Wie meine Mutter mit einer Freundin aus der

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Eine Flucht, zwei Erinnerungen
Wie meine Mutter mit einer Freundin aus der DDR floh
Autorin: Jenny Hoch
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Tina Klopp, Barbara Schäfer
Produktion: DLF 2016
Erstsendung: Freitag, 09. Dezember 2016, 20.10 Uhr
Besetzungsbüro
Technik
Sprecherin Jenny: Winnie Böwe
Sprecher Zitat: Max von Pufendorf
Urheberrechtlicher Hinweis
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©
1
Jenny
Am 5. Oktober 2015 lese ich in der „Süddeutschen Zeitung“ eine Reportage über
eine Frau, die aus der DDR geflohen ist. Sie ist von Rumänien aus über die Donau
nach Jugoslawien geschwommen und hat sich dann weiter nach Österreich
durchgeschlagen. Genau wie meine Mutter!
Geräusch Zeitung
Dort steht:
Sprecher (Zitat)
„Weil Schwieriges oft leichter wird, wenn man es zu zweit anpackt, tat sich
Katharina mit einer anderen Studentin namens Eva zusammen, einer
Design-Studentin. Die hatte einen westdeutschen Freund, Knut aus
Erkelenz, der bereit war, den Schleuser zu machen. Und bald hatten sie
auch einen Plan.“
Jenny
Und bald hatten sie auch einen Plan….. Eva. Katharina. Das wusste ich nicht.
Niemand in meiner Familie wusste das. Meine Mutter hat mit uns nie darüber
gesprochen, dass sie 1969 nicht alleine aus der DDR geflüchtet ist, sondern
zusammen mit einer Freundin: Katrin Weinel. Die heute – so lese ich es in der
Zeitung – Katharina Bobzin heißt. Ich besorge mir den Kontakt zu der
Fluchtfreundin meiner Mutter. Heute kommt sie zu uns, in die Wohnung meiner
Mutter in München.
Atmo Wohnung meiner Eltern.
Atmo Geschirrgeklapper
O-Ton 01a Vorbereitungen Wiedersehen/Ankunft
Mama: So, jetzt haben wir’s gleich, jetzt muss ich nur noch den Kuchen
aufschneiden.
Jenny
Während wir den Kaffeetisch decken, kommt mir meine Mutter auf einmal fremd
vor. Trotz unserer Vertrautheit, trotz der vertrauten Umgebung.
2
Fortsetzung O-Ton 01a
Mama: Hm, der sieht gut aus.
Jenny: Bist du nervös?
Mama: Nö, warum sollte ich? Ich finde das jetzt spannend, aber ich bin nicht
nervös. Ich freu mich, nach so langer Zeit jemanden zu treffen, der in meinem
Leben ganz wichtig war.
Musik: Aphex Twin
Fortsetzung O-Ton 01b Wiedersehen/Ankunft
Atmo Türklingel, Schritte,
Mama (durch Gegensprechanlage): Hallo?
Katharina (leise von draußen): Hier ist Katrin.
Mama: Katrin, grüß dich, ich drücke auf und komme runter.
Atmo Schlüssel, Schritte Treppenhaus
Mama: Grüß dich!
Katharina: Hätten wir uns erkannt? Nein. (Lachen)
Mama: Doch, nach dem Foto in der Zeitung hätte ich dich erkannt.
Katharina: Kurios. Dass wir uns treffen, das ist der halbe Wahnsinn.
Mama: Nach, äm...
Katharina: Nach fast 45 Jahren. (Schritte Treppenhaus nach oben)
Ansage:
Eine Flucht, zwei Erinnerungen
Wie meine Mutter mit einer Freundin aus der DDR floh
Ein Feature von Jenny Hoch
Musik weg
3
O-Ton 02 Süddeutsche Zeitung/Überraschung
Mama: Ich sitze da nichtsahnend, mache die Seite 3 meiner Süddeutschen auf
und denke hä?, die Frau kommt mir irgendwie bekannt vor. Jetzt frierts mich
richtig. Ja, und dann habe ich meine, unsere, Geschichte gelesen und gedacht,
Wahnsinn, ich sitze hier... Und habe wirklich zwei Tage habe ich davon geträumt,
da kam das alles wieder hoch. Was ja auf dem Grund gelandet war.
O-Ton 05a Treffen
Katharina: Ich muss dich eigentlich erst mal fragen, woran erinnerst du dich, wie
haben wir uns in Berlin wiedergetroffen?
Mama: Das weiß ich nicht, ich habe keine Ahnung mehr.
Katharina: Hast du keine Ahnung mehr?
Mama: Also, wir haben zusammen die Lehre gemacht... und ich musste dann
noch ein Jahr in dieser Firma arbeiten, weil ich meinen Studienplatz nicht bekam.
Jenny
Ich erfahre, dass meine Mutter und Katharina sich 1965 bei ihrer Ausbildung zur
Industrieschneiderin bei dem VEB Vestis in Leipzig kennen lernten. Beide durften
zunächst nicht studieren, auch, weil sie aus Akademikerfamilien stammten. Der
Volkseigene Betrieb stellte Kleidung her, die zum Teil für den Export nach
Russland, aber auch nach Westdeutschland bestimmt war.
Fortsetzung O-Ton 05 b Treffen
Katharina: Kann das sein, dass da irgendeine Party? Also ich erinnere mich,
dass... oder ich erinnere mich nicht, vielleicht Fasching 1969?
Mama: Das ist alles möglich.
Musik: Sidsel Endresen
O-Ton 10 Zuspiel „Erinnerungs-Kollage“
Alzheimer schlägt schon zu, ich kann mich nicht erinnern.
Komischerweise habe ich das verdrängt (Flucht 1 Mama, 13.34)
Das ist mir in sehr starker Erinnerung. 19.09
Ich kann mich nicht erinnern (Treffen, Flucht 5 36.03)
Woran erinnerst du dich? 19.29
4
Erinnerst du dich? 58.05
Ich kann mich leider nur zu gut erinnern. 1.5.58
Woran erinnerst du dich da noch? 2.22.34
Das hatte ich total vergessen.17.42
Auf Musik:
Sprecher (Zitat)
„Das Vergessen ist ein integraler Teil des Erinnerns; erinnern können wir
uns nur, weil wir auch vergessen können und es vorgängig und absichtslos
schon immer tun. Dieses Verblassen und Verlieren von Erfahrungen und
Erinnerungen ist Teil der alltäglichen Normalität. Das Gedächtnis ist ja kein
exakter Speicher, sondern ein dynamisches Organ der Anpassung an eine
sich wandelnde Gegenwart und kann sich so auf immer Neues einstellen.“
Aleida Assmann: „Der lange Schatten der Vergangenheit“.
Jenny
Wenn ich danach gefragt wurde, woher meine Mutter stammt, habe ich immer ein
wenig stolz geantwortet: Sie ist aus der DDR geflohen. Aber was bedeutet das
eigentlich?
O-Ton 06 Maulwurfsarbeit
Mama: Das entstand alles zufällig so wie Maulwurfsarbeit im Dunkeln und ohne
Zuschauer vonstatten geht, so kam man sich vor. Man hatte mal irgendwelche
Bemerkungen aufgeschnappt oder selbst getan. Aber niemals gesagt, also ich
plane das und das und brauche die und die Information. So wie heute, wo man im
Internet alles Mögliche recherchiert, das war ja weiß Gott nicht, man hatte ja nicht
mal ein Telefon. Wenn man überhaupt schon mal über so etwas gesprochen hat,
dann war das im aller-allerengsten Freundeskreis. Ach, und man war sich ja auch
nicht so sicher...
