkeit ist und nicht nur ihre künstlerische Darstellung. In einem weiteren
Schritt rückt Velazquez zudem die unbewussten Vorgänge in unser Bewusstsein, mit denen
der menschliche Geist die physischen und emotionalen Wirklichkeiten repräsentiert, die uns
in jedem wachen Moment unseres Lebens umgeben... Dieses außergewöhnliche Gemälde…
steht für den Beginn des Selbstbewusstseins. Damit ist es ein Symbol modernen
philosophischen Denkens und markiert die Wende von der klassischen zur modernen Kunst.“
(Kandel 2014, Seite 460-462)
In seinem Buch „Die Grundlagen der modernen Kunst“ spricht Werner Hofmann von einer
„schwankenden Stellung“ des Kubismus, der „weder für den Sachinhalt (also das Sujet) noch
für den Forminhalt (also das Aufbrechen des Gegenstandes in geometrische Formen) eine
klare Entscheidung traf… Gemeinsam mit Picasso und Braque versucht Juan Gris …einen
Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Bildgeometrie und der Erfahrungswelt
herzustellen… Dieses ‚Umschlagen‘ von einer Funktion in die andere wird letztlich von der
Wahrnehmung des Betrachters vollzogen und sanktioniert: bei ihm liegt die Entscheidung, ob
er ein bestimmtes Linien- oder Flächengefüge auf Sachinhalte beziehen will oder nicht.“ (zit.
nach Ganteführer 2004, S. 74)
Was bedeutet die Einbeziehung des Betrachters für den Zugang zur modernen Kunst?
-
Kunstwerke sind voll unterschiedlicher Bedeutungen. Künstlern ist die Vieldeutigkeit
von Kunst bewusst. Sie begeben sich in eine Kommunikation mit dem Betrachter,
ohne genau zu wissen, wie ihre Werke wirken.
-
Was wir im Einzelfall wahrnehmen, hängt an unseren Erinnerungen und Erfahrungen.
-
Wie Umberto Eco 1962 in seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ festhielt, haben
moderne Kunstwerke keinen vorab festgelegten Sinn. Als Betrachter nehmen wir
Anregungen, Vorschläge, Provokationen oder Verführungen auf und reagieren,
indem wir das Kunstwerk deuten oder (im Einzelfall) das Kommunikationsangebot
zurückweisen.
-
Kunst liegt heute mehr denn je „im Auge des Betrachters“. Von Menschen, die an
Kunst wenig interessiert sind, wird das zuweilen als Zumutung empfunden. Für
Kunstinteressierte liegt darin aber eine große Chance: Indem Sie sich mit ihren
Sinnen, Gedanken und Emotionen auf ein Kunstwerk einlassen, können Sie es
gleichsam für sich nachschaffen und ihm eine individuelle Bedeutung geben, die vom
Künstler nicht intendiert sein muss.
-
So wird das Kunstwerk erst im Kopf des Betrachters fertig, was die Aussage von Oscar
Wilde bestätigt, dass die Kunst in Wahrheit den Betrachter spiegelt, nicht das Leben.
-
Der Künstler kann es uns leichter oder schwerer machen, uns an der Fertigstellung
des Kunstwerks zu beteiligen. Je realistischer, täuschender und glatter ein Kunstwerk
ist, umso größer die Versuchung der Betrachter, sich damit nicht näher zu befassen.
Ist das Kunstwerk dagegen sperrig und entspricht nicht unseren Sehgewohnheiten,
fühlen wir uns herausgefordert, hinter die Kulissen zu schauen und selbst das zu
ergänzen, was der Künstler nicht zu Ende gebracht oder – wahrscheinlicher – uns
absichtlich zur Vollendung offen gelassen hat.
Literatur
Gantheführer-Trier, Anne (2004): Kubismus. Köln (Taschen).
Kandel, Eric (2014): Das Zeitalter der Erkenntnis. München (Pantheon).
Nicolaus Cusanus (2011). Textauswahl und Kommentar von Gerhard Wehr. Wiesbaden (marixverlag).
Paul, Gerhard (2016): Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel. Göttingen (Wallstein).
Wolf, Norbert (2012): Malerei verstehen. Darmstadt (Wissenschaftliche BuchgesellschaftTaschen).
5. Vorlesung
Unterschiede zwischen moderner und traditioneller Kunst:
- Kunst ist nicht mehr Abbildung der Welt.
- Die Empfindung verdrängt das Sujet.
- Der moderne Künstler entdeckt oder findet anstatt zu suchen.
- Ebnung des Weges in die Abstraktion
- Polyfokalität, Mehransichtigkeit
- Wahrheit statt Schönheit.
- Einbeziehung des Betrachters, von der Rezeption zur Teilnahme.
- Vom Auftragnehmer zum Ausstellungskünstler
- Der Zwang zur Innovation
- Kunst äußert sich offen politisch.
- Neue Techniken verändern die Kunst und ihre Rezeption.
- Ausweitung des Kunstbegriffs (Fluxus, Übermalung, Performance, Land-Art)
- Ironische Distanzierung
- Provokation statt Unterhaltung; manchmal Kitsch statt Kunst.
