Nachholende Gerechtigkeit für Sinti und Roma im Bildungsbereich

Gerechtigkeit für Roma und Sinti im Bildungsbereich
„Wann, wenn nicht jetzt?“ war der Titel der Fachtagung zu Gerechtigkeit für Sinti und Roma im
Bildungsbereich, die am 3. November 2016 in der Werkstatt der Kulturen in Berlin stattfand. Sie
wurde von der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie e.V. Berlin (RAA)
unter der Leitung von Dr. Andrés Nader ausgerichtet und von der Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) und der Freudenberg Stiftung unterstützt. Es war ein Tag
voller engagiertem Austausch und kämpferischer Aufbruchsstimmung.
Über 70 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft gehören Roma und Sinti zu den Gruppen,
die noch immer für den Zugang zu ihren Grundrechten kämpfen müssen. Die
Ausgrenzung dieser größten europäischen Minderheit begann lange vor 1933 und endete
auch nach der barbarischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten nicht. Dieser
politische – und menschliche – Skandal ist den meisten Deutschen nicht bewusst.
Rassismus ist eine schmerzliche Realität. Schmerzlich für diejenigen, denen der Eintritt in
die Mehrheitsgesellschaft verwehrt wird: In den Schulen, in den Behörden, in den
Universitäten, in den Parlamenten. Es braucht langen Atem, den strukturellen Rassismus
zu benennen und Veränderungen einzufordern. Die Referentinnen und Referenten des
Fachtages beschäftigen sich schon seit Jahren mit dem Thema. Entsprechend engagiert
und fordernd waren Vorträge und Diskussionen.
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, der die
Fachtagung mit einem Grußwort eröffnete, betonte, dass Bildung die Voraussetzung für
eine Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben ist und
Initiativen, die die Realisierung einer gleichberechtigten Teilhabe der Minderheit zum Ziel
haben, von besonderer Bedeutung sind. Dabei sei die Heterogenität der Minderheit zu
berücksichtigen und ihre Beteiligung in allen Belangen der Ausarbeitung, Durchsetzung
und Evaluierung von Programmen und Projekten zu gewährleisten. Er verwies auf die
„jahrzehntelangen Versäumnisse“ in der bundesdeutschen Bildungspolitik und forderte,
dass auch das Thema Antiziganismus als Bildungshindernis mehr in den Fokus gerückt
werden müsse.
Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ, Dr. Andreas Eberhardt, stellte fest: „Das Ziel
einer gleichberechtigten Bildungsteilnahme ist noch nicht erreicht“. Er bezog sich dabei
auf die von Daniel Strauß 2011 herausgegebene „Studie zur aktuellen Bildungssituation
deutscher Sinti und Roma“. Sie war der Ausgangspunkt für die Gründung eines
bundesweiten Arbeitskreises, der in elf Sitzungen über zwei Jahre „Empfehlungen zur
gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Sinti und Roma“ erarbeitet hat. Auf Grundlage
dieser Bildungsempfehlungen fördert die Stiftung EVZ seit 2016 Projekte in Deutschland.
Der Fachtag „Wann, wenn nicht jetzt?“ orientierte sich thematisch ebenfalls an den
Empfehlungen, die nun bereits in der zweiten, erweiterten Auflage vorliegen.
Romeo Franz, Geschäftsführer der Hildegard Lagrenne Stiftung, der Mitglied des
Arbeitskreises war, betonte die Vorreiterrolle dieses Gremiums. In ihm sei „zum ersten
Mal auf Augenhöhe“ mit Vertreterinnen und Vertretern der Minderheit diskutiert worden.
Entsprechend gewichtig seien die Empfehlungen, die er immer bei sich trage.
Ministerialdirigent Dr. Thomas Greiner vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung, das den Arbeitskreis sehr unterstützt hatte, würdigte in seiner Begrüßung die
bisherigen Initiativen zur Umsetzung der Bildungsempfehlungen.