O-Ton 07 Codes
Katharina: Man hat einen siebten Sinn und es gibt auch so Codes. Wenn ich
irgendwas einwerfe, wie reagiert der andere?
5
Akzent Musik Aphex Twin
Jenny
Als ich erfahre, dass Katharinas Tochter ebenfalls in München wohnt, fahre ich zu
ihr. Ob sie mehr über die Vergangenheit ihrer Mutter weiß, als ich bisher über die
Vergangenheit meiner Mutter wusste?
O-Ton 03 Kein Kontakt
Ulrike: Ich fands immer ein bisschen komisch, dass die keinen Kontakt hatten, weil
ich immer dachte, wenn man so was zusammen gemacht hat, dass man dann
vielleicht doch ne Verbindung hat.
Jenny
Ulrike Bobzin ist 34, sechs Jahre jünger als ich. Sie hat eine Tochter.
O-Ton 08 Mutige Mutter
Ulrike: Als jüngeres Kind war das für mich eine Art von Abenteuer, und es war
normal, dass eine Mutter so mutig ist und da rüberschwimmt. Je älter ich wurde,
desto mehr wurde mir auch klar, dass die da quasi unter Einsatz ihres Lebens
rübergeschwommen ist. Das wurde mir auch erst mit jenseits der Zwanzig klar.
Jenny
Die DDR als Abenteuer. Kommt mir bekannt vor.
Ich frage mich: Was muss passieren, damit ein Mensch flieht. Sein Leben, seine
Lieben einfach hinter sich lässt? Und was hat das alles mit mir zu tun?
Erinnerungs-Einschub 1
Motiv Wasser
Musik: Pan Ambient
Jenny
Ich bin 5 Jahre alt und gehe mit meiner Großmutter im Englischen Garten in
München spazieren. Martha Görner. Sie durfte aus der DDR ausreisen, nachdem
sie in Rente gegangen war.
6
….Fortsetzung Jenny
Wir spielen unser „Flüsse-Spiel“, und das geht so: „Omi, wenn ich hier ein Blatt
reinwerfe, wo schwimmt das hin?“ „Es schwimmt in den großen Kanal.“ „Und
dann?“ „Dann schwimmt es weiter in die Isar.“ „Und dann?“ „Dann, mein liebes
Kind, schwimmt das Blatt in die lange, lange Donau.“ „Wie lang ist die Donau,
Omi?“ „Die ist sooo lang, die fließt durch Österreich, Ungarn, Jugoslawien, an
Bulgarien vorbei und durch Rumänien bis ins Meer.“ „Wie heißt das Meer?“
„Schwarzes Meer.“ „Wie lange dauert das? 53 Stunden?“ „Viele, viele Tage und
viele Wochen.“ „Kann ich auch so ein Blatt sein, Omi?“
Musik weg - Geschirrklappern
Fortsetzung O-Ton 09b
Mama: Wir haben uns kennengelernt als ich eine Studentengruppe betreute. Da
sind wir tanzen gegangen irgendwohin. Und da habe mich mit dem getanzt und
fand den ganz witzig. Und dann haben wir uns wiedergetroffen und da merkte ich
erst so peu a peu, dass der aus dem Westen kam.
Katharina: das der aus dem Westen kam...
Mama: Dass der abends immer wieder rüber musste nach Westberlin.
Katharina: Dann hatte der das Auto praktisch zu Hause angemeldet?
Mama: Ja.
Katrin: Ich weiß noch genau, der hatte das ‚Erk’, und ich hatte Erkelenz noch nie
gehört, deswegen habe ich mir das auch gemerkt.
Mama: Siehste, ich hab nur das Gelb gesehen von dem Auto und dachte, das ist
aber ein irres Auto. Ein Kharman Ghia.
Katharina: Nein, es war doch ein anderes. War das...
Mama: Na, das weiß ich nun zufällig genau.
Katharina: War das nicht ein Alfa Romeo?
Mama: Ach Gott, ja! Ein Alfa Romeo. Stimmt.
Katharina: Der hatte doch so eine tolle Hupe, kannst du dich an die Hupe
erinnern? Nein? Die hat ja bei der Flucht so eine Rolle gespielt.
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Jenny
Meine Mutter studierte Modegestaltung an der Kunsthochschule BerlinWeißensee. Das Auto von Knut, ihrem Freund und späteren Fluchthelfer, fiel auch
der Stasi auf.
Papier wird entknüllt….
Sprecher (Zitat)
„Die operative Zersetzung – im folgendenden Z genannt - ist eine operative
Methode des MfS zur wirksamen Bekämpfung subversiver Tätigkeit,
insbesondere in der Vorgangsbearbeitung. Mit der Z. wird durch
verschiedene politisch-operative Aktivitäten Einfluß auf feindlich-negative
Personen, insbesondere auf ihre feindlich-negativen Einstellungen und
Überzeugungen in der Weise genommen, daß diese erschüttert und
allmählich verändert werden bzw. Widersprüche sowie Differenzen
zwischen feindlich-negativen Kräften hervorgerufen, ausgenutzt oder
verstärkt werden.
Ziel der Z. ist die Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung
feindlich-negativer Kräfte.“ Aus dem „Wörterbuch zur politisch-operativen
Arbeit“ des Ministeriums für Staatssicherheit von 1981.
Papier wird zerknüllt und weggeworfen….
O-Ton 09a Warum Flucht
Mama: Ich wäre überhaupt nicht weggegangen, wenn die mich nicht so, mir das
Messer an die Kehle gesetzt hätten. Ich hasse das, wenn ich Dinge tun soll, die
ich nicht tun will. Ich fühlte mich richtig in die Enge getrieben.
Fortsetzung O-Ton 09c
Mama: Und da sind sie mir auf den Pelz gerückt. Da wurde ich einbestellt, und der
Prorektor, er hieß Bauch, Eberhard Bauch, der hat mir gesagt: Also, Fräulein
Görner, so geht das nicht. Sie sind hier im sozialistischen Dingsbums, studieren
hier auf unsere Kosten und überhaupt. Und Sie trennen sich von dem Mann,
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andernfalls gehen Sie in die Produktion. Haben sie mir angedroht, dass ich fliege.
Da war ich vollkommen entsetzt.
O-Ton 09d
Katharina: Wie sie uns damals kujoniert haben. Diese DDR, dieser totalitäre Staat.
Das war politischer Missbrauch. Man lag wehrlos da, mit ausgebreiteten Armen,
und die konnten mit einem quasi alles machen.
Mama: Einer, der hier im so genannten Westen aufgewachsen ist, der sagt, das
hätte ich doch so oder so gemacht. Die geben einem dann noch gute Ratschläge,
weil sie sich gar nicht vorstellen können...
Katharina: Wenn ich davon erzähle, kommen bei mir die Tränen. Die gehen aber
wieder. Mein ältester Bruder ist 68 verurteilt worden...
Mama: Das wusste ich eben auch nicht.