- Mythos des Meisterwerks.
05 Polyfokalität
Hofmann (1998) spricht von einem „Triumph der Mehransichtigkeit“ (S. 251 ff.)
Wie beeinflusst die Mehransichtigkeit der modernen Kunst unseren Zugang?
-
Wir sollten ein Kunstwerk so sorgfältig betrachten, dass wir erkennen, ob es eine
oder mehrere Ansichten bietet.
-
So wie ein Maler jedem Quadratzentimeter eines Bildes die gleiche Aufmerksamkeit
widmet (selbst diejenigen Stellen, die er ggf. frei lässt), nimmt der Betrachter eines
modernen Kunstwerks alles in den Blick.
-
Wir fragen nach Perspektive und ihrer Bedeutung für das Kunstwerk, lassen es zu,
dass unser Blick geführt wird, beobachten, wo unsere Wahrnehmung gleichsam
stolpert.
-
Wir stellen uns den Irritationen, die sich aus dem Fehlen eines Focus ergeben
können.
-
Durch die Polyfokalität moderner Kunst bekommen wir einen Zugang zur
Zersplitterung unserer Erfahrung und lernen zu entscheiden, wie wir damit umgehen
wollen.
-
Und wir werden daran erinnert, dass das Leben nacheinander und nicht gleichzeitig
abläuft.
06. Schönheit oder Wahrheit?
Der französische Dichter Jules Laforgue stellte 1883 fest: „Ohne fremde Hilfe wird das
Publikum lernen, selbst zu sehen, und wird sich natürlicherweise zu denjenigen Malern
hingezogen fühlen, die es als modern und vital erlebt“ (zit. nach Phillips, S. 28).
In der Renaissance wurde die Schönheit in der Zusammenstimmung aller Teile gesehen. „Sie
ist am größten, wenn wirklich alles in idealer Weise zusammenpasst und es kein Zuviel und
kein Zuwenig gibt, keinen Überfluss keinen Mangel... Ob ein Ding schön ist oder nicht, hängt
also nicht von den persönlichen Vorlieben des Betrachters ab, sondern von seiner objektiven
Beschaffenheit. Das Schöne nicht zu sehen beweist nicht so sehr einen Mangel an Geschmack
als vielmehr einen Mangel an Erkenntnisfähigkeit“ (Hauskeller, 2013, Seite 28).
Arthur Schopenhauer: Thema und Stoff der Künstler ist „Alles, was irgend eines Menschen
Herz bewegt hat, und was die menschliche Natur, in irgendeiner Lage, aus sich hervor treibt,
was irgendwo in einer Menschenbrust wohnt und brütet“ (Werke, § 51). Seine einzige
Aufgabe sei die Darstellung der Wahrheit. Daher dürfe niemand dem Künstler „vorschreiben,
dass er edel und erhaben, moralisch, fromm, christlich, oder Dies oder Das seyn soll, noch
weniger ihm vorwerfen, dass er dies und nicht jenes sei. Er ist der Spiegel der Menschheit,
und bringt ihr was sie fühlt und treibt zum Bewusstsein“ (ebd.)
„In der Kunst führt diese neue Sichtweise zu einer neuen Betrachtung der biologischen Natur
menschlicher Existenz. Das zeigt sich in Édouard Manets Das Frühstück im Grünen von 1863,
dem in Thema und Stil vielleicht ersten echten Gemälde der Moderne. Manets Bild offenbart
in seiner zugleich schönen und schockierenden Darstellung ein für die Moderne zentrales
Thema: die komplexe Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Fantasie und
Wirklichkeit … Neben seinem verblüffend modernen Thema weist das Gemälde auch
faszinierend moderne Stilmerkmale auf. Mehrere Jahrzehnte, bevor Cézanne begann, drei
Dimensionen zu zweien zu verschmelzen, erweckte Manet hier bereits einen Eindruck von
Flächenhaftigkeit, weil er seinem Bild nur wenig Tiefe … verlieh.“ (Kandel, 2014, S. 32)
Schiele „demonstriert, dass es für einen wahren Maler zwischen Mensch und Sache keinen
Unterschied gibt. Beide Sujets behandelt er mit einer Liebe und Genauigkeit, für die man in
der Kunstgeschichte kaum Beispiele findet.“ (Hofmann, 1987, Seite 36).
„Schiele war die latente Bedeutung verzerrter Gesichts- und Körpermerkmale völlig klar. Die
Porträts, die er von seinem eigenen Körper anfertigte, weisen extreme anatomische
Verfremdungen auf, die sich oft in aggressiv wirkenden spitzen Knochenhöckern und eckigen
Konturen zeigen“ (Kandel, 2014, S. 442).
