Neuö Zürcör Zäitung Mittwoch, 7. Dezember 2016 Pisa-Ergebnisse 2015 RUNDUM Unschöner Zahlensalat WALTER BERNET Man kann nicht behaupten, dass die Öffentlichkeit die neusten Pisa-Ergebnisse mit allergrösster Spannung erwartet hat. Zu konstant waren die Resultate der fünf früheren Durchführungen für die Schweiz. Das Hauptproblem unseres Bildungssystems bleibt die hohe Zahl von Schulabsolventen, die am Ende der obligatorischen Schulzeit grundlegende Anforderungen nicht erfüllen. Das bleibt die grosse Herausforderung. Trotzdem haben die Pisa-Verantwortlichen der OECD jetzt für einen Coup gesorgt. Indem sie eine Reihe von methodischen Veränderungen am Testverfahren vorgenommen haben, stellen sie dessen Glaubwürdigkeit infrage. Es war der Anspruch der OECD, ein Testsystem für 15-Jährige anzubieten, das an den zentralen Kompetenzen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften langfristig die Qualitätsentwicklung in den einzelnen Bildungssystemen bis in die Details aufzeigt und die Ergebnisse international vergleichbar macht. Änderungen am Testsystem schliesst dieser Anspruch aus. Was jetzt herausgekommen ist, stellt Bildungspolitiker und Bildungsforscher nicht nur in der Schweiz vor Rätsel. Diverse Länder schneiden auffallend schlechter ab. Plausibel erklären lässt sich das nur mit den methodischen Eingriffen. Dies jedenfalls machen Bildungsforscher und Bildungspolitiker nicht nur in der Schweiz geltend. Vergleiche, sowohl zwischen den Resultaten von 2012 und 2015 als auch zwischen den Ländern, seien mit grossen Fragezeichen behaftet, sagen die Schweizer Verantwortlichen. Offenbar haben die Umstellung auf digitale Tests, die Änderungen an der Skalierung und die anders zusammengesetzte Testgruppe – mit wesentlich mehr Fremdsprachigen – schwer interpretierbare Auswirkungen auf die Resultate. Der Zahlensalat ist also angerichtet. Wie lässt er sich verdauen? Man wird schwerlich um das von der Erziehungsdirektorenkonferenz skizzierte Vorgehen herumkommen: Zuerst müssen die Auswirkungen der Veränderungen auf die Resultate wissenschaftlich analysiert werden, erst dann kann die politische Diskussion folgen. Nur welche politische Reine Rituale Diskussion? Haben jene recht, die «Bildungsmonitoring» schon immer für ein Schimpfwort gehalten haben? Oder jene, welche die intransparente und unzugängliche OECD als des Teufels erachten? Stossend ist tatsächlich, dass ausgerechnet mit der Einführung des harmonisierten Lehrplans 21 die einzige internationale Testserie, die einen Vergleich von Vor- und Nachher zuliesse, gravierende Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit aufkommen lässt. Und stossend ist, dass die OECD trotz Interventionen der Schweiz und anderer Länder sich der Kritik und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verschliesst. Ist deshalb die Forderung des nationalen Lehrerdachverbands berechtigt, aus Pisa ganz auszusteigen und die Mittel in ein nationales Bildungsmonitoring zu stecken? Übereilte Schlussfolgerungen sind fehl am Platz. Zu viele Erkenntnisse hat man bisher aus den Pisa-Ergebnissen ziehen können, zu wichtig ist es für die Schweiz, die Position ihres Bildungssystems im internationalen Kontext verfolgen zu können. Die geplanten, an den eigenen Lehrplänen orientierten nationalen Monitorings werden aber für die Steuerung des Bildungssystems bedeutender und relativieren den Stellenwert von Pisa. CDU-Parteitag Merkel fehlt die zündende Idee MARKUS ACKERET Im Frühjahr wurde der amerikanische Präsident Barack Obama beim