Katharina: Das habe ich auch sicher nicht erzählt. Und ich habe diesen Prozess,
miterlebt. Und als er dann gestorben ist, eben wirklich ziemlich früh (weint) da kam
irgendwie alles... da kam alles zum Vorschein.
Mama (redet rein): Ja, das nimmt einen auch so mit, das ist doch ganz klar. Man
konnte es nur erdulden und erleben.
Katharina (zittrige Stimme): Man musste auch noch die Klappe halten und
Schweigen. Im Oktober 68 wurde ich ja dann vorgeladen vor das höchste
Parteigremium in dem Institutsverbund.
Jenny
Der Arabistik-Studentin Katrin Weinel wurde vorgeworfen, sich in der evangelischkatholischen Hochschulgemeinde engagiert und bei Studentenversammlungen
„freche Fragen“ gestellt zu haben.
Fortsetzung O-Ton 09e
Katharina: Zu mir haben sie dann den Satz gesagt: Wenn Sie so weitermachen,
sind Sie es nicht mehr würdig, an einer sozialistischen Hochschule zu studieren.
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Musik: Michelle Ngeocello
O-Ton 10 Zuspiel „Erinnerungs-Kollage“ - kürzer (gebaut aus Zitaten mit
Musik/Sound)
Gestaltet aus O-Ton-Sätzen wie:
Ich kann mich leider nur zu gut erinnern. 1.5.58
Woran erinnerst du dich da noch? 2.22.34
Jetzt fällt es mir wieder ein
Komischerweise habe ich das verdrängt (Flucht 1 Mama, 13.34)
Das weiß ich nicht mehr
O-Ton 23a Stasi-Bespitzelung
Gudrun: Ich bin vor einigen Jahren nach Berlin gefahren und hatte den Antrag
gestellt, meine Stasiakte einzusehen. Und dann kam eine Frau und fuhr wie einen
Teewagen, ein Gefährt, und auf diesem waren, ich glaube, zwei Meter Akten. Und
da habe ich die noch gefragt: Betrifft mich das? Und da sagt sie ja, das ist alles
Ruschitzka. Und jetzt sitze ich hier in Berlin, und morgen wollen wir nach
Hohenschönhausen fahren, an den Ort, wo ich damals gearbeitet habe, wo sie
mich nach Rumänien eingeliefert haben.
Jenny
Die Stasi beobachtete nicht nur meine Mutter und Katharina, sondern auch deren
Familien. Zum Beispiel meine Tante Gudrun Ruschitzka.
Fortsetzung O-Ton 23b
Was die über mich geschrieben haben, was die rausfinden wollten. Die waren in
meiner Wohnung, was ich nie mitbekommen habe. Die haben die Nachbarn
befragt, meine Arbeitsstelle befragt, es war ungeheuerlich.
(Liest, rascheln) ‚Es gab Verdachtsmomente, wonach sie Wirtschaftsspionage im
Auftrag des französischen Geheimdienstes durchgeführt haben konnte.’ Also ich,
Kinderbibliothekarin, soll für die französische Wirtschaft spioniert haben. Wenn es
nicht so traurig wäre, man könnte eigentlich lachen.
10
Jenny
Meine Tante arbeitete damals in der Kinderbibliothek am Hackeschen Markt in
Ost-Berlin.
Fortsetzung O-Ton 23c
Manchmal war es sehr ruhig, ehe die Kinder kamen, und dann saß ich an meinem
Schreibtisch und guckte raus auf die große Standuhr Normaluhr, und hab gedacht:
Tja, so verrinnt hier mein Leben. Ich war auch manchmal so verzweifelt und hab
überlegt, ich kann doch nicht immer nur hier sitzen und diese Ausleihe machen.
Ich fahr nach Hause, ich war geschieden, rumpel mit der Straßenbahn in die
Wohnung. Im Winter, es war kalt, die Kohlen aus dem Keller holen. Dann hatte ich
keine Lust, da bin ich manchmal schon gleich ins Bett gegangen.
Musik Akzent: Aphex Twin
O-Ton 11a Wohnen
Katharina: Wo hast denn du gewohnt?
Mama: Absurd. Die Hochschule hatte ein altes Haus aufgetan, ganz in der Nähe,
das war eigentlich schon aufgegeben. Dann haben die die Zimmer hergerichtet,
das bedeutete, die haben einen Ofen reingesetzt.
Fortsetzung O-Ton 11b
Mama: Die Rohre brachen in diesem Haus, die Scheiße lief über die Kohlen und
die Kohlen haben wir dann verbrannt.
Fortsetzung O-Ton 11c
Katharina: Kennst du noch den DDR-Schlager? Im Keller ist ein Rohr geplatzt,
Rohr geplatzt/Die Scheiße steht im ersten Stock. (lacht) Und dann geht es: Die
Scheiße steht im zweiten Stock, die Scheiße steht im dritten Stock...
Jenny:
Die Fluchtroute: Von Ostberlin mit dem Flugzeug nach Budapest. Dann mit dem
Zug weiter nach Rumänien. Dort wollten die beiden illegal die Grenze zu
11
Jugoslawien überqueren. Weil DDR-Bürger aber gar nicht nach Rumänien reisen
durften, besorgten die beiden sich offiziell ein Visum für Bulgarien.
O-Ton 12 Fluchtstationen
Katharina: Wir waren auf Transit, Rumänien ist ja vor Bulgarien.
Mama: Das ist so interessant, dass ich das verdrängt habe.
Katharina: Wir sind mit dem Zug gefahren definitiv, und dann haben wir uns im
Hotel Viktoria in Bukarest..., das war der Treffpunkt in Bukarest.
Mama: Ah ja, an das Hotel kann ich mich erinnern. Weißt du, weshalb?
Katharina: Erzähl mal.
Mama: Da roch es dermaßen nach Mottenkugeln. Das war furchtbar. Es war alles
weiß eingedeckt, in dem Speisesaal saß kaum jemand, außer uns. Es gab eine
riesen Speisekarte mit tausend Gerichten, tolle Sachen. Ich hab das studiert,
dachte woho, aber das gabs alles gar nicht. Das war versunkene Pracht, aber es
roch betäubend nach diesen Motten, ich hasse diesen Geruch seitdem. (lachen)
O-Ton 13 DDR-Geruch
Katharina: Es gab ja schon den speziellen DDR-Geruch, Gestank, den man zuerst
wahrgenommen hat. Jeder West-Besucher hat gesagt, bei euch stinkts. Und
umgekehrt, der schöne Westpaketgeruch, den habe ich auch noch in der Nase.
Kaffee und Apfelsinen, wenn sich das durchmischt, hmmm. Und irgendeine
schöne Seife.
Jenny
Der „Proust-Effekt“. Benannt nach dem französischen Schriftsteller Marcel Proust.
Der schilderte in seinem berühmten Roman „Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit“ einen seltsamen Vorgang:
Musik: Kalle Kalima
Just in dem Moment als seine Hauptfigur den Duft einer in Tee getränkten
Madeleine wahrnimmt, tauchen verloren geglaubte Kindheitserinnerungen wieder
auf.
auf Musik: Kalima
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Erinnerungs-Einschub 2
Atmo Freibad
Jenny
Ich bin acht Jahre alt und wir sind zu Besuch bei meinem Onkel und meiner Tante
in Leipzig. Sie wohnen in einer, so kommt es mir vor, riesigen alten Villa. Drinnen
riecht es irgendwie modrig, draußen brennt die Sonne auf die rissigen Gehwege.