Über Gerstl: „Es ist die erste Selbstdarstellung eines österreichischen Malers, die ihrem
Wesen zufolge als ganz und gar ‚expressionistisch‘ bezeichnet werden kann. Ein Bild wie ein
Fanal. Breit angetragene, spontan gesetzte Pinselzüge beschreiben und akzentuieren den
mageren Körper, während die mehr auf Einzelheiten eingehende Physiognomie mehr als nur
ahnen lässt, was Gerstl empfand, als ihn die geliebte Frau verlassen hatte.“ (Breicha, 1991,
S. 13)
„Wie andere moderne Künstler, die sich mit der Erfindung der Fotografie konfrontiert sahen,
suchte Klimt neuere Wahrheiten, die sich nicht von der Kamera einfangen ließen. Er und
insbesondere seine jüngeren Protegés Oskar Kokoschka und Egon Schiele wandten den Blick
nach innen – fort von der dreidimensionalen Außenwelt, hin zum multidimensionalen inneren
Selbst und zum Unbewussten“ (Kandel 2014, S. 22).
„Künstler wie Oskar Kokoschka und Egon Schiele schufen Werke, die die absolute Ausrichtung
der Ästheten auf Schönheit in Zweifel zog. Die klassische Verbindung von Schönheit und
Wahrheit wurde implizit aufgegeben, ja die Wiener Avantgarde nach Klimt schien Wahrheit
mehr und mehr mit Hässlichkeit zu verbinden – im Glauben, dass die wahrhaftigsten Bilder
diejenigen seien, die die abgebildeten Personen nackt, krank, schmerzvoll entblößt, wütend
und deformiert zeigten“ (Simpson 2010, S. 1).
„Soll in der Kunst keine Erkenntnis liegen? Liegt nicht in der Erfahrung der Kunst ein Anspruch
auf Wahrheit, der von dem der Wissenschaft … verschieden, aber … ihm nicht unterlegen
ist?“ Gadamer nennt „die Erfahrung der Kunst eine Erkenntnisweise eigener Art …,
verschieden … von aller begrifflichen Erkenntnis, aber doch Erkenntnis, das heißt Vermittlung
von Wahrheit“ (Gadamer 1960, S. 93).
„Gerade der mit den Mitteln der abstrakten Kunst in unserem Jahrhundert formulierte
klassizistische Anspruch, dass die Forderung nach Schönheit einen sozialrevolutionären
Anspruch repräsentiert, setzte diese Kunst wütender Verfolgung aus.“ (Bazon Brock, 1986, S.
115).
-
Schönheit ist ein mehrdeutiger Begriff; er kann sich beziehen auf das Sujet, auf die
Art der technischen Herstellung, auf die zugrunde liegende Idee eines Kunstwerks
oder auf die Erfahrung des Betrachters.
-
Wir müssen akzeptieren, dass der Sinn des Menschen für Schönheit zum Teil
angeboren ist.
-
Wir müssen üben, doppelt hinzusehen, zum einen bewundernd und mit Genuss, zum
anderen nachdenklich und skeptisch: Haben wir es mit oberflächlicher Schönheit zu
tun oder gar mit Kitsch? Oder stehen wir vor einem Kunstwerk, das uns Einblicke in
die menschliche Natur bietet, das unser tieferes Verständnis herausfordert?
-
Auch der Schönheitsbegriff unterliegt dem Wandel.
-
Kunst, die über das Dekorative hinausgeht, enthält immer auch Aussagen über die
Zeit und die gesellschaftlich-politische Situation, in der sie entstanden ist. Daher ist
die Frage nach der Wahrheit eines Kunstwerks für unser Verständnis unabdingbar.
-
Kunst ist kein Konsumgut, sondern mit den Worten des Kunsthistorikers Ernst
Gombrich: „Kunst ist eine Institution, der wir uns immer dann zuwenden, wenn wir
uns schockieren lassen wollen. Dieses Bedürfnis empfinden wir, weil wir spüren, dass
ein gelegentlicher heilsamer Schock uns guttut. Sonst würden wir allzu leicht in einen
Trott geraten und neuen Herausforderungen, die das Leben uns stellt, nicht mehr
gewachsen sein. Die Kunst hat also, anders gesagt, die biologische Funktion einer
Probe, eines Trainings in mentaler Gymnastik, das uns hilft, mit dem Unerwarteten
umzugehen“ (Gombrich 1987, S. 211, zitiert nach Kandel 2012, S. 33).
-
Und schließlich – mit den Worten von Gadamer: In der Erfahrung von Kunst liegt ein
Anspruch auf Erkenntnis, das heißt auf Vermittlung von Wahrheit.
Literatur
Breicha, Otto (1991): Richard Gerstl. Bilder zur Person. Salzburg (Verlag Galerie Welz).
Brock, Bazon (1986): Die Forderung nach Schönheit ist revolutionär. In: art Heft 12, S. 114 – 115.
Gadamer, Hans-Georg (1960): Wahrheit und Methode. Tübingen 1960.
Hauskeller, Michael (2013): Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. 10. Aufl.
München (Beck).
Hofmann, Werner (1987): Egon Schiele: Alles ist lebend tot. In: art Nr. 10, S. Z8 – 50.
Rombold, Günter (1985): Die Wahrheit der Kunst. In: Kunst und Kirche. Ökumenische Zeitschrift für
Architektur und Kunst. Heft 2, S. 79 – 84.