Zweiter Advent 04122016

Gedanken zum SonntagsEvangelium
Zweiter Advent (LJ A)
Biblische Texte:
4. Dezember 2016
Jes 11,1-10
Röm 15,4-9
Mt 3,1-12
Sehnsucht nach der „(ge)heil(t)en“ Welt
Ein kleines Dorf in den 60er Jahren: Matthias Jänicke, ein nicht mehr ganz
junger Lehrer tritt seine erste Stelle an. Das gemächliche Landleben gefällt ihm.
Die Idylle der Landschaft und der scheinbaren Dorfharmonie lassen ihn eine
Zeitlang an eine heile Welt glauben. Doch der schöne Schein trügt. Schon bald
muss er erkennen, dass fast jeder Dorfbewohner etwas zu verbergen hat.
Missgunst, Neid, Intrigen, Geschwätz und kleine Skandale sind an der
Tagesordnung. Aber man hat gelernt, sie vor dem Fremden sorgfältig zu
verbergen. Der „Neue“ im Dorfsystem bleibt außen vor. Vielleicht besser so. So
bewahrt er ein Stück seiner „heilen Welt.“ - „Heile Welt“ - so heisst der Roman
von Walter Kempowski, der im Jahr 2007 verstarb. Er gehörte zu den
bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit.
„Heile Welt“ - dieser Roman und dieser Begriff waren plötzlich da, als ich die
Lesung des Propheten Jesaja las. „Heile Welt“ - wie schön wäre es doch, wenn
wirklich der Wolf beim Lamm läge, der Panther beim Böcklein, Kalb und Löwe
zusammen auf der Weide grasen und ein Kleinkind sie hüten kann. Wie schön
wäre es doch, wenn es wahr wäre: Dass das Kind seine Hand in das Schlupfloch
der Natter steckt, in die Höhle der Schlange. Und nichts passiert… „Man tut
nichts Böses mehr“, sagt Jesaja, „und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen
heiligen Berg.“
Der heutige Text aus dem Alten Testament ist eine späte Einfügung in die
Prophetenrolle des Jesaja. Erst nach dem Exil in Babylon, nach der Rückkehr in
die Heimat, fügt man ihn ein. Wohl deshalb, weil man die Erfahrungen mit der
eigenen politischen Macht vor Augen hatte. Es waren schlechte Erfahrungen,
schlechte politische Führer. Man bekam das zerstörte Land einfach nicht mehr
in den Griff. Der Wiederaufbau wollte und wollte nicht wirklich gelingen. Kein
Wunder also, dass man sich fast nach paradiesischen Zeiten sehnte. Ein „Führer“
müsse doch wieder her! Einer, der sagt, wo es lang geht! - Ein „Führer“ - ein
Messias.
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Unsere beiden Völker, Österreich und Deutschland, haben schon einmal laut
nach diesem „Führer“ geschrieen. Und wir haben mehr als nur eine
Bruchlandung damit erlebt. In den USA hat man einen neuen präsidialen
„Führer“ gewählt, von dem keiner so wirklich weiß, ob seine Führungsqualitäten
jenen entsprechen, die erforderlich wären für ein so großes komplexes Land. In
Syrien, in der Türkei, in Russland - wo wir auch hinschauen, die modernen
politischen „Führer“ versprechen viel Paradies und bringen viel mehr Krieg. Sie
wollen eine „heile Welt“ und schüren nur Unheil und Hass. Österreich wählt
heute seinen Präsidenten - ein repräsentatives Amt. Wen auch immer wir
wählen, wo auch immer politische Führer an die Macht kommen, stellt sich mir
die Frage, ob auf ihnen auch der Geist des Herrn liegt: Der Geist der Weisheit,
der Einsicht, des Rates, der Stärke, der Erkenntnis und … ja, auch der
Gottesfurcht… ?
Israel ist nach dem Exil von seinen politischen Führern enttäuscht. Deshalb setzt
es seine Hoffnung auf einen neuen König aus dem Geschlecht Davids. Er soll
sich für die Rettung der Armen einsetzen. Er soll der Garant sein für die
Unverdorbenheit der Politik und einer Neuordnung. Eine Vision, die in der Tat
paradiesische Züge trägt. „Er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die
Armen des Landes, wie es recht ist!“ - so beschreibt Jesaja seine
Führungskompetenz.
Der zweite Advent hat eine politische Botschaft. Die Politik einer anderen neuen
Welt. In mir wohnt diese Sehnsucht nach dieser neuen, dieser „heilen Welt“. Ich
möchte gerne weltweit im Frieden leben - doch Millionen Menschen sind auf
der Flucht, noch immer. Andere werden ihres Glaubens wegen verfolgt.
Krisengebiete sind Kriegsgebiete. Tote und Terror.
Der Ruf des Johannes „Kehrt um!“ ist zwar ein geistlicher Aufruf, aber er hat
politische Konsequenzen. Wo der Mensch seine Machenschaften aufgibt und
umkehrt, nicht weiter seinen Dreck unter den Teppich kehrt, da verändert sich
unsere Welt. Kehrt um! Wir möchten es den „Großen“ dieser Welt zurufen - wie
sie auch alle heißen. Doch was nützt es, wenn wir selbst nicht umkehren? Wenn
wir in unserer scheinbaren Idylle der vorgegaukelten heilen Welt so weiter
machen? Scharen von Menschen ließen sich taufen… Wären wir dabei? Würde
ich mich einreihen und damit eingestehen, dass auch ich umkehren muss? Wir
tragen die Sehnsucht in uns nach einer geheilten Welt. An Weihnachten kommt
sie Jahr für Jahr für einen kurzen Moment zum Vorschein…
Rainer M. Müller
Es gilt das gesprochene Wort
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