Wir gehen ins Freibad. Ich trage meinen Lieblings-Badeanzug, auf den Kirschen
gedruckt sind, die wie echt aussehen. Ich stehe am Beckenrand als ein größerer
Junge auf mich zukommt. Er trägt eine orangefarbene Badehose aus Frottee und
sagt: „Du kommst aus dem Westen, stimmts?“. Ich weiß nicht genau, was er
meint. Wir rennen über die Wiese. Später sagt meine Mutter: „Hast du seine
langen, schwarzen Fingernägel gesehen? Typisch Osten.“
Atmo : Nixon in Rumänien
Jenny
Rumänien strebte Ende der 1960er Jahre an, seine Beziehungen zu den USA zu
entspannen. Ein wichtiger Augenblick dieser Auftauphase im Kalten Krieg war der
Besuch des damaligen amerikanischen Präsidenten Richard Nixon am 2. und 3.
August 1969.
Nixon wurde unter großen Sicherheitsvorkehrungen und mit Begeisterung der
Bevölkerung in Bukarest empfangen.
O-Ton 14a Aufregung in Bukarest
Katharina: Das war eine furchtbare Aufregung. Der Knut kam ohne Auto und
alleine. Der durfte gar nicht reinfahren.
Jenny
Ziemlich kuriose Vorstellung: Das Weltgeschehen kommt den Fluchtplänen zweier
23-Jähriger Studentinnen aus Leipzig beziehungsweise Jena in die Quere.
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Fortsetzung O-Ton 14c
Mama: Und da haben wir noch rumgesponnen, wenn da jetzt gerade das
Flugzeug neben uns gelandet wäre, da wären wir einfach rübergegangen zu dem
anderen Flugzeug und hätten gesagt: Nehmt uns mit! Hilfe! Hilfe!
O-Ton 15a Pässe
Katharina: Erinnerst du dich irgendwie an einen Pass?
Mama: Was war mit dem Pass?
Musik: Pan Ambient
Sprecher (Zitat)
„Das Gedächtnis (...) ist kein statischer Behälter, in dem Erfahrungen
unverändert konserviert werden. Persönliches Erinnern ist ein dynamischer
Prozess, in dem man sich von den Bedingungen und Bedürfnissen der
Gegenwart aus immer wieder anders auf die Vergangenheit einlässt und
dabei gerade so viel von ihr zulässt, wie man gebrauchen oder ertragen
kann.“ Aleida Assmann
Fortsetzung O-Ton 15b
Katharina (lacht unsicher): Ja, ich weiß eben nicht, ob du das wusstest oder nichts
wusstest.
Musik weg
Fortsetzung O-Ton 15c
Katharina: Also das war so: Mit zwei amerikanischen Studenten...die waren zu
dritt in dem Auto, und die hatten einen falschen Pass für dich. Vor Angst, dass sie
richtig gefilzt würden an dieser Kontrolle, haben die den Pass verbrannt. Den
falschen Pass.
Mama: Wie dumm ist das denn?
Jenny:
Mama? Wollte sie wirklich ihre Freundin im Stich lassen?
14
Fortsetzung O-Ton 30c
Katharina: Das war meine Rettung!
Mama: Da wäre ich weg gewesen.
Katharina: Genau. Ihr hättet mich sitzen lassen. Aber knallhart. Und ich weiß eben
nicht, ob du das gewusst hast.
Fortsetzung O-Ton 30d
Katharina: Jedenfalls war das für mich ein dunkler Punkt, da war ich ganz schön
geschockt.
Mama: Wir können dich doch da nicht stehen lassen. Das geht ja gegen meine
ganzen Prinzipien.
Katharina: Ich habe, verzeih mir, irgendwie vermutet, dass du das gewusst hast.
Aber ich tue innerlich Abbitte.
Musik Akzent: Aphex Twin
Dann Atmo Foyer Stasi Unterlagenbehörde
Sprecher (Zitat)
Jeder Mensch hat das Recht, jene Unterlagen einzusehen, die das
Ministerium für Staatssicherheit über die eigene Person angelegt hat. Mehr
als anderthalb Millionen Menschen haben seit 1992 von dieser Möglichkeit
Gebrauch gemacht.
Webseite des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik.
Jenny
Ich habe als Journalistin einen Antrag auf Einsicht in die Stasiakten von meiner
Mutter und von Katharina Bobzin gestellt. Mal sehen, ob ich dort etwas
herausbekomme, was ich noch nicht weiß.
Atmo Foyer A01
15
Jenny
Niemand will von mir fürs Radio aufgenommen werden. Die Pförtnerin nicht und
die Mitarbeiterin, die die Unterlagen vorbereitet hat, auch nicht. Scheint ein
verschwiegener Laden zu sein.
Atmo Gang A02
Jenny
Ich werde in einen „Vorbereitungsraum“ geführt. Das Mikrofon muss ich
ausschalten. Mir wird erklärt, dass in den Akten alles, was nicht unmittelbar meine
Mutter oder Katharina Bobzin betrifft, geschwärzt wurde. Ziemlich viele Seiten, die
ich anscheinend auch nicht lesen darf, wurden mit gelbem Karton abgetrennt.
Atmo Lesesaal
O-Ton 16a Stasi-Unterlagenbehörde
Jenny (flüsternd): Eins, zwei, drei, viermal Bobzin, einmal Hoch. Fangen wir mit
Hoch an... (Aktenrascheln)
Jenny (über Atmo)
Ich bin enttäuscht, weil ich kaum etwas lesen darf. Für die StasiUnterlagenbehörde bin ich als Tochter offensichtlich keine Betroffene. Da! Ein
vergilbter Zettel: ein „Suchauftrag“ nach meiner Mutter vom 31.3.75. Da war sie
schon seit sechs Jahren im Westen. Bestätigt wurde der Auftrag von einem
gewissen „Retter“ – in Anführungszeichen. Die Adresse darauf ist falsch. Da steht
Mollstr. Es muss aber heißen: Mottlstraße. Schlampig waren die Herren
Stasispitzel.
Fortsetzung O-Ton 16b
O-Ton Jenny (flüsternd): Das ist ja ein Ding. Ich möchte Ihnen mittteilen, dass ich
mein Studium an der Universität in Wien beenden werde. (Rascheln)
16
Jenny (über Atmo):
„Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich mein Studium an der Universität Wien
beenden werde. Ich möchte mich für alle Hilfe und Unterstützung (...) herzlich
bedanken, und ich bitte Sie, für meinen Entschluß, die DDR zu verlassen,
niemanden verantwortlich zu machen.“
Ich lese in einem Brief vom Oktober 69, den Katharina Bobzin alias Katrin Weinel
aus Hannover an ihre alte Universität nach Ostberlin schickte.
O-Ton Jenny Atmo
Hier steht: „Unsere inoffizielle Quelle berichtete zu der Republikflucht der W.
ergänzend noch folgendes: Die Kommilitonin (Name geschwärzt) erwähnte, dass
jetzt, wenn man das vergangene Jahr rückblickend unter dem Gesichtspunkt der
Flucht der W. betrachtet, ihr einige Dinge bzw. Veränderungen bei der Weinel
auffielen, die sie vorher nicht bemerkt hatte.“
Aha, sie wurde unpünktlich und machte keine Hausaufgaben mehr.