gemeinsamen Presseauftritt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über seine Haltung zur Amtszeitbeschränkung in Amerika befragt. Merkel, die neben ihm stand, wirkte leicht irritiert, als Obama die Vorzüge dieser Regelung beschrieb. Ein halbes Jahr später, wenige Tage bevor sie selbst ihre vierte Kanzlerkandidatur ankündigte, griff sie den Aspekt selbst auf. Demokratie, sagte sie, lebe vom Wechsel. Damit versuchte sie in erster Linie sich und die Deutschen über Obamas Abgang und Donald Trumps Wahl hinwegzutrösten. Aber es war auch ein Hinweis in eigener Sache: Auch Merkel macht sich nicht die Illusion, unersetzbar zu sein, und es ist ihr bewusst, dass die Wähler das genauso wissen wie sie. Trotzdem schien es fast unausweichlich, dass sie am Dienstag am Parteitag ihrer CDU in Essen erneut, zum neunten Mal, zur Vorsitzenden gewählt wurde. Alles Grummeln in der Partei über die Langzeit-Vorsitzende ging nie so weit, dass Merkels Führungsanspruch ernsthaft infrage stand. Die Kanzlerin mutete, wie sie selbst zugab, im vergangenen Jahr, aber eigentlich seit ihrem erstaunlichen parteiinternen Aufstieg, der CDU viel zu. Viele Wertkonservative fühlen sich der CSU – die Grobschlächtigeren unter ihnen auch der Alternative für Deutschland – mittlerweile eher zugeneigt als der CDU. Die Politik Merkels entfremdete viele von der eigenen Partei, auch weil nur noch wenige Führungspersonen für die traditionellen Inhalte und Anliegen unbeirrt einstehen. Dennoch war der Applaus für die Vorsitzende in Essen so lang anhaltend wie erst einmal in mehr als sechzehn Jahren. Auch das Wahlergebnis, die Zustimmung von fast 90 Prozent der Delegierten, zeigt, wie wenig der Dissens in der Partei gesucht und gewünscht wird. Zwei Gefahren lauern im Wahljahr 2017. Die eine hat unmittelbar mit Merkel zu tun. Alle Erfolge ihrer Kanzlerschaft mit wechselnden Koalitionspartnern reichen als Argument für eine neuerliche Kanzlerkandidatur nicht aus. Die laut beklatschte Rede enthielt manche Versatzstücke – etwa aus der Begründung bei ihrer Ankündigung vor zwei Wochen, wieder anzutreten. Eine wirklich zündende Idee für die vierte Kanzlerschaft fehlt ihr aber genauso wie bei jenem Auftritt in Berlin. Mit manchen Anliegen der Konservativen tut sie sich schwer. Gerade ihre wichtigste Botschaft, die sie aus ihrer Biografie schöpfen kann, der Wert der Freiheit, ist angesichts der politischen Verwerfungen zentraler denn je. Aber Merkel setzt sie sparsam ein, und sie wehrt sich, nicht nur aus Selbstschutz, vehement dagegen, überhöht zu werden als «letzte Verteidigerin des Westens». Die andere Gefahr liegt in der Partei. Merkel ist nicht nur zum neunten Mal zur Vorsitzenden gewählt worden. Im Vorstand und im Präsidium fehlen echte neue Gesichter. Die zwei Neuzugänge Thomas de Maizière und Monika Grütters sind Kabinettsmitglieder in Berlin. Mit Blick auf eine mögliche neuerliche Kanzlerschaft muss sich das ändern, wollen die CDU und Merkel in vier Jahren nicht vor demselben Problem des dürren Nachwuchses stehen wie heute. Demokratie lebt vom Wechsel, und das gilt für eine Partei, die Volkspartei sein will, erst recht. Berlin hat sich verkalkuliert CHRISTOPH EISENRING Die deutsche Regierung ist überzeugt, dass ihre «Energiewende» ein Vorbild für die ganze Welt ist. Dabei hat sich das Vorhaben längst als Fass ohne Boden erwiesen. Die Konsumenten stützen die Betreiber von Wind- und Sonnenanlagen via Umlagen derzeit mit 24 Milliarden Euro pro Jahr. Bis 2025 sollen sich die Kosten der Energiewende laut