Initiator des Arbeitskreises war der im letzten Jahr verstorbene Vorstandsvorsitzende der
Stiftung EVZ, Dr. Martin Salm. Viele der Rednerinnen und Redner gedachten seiner, bevor
sie ihre Beiträge begannen. So auch Dr. Elizabeta Jonuz, die den Eröffnungsvortrag mit
dem Titel „Wer, wenn nicht wir?“ hielt. Sie lieferte einen Abriss über die wissenschaftliche
Bearbeitung der systematischen Ausgrenzung von Sinti und Roma. Die jahrzehntelange
Nicht-Anerkennung von Roma und Sinti als Opfergruppe des Nationalsozialismus, das
Fortleben rassistischer Herangehensweisen in Studien und Untersuchungen und die
Ignoranz der deutschen Mehrheitsgesellschaft benannte sie als das, was es ist: skandalös.
Auf dem Fachtag selbst hatte man sich mehr Präsenz des Bundes gewünscht. Im Laufe der
Tagung wurden jedoch auch Projekte vorgestellt, die auf Länder- bzw. kommunaler Ebene
gefördert werden und die durchaus erfolgreich sind. Hierzu gehören zum Beispiel die
Roma- und Sinti-Bildungsberaterinnen und -berater aus Hamburg oder das MediatorenProgramm Khetni aus München.
Nach dem Einführungsvortrag diskutierten die Teilnehmenden in sechs parallelen Foren
verschiedene Aspekte der Bildungsbeteiligung von Sinti und Roma. Hier wurden zum
Beispiel „Feministische Perspektiven“ beleuchtet, die sonst allzu oft unterschlagen werden.
Zum Thema Rassismus gab es gleich zwei Diskussionsrunden: „Rassismus an
Schulen“ und „Rassismuskritische Lehrmaterialien“, beides Schlüsselthemen, wenn es um
gleichberechtigte Bildungsteilnahme von Minderheiten geht. Es gebe hierzu bereits viel
Wissen, aber: „das Wissen kommt nicht in den Schulen an“, betonte Saraya Gomis,
Antidiskriminierungsbeauftragte der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und
Wissenschaft Berlin. Um konkrete Projekte und Programme ging es in den Foren „Gezielte
Anstellung von Roma und Sinti im Bildungsbereich“ und „Mentoren-, Tutoren- und
Stipendien-Programme“, ein Bereich, in dem sich auch die Stiftung EVZ seit vielen Jahren
mit einem eigenen Förderprogramm in Osteuropa engagiert und in Deutschland ein
Projekt der Hildegard Lagrenne Stiftung unterstützt. Das sechste Forum widmete sich
schließlich der „Datenerhebung und Wissenschaft“, wo es bis heute fehlende ethische
Standards im Umgang mit dem Thema Roma und Sinti gibt: Immer noch forschen NichtRoma über Roma, Nicht-Sinti über Sinti. Ihnen fehlt oft ein tatsächlicher Zugang und die
Sensibilität gegenüber dem Thema. Forschende aus der Minderheit würden dagegen mit
dem Vorwurf konfrontiert, nicht genügend Abstand zu haben.
Im Publikum war viel Expertise versammelt. Viele der 235 Teilnehmenden kamen aus
NGOs, Stiftungen oder dem Bildungsbereich. Sie nutzen das Treffen für einen intensiven
Austausch und nahmen neue Ideen für ihre tägliche Arbeit mit nach Hause. Lehrerinnen
und Lehrer waren allerdings kaum präsent, was eine spontane Umfrage ergab.
Auf dem Abschlusspodium sprach Sylvia Löhrmann, Bildungsministerin von NordrheinWestfalen und damit auch Vertreterin der Kultusministerkonferenz. Sie bezeichnete das
Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik gerade auch für
das Themenfeld Bildungsbeteiligung von Sinti und Roma als „überholt“. Sonja Böhme,
Teamleiterin der Stiftung EVZ, betonte, dass Bundesgremien wie die
Kultusministerkonferenz „nur die Spitze des Eisberges“ seien. Es gehe darum, die
Gesellschaft als Ganzes zu erreichen. „Hier sind wir erst am Anfang“, machte sie deutlich.
Doch trotz Kritik an der Politik, der Grundtenor der Fachtagung war kämpferisch und
optimistisch, denn es wurde bereits viel erreicht. Und auch trotz der Heterogenität
innerhalb der Minderheit war klar: Wir lassen uns nicht spalten – gemeinsam sind wir
stark. Die Politik, die Mehrheitsgesellschaft muss weiter in die Verantwortung genommen
werden.
Wann, wenn nicht jetzt?
Autorin: Anna-Lena Vaje