„...Außerdem legte die Weinel in der Vergangenheit keinen großen Wert auf ihre
Kleidung und ihr Äußeres, im letzten Jahr jedoch, trug sie nur noch Westkleidung.“
Atmo Lesesaal aus
Musik: Kalle Kalima
Vergessen – Collage (siehe oben)
Atmo Wohnzimmer , Geschirrklappern
O-Ton 17 Fluchtkleidung
Mama: Meine Sandalen, bilde ich mir ein, hatte ich angezogen.
Katharina: Ne, die haben wir im Plastikbeutel im Nacken gehabt.
Mama: Ah ja, ich bilde mir ein, ich habe sie noch, die Sandalen. Das waren ganz
feine Riemchensandalen, hellbraun-gelb, eher senffarben. Ganz kleiner Absatz,
ganz schöne Ledersohle. Ich hab die geliebt, diese Schuhe.
Katharina: Ich habe noch meine Fluchtjeans. Wir haben ja drauf geachtet, dass
kein DDR-Schildchen oder irgendwas...die Jeans waren aus dem Westen.
17
Jenny
Wie viele DDR-Bürger über Rumänien und Jugoslawien geflohen sind, ist
unbekannt. 1969 war das jedenfalls keine gängige Fluchtroute.
Ich suche auf Google Maps die rumänische Kleinstadt Turnu Severin in den
südlichen Karpaten. Sie liegt am linken Donauufer, unterhalb eines der
imposantesten Taldurchbrüche Europas, des so genannten Eisernen Tors. Von
dort wollen meine Mutter und Katharina durch die Donau schwimmen.
Fortsetzung O-Ton
Katharina: Ich hab solche Riemen besorgt und in Turno Severin haben wir noch
Schwimmringe gekauft. Und dann kam ja der erste riesen Schreck…
Jenny
In der Satelliten-Ansicht zoome ich mich ganz dicht heran. Jetzt kann ich alles
sehen: Das Örtchen, den gewundenen Lauf der Donau. Die Grenze zwischen
Rumänien und dem heutigen Serbien verläuft exakt in der Mitte des Flusses.
O-Ton 18a Ufer
Katharina:....Wir fuhren, wie wir auf dem Shell-Atlas gesehen hatten, schön die
Straße da nach und dann ging ne ganz schmale Straße weiter. Plötzlich kam da
ne Schranke und ein Schilderhaus. Erinnerst du dich daran jetzt wieder?
Mama: Vage.
Katharina: Da stand ein Soldat, und der schrie immer Paschaportul! Paschaportul!
Mama: Und was haben wir da gemacht?
Katharina: Der Knut hat seinen Pass rausgehalten.
Mama: Ah ja, so. Ich glaube, dass dieser Westpass uns gerettet hat.
Katharina: Mit Sicherheit. Wahrscheinlich die zwei jungen hübschen Mädchen und
der tolle Westwagen... Und dann hat er uns durchgelassen.... Der hätte uns
eigentlich zum nächsten Militärstützpunkt bringen müssen.
Jenny:
Katharina und meine Mutter verbrachten den Nachmittag versteckt im Gestrüpp
der abschüssigen Ufer-Böschung. Knut, der Alfa-Romeo-Freund meiner Mutter.
18
machte sich im Auto auf den Weg über die rumänisch-jugoslawische Grenze, um
die beiden auf der jugoslawischen Seite zu erwarten.
Fortsetzung O-Ton 18b
Katharina: Wir haben ziemlich viel gelacht, daran kann ich mich auch noch
erinnern. Aber mit Schrecken dazwischen. Da ging es wirklich so (haut zweimal
auf Tischplatte) im Gleichschritt. Das müssen zehn Grenzsoldaten...
Mama: Oben?
Katharina: Oben auf der Straße. Und ich hatte panische Angst, ich weiß noch, wie
ich dachte, wenn jetzt der Offizier da runterguckt mit dem Fernglas... ich hatte
einen braunen Nylonmantel von meiner Mutter, den haben wir uns dann über den
Kopf gezogen.
Musik: Humcrash
O-Ton 19 Schwimmen Mama
Mama: Ich hab gedacht, es ist erstaunlich warm, ich war froh, dass es nicht so kalt
war. Das Wasser war erstaunlich warm. Und es waren Sterne am Himmel, und ich
fand das einen ausgesprochen schönen Abend und bin ganz ruhig einfach da
rüber geschwommen. Brustschwimmen. Ich hab mich relativ wohl gefühlt.
Jenny
Meine Mutter und Katharina flüchteten im Sommer 1969. Zwischen 1949 und 1989
verließen circa 3,5 Millionen Menschen die DDR. Etwa eine halbe Million reiste
legal aus, etwa drei Millionen Menschen waren Flüchtlinge.
O-Ton 20 Schwimmen Katharina
Katharina: Auf der jugoslawischen Seite, die wenigen Lichter, in einer irren
Geschwindigkeit, zogen diese Lichter vorbei. Und ich hatte Angst, da war ja der
Staudamm im Bau, dass wir da womöglich noch in die Staumauer reingezogen
würden. Da denkt man nur: nächster Zug, nächster Zug, nächster Zug.
Musik: Pan Ambient
19
Erinnerungs-Einschub 3 Belgrad
Jenny
Ich bin Ende zwanzig und gerade fertig mit dem Studium. Ich habe noch keinen
Job, keine Kinder und nur vage Pläne, als ich nach Belgrad reise. Ich mache eine
Bootsfahrt auf der Donau. Am Ufer reihen sich die Hausboote der Belgrader
aneinander, Kinder springen kreischend ins Wasser. Die Sommerluft ist wie
Balsam, das dunkle Donauwasser sieht dickflüssig aus, Planktonpartikel glänzen
darin. Ich stecke einen Fuß hinein: Es ist warm. Ich denke daran, dass ich jetzt
schon älter bin als meine Mutter damals, als sie auf der Flucht die Donau
durchschwamm. Ich war noch nie auf der Flucht – außer vor mir selbst vielleicht.
Hat Wasser ein Gedächtnis? Was, wenn ich hineinspringe? Schwimmen dann
winzige Hautpartikel von mir die Donau hinab bis dorthin, wo sie ins Schwarze
Meer mündet? So, wie die Blätter, die ich als Kind auf die Reise geschickt habe?
So, wie die Hautpartikel meiner Mutter vor Jahrzehnten? Vielleicht sinkt dort alles
auf den Grund und bildet ein Sediment aus Erinnerungen.
Ich springe dann doch nicht ins Wasser. Die Fahrt geht weiter.
Atmo Flussfahrt aus.
Atmo Wohnzimmer, Geschirr
O-Ton 21a Tunnel
Mama: Kannst du dich an diesen Tunnel erinnern?
Katharina: Mhm.
Mama: Den habe ich in allerschrecklichster Erinnerung, weil es da noch dunkler
war. Das war grauenhaft.
Jenny
Nach einer guten Stunde auf der jugoslawischen Seite angekommen, krochen
meine Mutter und Katharina die modrige Uferböschung hinauf. In ihren
Badeanzügen gingen sie eine Asphaltstraße entlang, die in einen Tunnel
mündete.