einer neuen Studie sogar auf 520 Milliarden Euro belaufen. Und der Clou dabei: Dem Weltklima hilft dies alles praktisch nichts. Zur Energiewende gehört auch der Ausstieg aus der Kernenergie. Schon 2002 wurde dies von der rot-grünen Regierung beschlossen, wenn auch noch ohne fixen Zeitpunkt. Dies hat dann ausgerechnet die Koalition aus CDU/CSU und Liberalen unter Kanzlerin Merkel nachgeholt. Als 2011 ein Tsunami Reaktoren in Fukushima zerstörte, konnte es der Regierung nicht schnell genug gehen: 8 Von KONRAD PAUL LIESSMANN Der moderne Mensch ist kein besonderer Freund von Ritualen. Jedes Mal zur Weihnachtszeit, wenn die Adventsmärkte aufgebaut, die Geschäfte geschmückt, die Plätze, Fenster und Wohnungen beleuchtet werden, denkt er gerne kritisch über den Sinn solch eines geschäftigen, von einem unbeugsamen Willen zum Kitsch gekennzeichneten Treibens nach. Der religiöse Hintergrund solch ritueller Feste ist ihm ebenso suspekt wie die Degradierung derselben zu einem globalen Konsumrausch. Auf solch leere Rituale, so seine These, könnte man auch verzichten. Menschen, die man mag, kann man immer beschenken, Bücher jederzeit kaufen und lesen, Notleidende bedürfen immer der Hilfe. Die Nüchternheit des modernen Menschen steht allerdings durchaus im Widerspruch zu seiner verborgenen Sehnsucht nach kollektiven rituellen Handlungen. Da er seiner eigenen Lebenswelt diese nicht mehr zugesteht, sucht er sie bei anderen. Er bewundert die religiösen Rituale ihm fremder Kulturen, deren Fastenzeiten und Feste, und setzt alles daran, dass diese auch praktiziert werden können. Um seine Toleranz und Weltoffenheit zu demonstrieren, schliesst er sich manchmal auch kokett diesen Ritualen an, obwohl er deren religiösen Hintergrund noch weniger kennt als den seiner eigenen Tradition. Die Freude an auch unverstandenen Ritualen hat gute Gründe. Rituale sind Wiederholungen, deren Ursprung und Sinn allmählich verschwunden ist. Es bleiben Gesten, Handlungen, Accessoires, Äusserlichkeiten, ästhetische Inszenierungen. Das Besondere daran: Rituale ordnen die Zeit und gehorchen in der Regel einem zyklischen Zeitverständnis. Rituale orientieren sich, wie religiös auch immer sie fundiert sein mögen, an Friedrich Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Genau deshalb können sie auch sinnentleert praktiziert werden – ihre Bedeutung liegt in der reinen Wiederholbarkeit. Rituale verweisen in die Zukunft, weil sie in der Vergangenheit schon gültig waren, Rituale versprechen den Akteuren, richtig zu handeln, sofern die Präskriptionen des Rituals befolgt werden. Rituale entlasten so den Einzelnen von der Aufgabe, die Sinnhaftigkeit seiner Handlungen zu überprüfen. Das Festhalten an Ritualen erklärt sich aus dieser Vergewisserung: das Richtige zu tun, indem man sich einfach einer Form fügt. Die Moderne wäre allerdings gerne eine Kultur ohne Rituale. Sie definiert Zeit als lineare, offene Bewegung, die nur eine Richtung ins Unbekannte kennt, keine Wiederkehr des Gleichen. Die Dynamik dieser Gesellschaftsformation, die Sprengkraft des Kapitalismus, die nach einem Wort von Karl Marx alles Stehende und Ständische zum Verdampfen bringt, darf die Wiederholung nicht kennen, denn sie glaubt an das Neue, nicht an die Wiederkehr des Alten. Rituale erscheinen ihr vorab als Fesseln, die Kräfte binden, wo es doch darum ginge, Kräfte freizusetzen. Rituale können aber durchaus als kritisches Korrektiv zu einer haltlosen Linearisierung der historischen Zeit gewertet werden, als Erinnerung daran, dass nicht alles jederzeit zur Disposition steht, sondern dass das Leben auch Formen kennt, die sich dem Kreislauf, nicht dem Fortschreiten verdanken. Deshalb ist es nicht gleichgültig, ob man seine Empathie, seine Bereitschaft, zu schenken und zu spenden, seine Freude an Sentimentalitäten über das Jahr kalkuliert verteilt oder in wenigen Wochen bündelt und mit der wie auch immer herabgekommenen und kommerzialisierten Aura eines grossen Festes versieht. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Entschädigung für deutsche Atomkonzerne von 17 Kernkraftwerken wurden sofort abgeschaltet, die letzten drei sollen 2022 vom Netz gehen. Dieser überstürzte Ausstieg hat die Probleme der Energiewende noch verschärft: Die Kernkraftwerke stehen eher im südlichen Teil des Landes, wo auch der Verbrauch hoch ist. Durch das Abstellen von Atommeilern und wegen des Mangels an Transportkapazitäten aus dem Norden mit seiner Windenergie entstehen im deutschen Stromsystem immer öfter Ungleichgewichte. Um den Ausstiegsentscheid ging es am Dienstag auch vor dem deutschen Verfassungsgericht in Karlsruhe. Deutlich wurde dabei das Hüst und Hott der damaligen Regierung: Im Herbst 2010 hatte die schwarz-gelbe Koalition die Laufzeiten noch deutlich verlängert. Ein halbes Jahr später sollte plötzlich alles anders sein, obwohl sich objektiv die Gefahrenlage in Deutschland nicht verändert hatte. Dieser kopflose Aktivismus wurde in Karlsruhe aber nicht verhandelt. Vielmehr stand im Vordergrund, ob die Regierung die Konzerne hätte entschädigen müssen. Das Urteil ist eine Ohrfeige für die damalige Regierung, die sich gerne als wirtschafts- MEINUNG & DEBATTE 13 freundlich gab. Aber auch die jetzige schwarzrote Koalition wehrte sich vor Gericht gegen eine Kompensation und hat sich damit verkalkuliert. Die Richter haben nämlich verfügt, die Regierung hätte für ihre Einschränkung der Eigentumsrechte eine «angemessene Entschädigung» leisten müssen. Berlin muss nun nachbessern. Eigentumsrechte sind die Grundlage jeder Marktwirtschaft. Dass das Gericht – auch wenn es eine Enteignung verneint hat – der deutschen Regierung hier Nachhilfe erteilen muss, ist beschämend. Wenn Firmen in einem Land investieren, müssen sie darauf bauen können, dass ihr Engagement nicht politischer Willkür ausgesetzt ist. Hier hat das Verfassungsgericht das Schlimmste verhindert: Deutschland ist weiterhin keine Bananenrepublik. Und noch etwas zeigt das Urteil: Die Eidgenossen haben vor anderthalb Wochen klug entschieden, als sie die Atomausstiegsinitiative ablehnten. Die Atomkraftwerke dürfen weiterlaufen, solange sie sicher sind. Ein Gezeter um Entschädigungszahlungen bleibt der Schweiz damit erspart – und das Fundament der Wirtschaftsordnung, die Rechtssicherheit, ist hiermit gewahrt. ARCHIV-TROUVAILLEN Leer gefressen bsa. V Die afrikanischen «Elefanten des Wassers» fressen den Victoriasee leer. Die NZZ schreibt 1986, man sei Zeuge der gigantischen Vernichtung einer Fischspezies. Seit den 1960er Jahren werden nämlich bis zu 200 kg schwere und 2 m lange Nilbarsche als Eiweisslieferanten in einer im See betriebenen Zuchtstation gehalten. Einige Exemplare entfliehen dem drohenden Kochtopf Richtung Freiheit, wo sie sich ungeniert vermehren. Buchstäblich auf der Strecke bleiben etwa 300 Buntbarsch-Arten, die nun vom Aussterben bedroht sind. Der Victoriasee aber sieht aus wie ein Porzellanladen nach dem Besuch einer Elefantenherde: alles kaputt. www.nzz.ch/archiv-trouvaillen
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