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Fortsetzung O-Ton Tunnel 21b
Mama: Meine Knie haben maßlos gezittert. Ich habe richtig geschlottert. Es war
nicht nur die Kälte, ich hatte Angst. Dann kam entfernt ein Licht, und da habe ich
gesagt, es wird heller.
Katharina: Ich erinner mich genau, dass man so den Umriss, den Tunnelausgang,
den Bogen, gesehen hat.
Mama: Aber danach war eben ein Feuer. Kannst du dich daran erinnern? Ein
kleines Feuer auf der Straße und da lagen Männer und haben geschlafen und das
waren Bauarbeiter.
Katharina: Nicht Männer. Das war nur einer, Gott sei Dank.
Fortsetzung O-Ton Tunnel 21c
Mama: Nur einer? In meiner Vorstellung war da ein ganzer Haufen Männer, also
dreie habe ich getippt.
Katharina: Nein. Einer.
Mama: Und einer ist aufgestanden und zu uns gekommen, so habe ich das in
Erinnerung...
Katharina: So, jetzt erzähle ich mal die Version, die ich im Kopf habe. Plötzlich
hören wir so ein Schnarchgeräusch. Von Lichtschein haben wir noch nichts
gesehen. Es schnarchte. Irgendwie links. Da habe ich gesagt, wir müssen ganz
schnell zurück, bevor noch mehr kommen. Und als wir gerade zurückgehen
wollten, da erhob sich eben der Mann.
Fortsetzung O-Ton Tunnel 21d
Katharina: Da habe ich gesagt, gehen wir schnell auf ihn zu. Der war sehr nett.
Der hat uns dann noch ein Schaffell umzuhängen gegeben. Da haben wir uns
dann bissel gewärmt.
Jenny
Und Knut, der Fluchthelfer?
Fortsetzung O-Ton 21e
Katharina: Ein riesen Abenteuer.
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Mama: Ohgottohgott.
Fortsetzung O-Ton 21f
Katharina: Der kam nämlich auf der unteren Straße. Wir hörten diese auffällige
Hupe. Aber wir waren oben. Und sie wurde leider leiser. Und der fuhr vorbei, das
verlor sich in der Ferne, das Geräusch.
Mama: das ist ja dramatisch.
Katharina: Wir haben gedacht, wir finden uns nie wieder. Und irgendwann kam er
aber wieder zurück.
Fortsetzung O-Ton 21g
Katharina: Und die haben an der Donau geschossen. Es haben da auch viele
Rumänen versucht zu flüchten, sind da erschossen worden in der Donau. Man
schätzt auf 50 oder 100.
Jenny
Eine Grenze galt es noch zu überwinden, die zwischen Jugoslawien und
Österreich.
O-Ton 22a Grenze Jugoslawien-Österreich
Mama: Dann sind wir durch die Landschaft gefahren in Richtung Grenze nach
Österreich, und da war irgendwo ein Bäuerlein, das hatte ganz viele Melonen auf
seinem Anhänger und dann hat es uns eine geschenkt. Und das war schon so
was wie...Freiheit.
Jenny
Der Plan war, die Fahrer der so genannten Europabusse anzusprechen und zu
fragen, ob sie sich im Gepäckraum verstecken durften. Die wurden angeblich nie
kontrolliert. Die Fahrer weigerten sich aber alle.
Fortsetzung O-Ton 22b
Mama: Dann hatten wir ein zweites Mal großes Glück, dass es anfing zu regnen,
und wir hatten auf einem Parkplatz gehalten. Da waren zwei große Campingbusse
aus England mit englischen jungen Leute, so wie wir. Die haben wir gefragt, ob sie
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uns mitnehmen würden. Und die fanden das einen riesen Spaß und haben
gedacht, ey, wow, adventure.
Jenny:
Meine Mutter und Katharina stiegen jeweils auf eines der vollbepackten Dächer
der Busse und deckten sich mit Planen zu.
Fortsetzung O-Ton 22c
Mama: Und es hat gegossen, was das Zeug hält. Wir wurden nicht nass unter der
Plane, es trommelte nur auf uns, das hat auf mich einschläfernd gewirkt. Ich bin
tatsächlich eingeschlafen. Irgendwann entdeckte ich, dass ein Bein von mir
raushing, weil es nass wurde. Da habe ich gedacht, ups, das kann ich die Hose
gehen (lacht), aber es war so gemütlich.
Jenny
Den Grenzübergang Spielberg zwischen dem heutigen Slowenien und Österreich
kennt man heute aus Presseberichten über die Flüchtlingskrise. Im Sommer 2015
spielten sich dort dramatische Szenen ab.
Fortsetzung O-Ton 22d
Mama: Die haben unten die Pässe eingeholt und angeschaut, und da das so
geregnet hat, haben die nicht oben rumgestochert. Kurz danach hielten wir wieder
an, da haben sie uns rausgeholt, die Jungs, und haben gesagt: Ihr seid in
Österreich! Da haben wir beide auf diesem Dach einen Freudentanz aufgeführt.
Da haben wir geschrien, gejubelt und geheult. Ach, ja, das geht einem heute noch
nahe (zitternde Stimme), wir waren in der Freiheit.
Musik: Kalle Kalima
Fortsetzung O-Ton 23d
Da war ich dreieinhalb Monate in Rumänien, da gabs auch einen Prozess. Das
war in einem Saal, da gackerten die Hühner, da saßen Bäuerlein, die hatten ein
bissl Obst und Getreide da stehen, das war wie Markt und dazwischen wurde
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eben eine Gerichtsverhandlung gemacht. Da haben die mich für zehn Monate
verknackt.
Jenny
Meine Tante Gudrun Ruschitzka hatte weniger Glück als meine Mutter. Sie wurde
verhaftet, als sie 1972 versuchte, die Grenze zwischen Rumänien und
Jugoslawien illegal zu überqueren.
OTON 23d
Und in diesem Knast, das war also wirklich Mittelalter. Riesige Zellen, so 20
Frauen in einer Zelle, Tag und Nacht brannte das Licht, vorwiegend Kriminelle, die
Ratten liefen rum, es war grauenhaft. Wir haben so Essen bekommen, irgendwie
so Schweinefutter, Maisbrei, der auf so großen Blechen gebacken wurde.
Musik: Pan Ambient
Sprecher (Zitat)
„Die Gewaltasymmetrie zwischen uneingeschränkten Tätern und wehrlosen
Opfern setzt sich in einer Erinnerungsasymmetrie fort, weil die Täter sich
nach einer politischen Wende ins Vergessen retten, während die Opfer die
Erinnerung als ihr kostbarstes Gut hüten. Diese Asymmetrie kann nicht
durch gemeinsames Vergessen, sondern nur durch gemeinsames Erinnern
abgebaut werden. An Stelle von Vergessen als einer Form der
Vergangenheitsbewältigung muss unter diesen Umständen als einziger von
den Nachgeborenen noch zu leistender Ausgleich die gemeinsame
Erinnerung und Vergangenheitsbewahrung treten.“ Aleida Assmann.
Atmo: Autofahrt
Jenny
Zurück in der DDR wurde meine Tante erneut verurteilt. Sie kam ins StasiGefängnis Hohenschönhausen in Berlin-Weißensee. Heute ist das eine
Gedenkstätte. Wir sind auf dem Weg dorthin, um noch einmal den Ort zu sehen,
wo sie fast ein Jahr ihres Lebens zugebracht hat.
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O-Ton 24 Navi
Navi: Nach 80 Metern biegen Sie rechts ab.
Gudrun: Der Himmel passt dazu, dieses Dunkelgrau. (Kopfsteinpflaster rattert)
Navi: Nach 200 Metern, Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht.
Atmo Kassenhalle Gedenkstätte
O-Ton 25 Kasse
Es ist makaber, wenn du hier an der Führung teilnehmen willst, musst du Eintritt
bezahlen. Also für uns war das damals kostenlos.
Atmo Keller
(Schlüssel klappern, Tür aufschließen und öffnen)
O-Ton 26 a Gefangenenküche
Ach. Tatsächlich, ja, diese Heizungsrohre, die hab ich mein Lebtag nicht
vergessen. Und diese Küche. Hier war die Spülküche. Wahnsinn. Da war eine
Kriminelle, die hieß Elfriede, die hatte lebenslänglich. Und die hat immer
Bohnengulasch gekocht. Kann ich mich noch genau erinnern. Der hat wirklich gut
geschmeckt.
Jenny
Fast vierzig Jahre lang, von 1951 bis 1989 war das Untersuchungsgefängnis
Hohenschönhausen das wichtigste Stasi-Gefängnis. Die gesamte Umgebung war
Sperrgebiet und wurde auf Stadtplänen verschleiert dargestellt.
Musik: Humcrash
Fortsetzung O-Ton 26b
Das ich hier nochmal stehe, das ist schon ergreifend (seufzt, zittrige Stimme). Ich
sollte ja erst in,..., ich sollte ja erst in die Wäscherei, und da ich ja gelernte Köchin
bin, hat man dann doch überlegt, dass ich in der Küche etwas wertvoller bin.
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Jenny
Ich erfahre von meiner Tante, dass der Gefängnisalltag durch die Häftlinge selbst
am Laufen gehalten wurde.
Fortsetzung O-Ton 26c
Dadurch, dass wir hier gearbeitet haben, ging der Tag schneller rum. Wenn wir
Hofgang hatten, durften wir raus. Ich weiß jetzt gar nicht mehr, wie oft das war.
Einmal in der Woche vielleicht? Dann hatten wir einen Raum, da durften wir
fernsehen. Da mussten wir fernsehen, wenn Karl Eduard von Schnitzler, der
Sudel-Ede, wieder mal die Hetzparolen gegen Westdeutschland, gegen die
Imperialisten und Kapitalisten und so weiter. Ich war damals total frankophil, ich
habe ja wenn Mireille Mathieu oder irgendeinen Chanson...Wenn einer kam, dann
haben sie mich gerufen, Gudrun, komm, komm schnell, dann habe ich alles
stehen und liegen gelassen und habe mir die Musik angehört.
Musik: Kalle Kalima
Fortsetzung O-Ton 26d
Wir sind immer mal wieder abgeholt worden zur Vernehmung, in die oberen
Räume. Wo dann ein Oberstleutnant einen dann bei einer guten Tasse Kaffee
ausgefragt hat. Das Erste war immer der Kaffee, der sollte dich schon mal so
etwas milde stimmen, im vertraulichen Plauderton. Die Fragen und warum und mit
wem, ob ich den kenne und so weiter. Dieses systematische Ausfragen. Und ob
ich denn nicht Lust hätte, um das Ganze hier abzukürzen, dass ich für sie auch
mal ein paar Informationen... Nein, ich habe mich also nie als DDR-Spitzel hier
anwerben lassen, das war gar nicht im Bereich meiner Gedanken.
Musik weg
Jenny
„Liebe Gudrun!
Es geht immer irgendwie weiter... Dieser Satz aus Deinem Brief war mir das
Wichtigste, denn er läßt erkennen, daß du dich bemühst, den Kopf oben zu
behalten. Und das ist sehr viel Wert unter diesen Umständen. (...) Ja Gudrun, wie
lang ein Tag sein kann... Oft denke ich: Was wird Gudrun jetzt tun? Wo schlafen,
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wie den Tag verbringen, mit wem einmal sprechen können? (...)Ach Kind, so viele
Gedanken gehen einem durch den Kopf. Ich schiebe auch zunächst alle
Gedanken nach dem später beiseite. Gudrun, wir wollen alle tapfer sein, ja? Und
bedenke immer, daß du uns hast, Du bist nicht allein.“
Aus einem Brief, den meine Großmutter ihrer Tochter Gudrun – meiner Tante –
ins Gefängnis geschrieben hat.
Atmo: Draußen auf der Straße
Jenny:
Als wir aus dem Gefängniskeller nach draußen treten, bin ich froh, den Himmel
sehen zu können und die Vögel zwitschern zu hören.
O-Ton 27 Glück
Gudrun: An meine Mutti hab ich viel gedacht, an meine Schwester, an die hab ich
auch gedacht. Die hat so ein Glück. Die hatte überhaupt ein Glück im Leben. Dass
die das so problemlos da in Rumänien, Jugoslawien geschafft hat, und bei mir ist
alles schief gegangen, was nur schief gehen konnte. Das zieht sich auch so ein
bisschen wie ein roter Faden durch mein Leben.
Jenny:
Meine Tante hat keine Kinder und arbeitete, nachdem sie von der Bundesrepublik
aus der Haft in Hohenschönhausen freigekauft worden war,
lange bei einem Partyservice in München. Als Kind fand ich es großartig, wenn sie
spontan vorbeikam und ihr Auto bis unters Dach mit Leckereien beladen hatte –
sie liebte es, uns mit dem Essen zu überraschen, das bei ihren Party-Einsätzen
übrig geblieben war.
O-Ton 28 Flitterwochen
Gudrun: Als ich dann in München war, bei meiner Schwester im Haus, das war
erstmal doch wie eine Befreiung. Und es war doch eine ganz andere Welt. Meine
Schwester war jung verheiratet und ich war das Anhängsel. Ihre Hochzeitsreise
ging nach Griechenland, und ich war dabei.
Akzent: Apex Twin
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Atmo Wohnzimmer
O-Ton 30a Gießen
Katharina: In Gießen haben wir auf Wiedersehen gesagt.
Jenny
Meine Mutter und Katharina fanden im Notaufnahmelager in Gießen eine erste
Unterkunft, wie rund 900 000 Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR.
Fortsetzung O-Ton 30b Gießen
Katharina: Ich hatte mir jedenfalls in Gießen gedacht, das wars jetzt. Ich werde
von mir aus keine Anstrengungen unternehmen, den Kontakt zu halten.
Jenny
Vielleicht wegen der Sache mit dem verbrannten Pass, den Knut, der Fluchthelfer
besorgt hatte?
Fortsetzung O-Ton 30e
Mama: Das ist wieder typisch, dass der sich so was ausgedacht hat. Er hatte so
Tendenzen, die Sache in die Hand zu nehmen und zu bestimmen. Das kann ich
auch nicht leiden.
Katharina: Er war ja sehr jähzornig.
Mama: Ja. Hast du dir das gemerkt?
Katharina: Na klar. Ich hab das in allerschlimmster Erinnerung, da gab’s einen
riesen Streit, nachdem wir in Jugoslawien waren. Und ich saß immer da und hab
den Kopf eingezogen.
Mama: So ein Mann war mir ja auch noch nie begegnet. Sah eigentlich ganz gut
aus. Hatte ne markante Nase, also ne schmale.
Katharina: Vom Äußeren hätte er mir auch gefallen, aber vom Charakter nicht.
Mama: Ich glaube, er hat gedacht, er könnte jetzt dominieren.
Musik: Kalle Kalima
Vergessen - Collage
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Jenny
Meine Mutter bewarb sich an der Düsseldorfer Kunstakademie. Knut war immer
noch ihr Freund.
O-Ton 31a Schock
Mama: Eines Tages sind wir in Düsseldorf im Hofgarten, ich war in diesem
Mädchenheim und wir gingen spazieren und da sagte er: Ich muss dir was sagen
– große Pause – ich bin verheiratet. Da hats mir echt den Boden unter den Füßen
weggezogen. Ich weiß noch, wie ich da so stand und auf einmal kam der Schmerz
in meinem Bauch, und da hatte ich eine akute Blinddarmentzündung in diesem
Moment gekriegt.
Fortsetzung O-Ton 31b
In der Nähe war ein Krankenhaus, da sind wir hin. Da habe ich meine beste
Freundin kennengelernt in dem Krankenzimmer. Die lag da mit der Niere, ich der
Blinddarm. Wir haben uns immer so Geschichten erzählt und mussten lachen und
wir krümmten uns. Und die hielt ihre Wunde und ich meine.
Jenny
Ein Krankenhausgeistlicher besorgte meiner Mutter schließlich ein Zimmer im
Studentenwohnheim.
Fortsetzung O-Ton 31c
Mama: Da war ich sehr erleichtert, dass ich nicht auf diesen Mann angewiesen
bin. Und der wollte mich behalten, und er hat sogar seine Frau geschickt. In die
Akademie. Wir hatten gerade Aktzeichnen, da kam die Frau rein, eine hübsche
Frau, und hat gesagt: Bitte behalten Sie den. Kümmern Sie sich um den, der
braucht Hilfe. Und ich sage: Ich denke gar nicht daran.
O-Ton 32a Einleben im Westen
Katharina: Für mich war das sehr schwer. Ich hab dann in Marburg weiterstudiert,
da waren diese roten K-Gruppen, und da bin ich ein paar Mal richtig böse
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angeredet worden. Mir ist erst spät bewusst geworden, wie schlimm eigentlich die
Zeit danach war (weint).
Fortsetzung O-Ton 32b Einleben im Westen
Tenor: Wie ich das Arbeiter- und Bauernparadies, was sie sich ausgemalt haben,
wo es den Arbeitern so richtig gut geht, wie ich das verlassen konnte.
Fortsetzung O-Ton 32c Einleben im Westen
Das war sehr, sehr unangenehm, die waren total DDR-blind. Ein Teil der 68erBewegung, das war schlimmste..., das war genau dasselbe wie in der DDR. Da
hätte ich am liebsten gesagt: Geht doch mal in die DDR, da hättet ihr gesehen,
was euer Gelobtes Land, wie es da ist. Ich konnts auch ein bissel verstehen, wie
will so ein unbedarftes Wesen, das da in Freiheit aufgewachsen ist..., das ist wie
wenn man gesund ist, kann man sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man krank
ist.
Musik: Aphex Twin
Sprecher (Zitat)
„Das Wort ‚Trauma’ kommt aus dem Griechischen und heißt wörtlich
‚Wunde’. (...) Das psychische Trauma geht auf lebensbedrohende und die
Seele verwundende Erfahrungen von extremer Gewalt zurück, die
psychisch nicht verarbeitet werden können. Es kommt ein Mechanismus zur
Anwendung, den die Psychiater ‚Dissoziation’ nennen. Damit ist die
unbewusste Strategie einer Abspaltung gemeint, durch die das bedrohliche
Erlebnis vom Bewusstsein der Person ferngehalten wird. Das Ereignis wird
zwar registriert, aber gleichzeitig werden die Brücken zum Bewusstsein
abgebrochen.“ Aleida Assmann.
O-Ton 34 Trauma-These
Ulrike: Wer weiß, wenn meine Mutter doch ein kleines Trauma mit sich rumträgt,
ob man das nicht auch auf sein Kind unbewusst überträgt. Auch jetzt, wo ich
Mutter bin... Das könnte man vielleicht als These aufstellen.
Jenny
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Ulrike Bobzin, Katharinas Tochter.
O-Ton 35 Es kommt schlimmer
Ulrike: Es gibt bei uns so einen Satz in der Familie: Es hätte ja noch schlimmer
kommen können. Das finde ich einerseits positiv, ich merke, dass es mir oft hilft,
dass ich dann irgendwie trotzdem weitermachen kann, wenn mir irgendwas
Blödes passiert ist. Aber andererseits eben ist es auch, man gesteht sich nicht ein,
dass man auch mal sagen kann, oh, das war jetzt wirklich doof und da leide ich
jetzt drunter. Das habe ich auch manchmal gemerkt, dass ich immer dann stark
bin, wo es auch mal guttut, Schwäche zu zeigen.
Atmo: Flohmarkt
Jenny
Der Osterflohmarkt von Sellin auf der Ostsee-Insel Rügen findet auf einem
Parkplatz statt. Direkt hinter dem Spaßbad und einem Supermarkt. Der Wind ist
kalt und riecht nach Tang. Die wenigen Marktstände offerieren, was 27 Jahre nach
der Wiedervereinigung von der DDR übrig geblieben ist: Ein paar Orden aus
Blech, ein Honecker-Bild, Puhdys-Platten, viel ist es nicht. Mein Sohn interessiert
sich nicht für eine Sandmännchen-Figur, er will ein Disney-Buch. Ein paar Rentner
unterhalten sich über das Ende der DDR, als wir in ihre Nähe kommen,
verstummen sie. Ich entdecke eine Apfelreibe aus Jenaer-Glas, mit genau so
einer hat meiner Mutter uns früher Apfelmus gemacht. Der Verkäufer will 3 Euro
50 für die Reibe. Ich kaufe sie ohne zu Handeln.
Atmo aus.
Jenny
Es gibt vieles, das ich über meine Mutter nie erfahren werde. Und es gibt einiges,
das ich nie verstehen werde.
O-Ton 33a Typisch DDR
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Ulrike: Wir hatten zum Beispiel so ne Schublade, die gibt’s bei meinen Eltern
immer noch, wo Geschenkbänder drin sind. Paketbänder, Paketschnüre,
gebraucht natürlich. Alles sorgfältig aufgewickelt.
Jenny
Bei uns ist diese Schublade so voll, dass sie nicht mehr zugeht.
Musik: Sidsel Endresen „TRUTH“
Fortsetzung O-Ton 33c Typisch DDR
Geschenkpapier wurde bei uns auch wiederverwendet. Und ich weiß noch, als
Kind fand ich das nicht schön, wenn ich zum Kindergeburtstag gegangen bin und
mein Geschenk war mit einem gebrauchten Geschenkpapier eingepackt. Das
konnte ich auch irgendwie nicht sagen, weil das bei uns so ne festgelegte Regel
war. Man hat kein Geschenkpapier gekauft.
Auf Musik:
Eine Flucht, zwei Erinnerungen.
Wie meine Mutter mit einer Freundin aus der DDR floh.
Feature von Jenny Hoch.
Es sprachen: Winnie Böwe und Max von Pufendorf
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Tina Klopp, Barbara Schäfer
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
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