Bundessozialgericht

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Kassel, den 30. November 2016
Medieninformation Nr. 24/16
Kein "Streikrecht" für Vertragsärzte
Vertragsärzte sind nicht berechtigt, ihre Praxis während der Sprechstundenzeiten zu schließen, um an
einem "Warnstreik" teilzunehmen. Derartige, gegen gesetzliche Krankenkassen und Kassenärztliche
Vereinigungen gerichtete "Kampfmaßnahmen" sind mit der gesetzlichen Konzeption des
Vertragsarztrechts unvereinbar. Die entsprechenden vertragsarztrechtlichen Bestimmungen sind auch
verfassungsgemäß.
Der als Facharzt für Allgemeinmedizin zugelassene Kläger informierte die beklagte Kassenärztliche
Vereinigung im Herbst 2012 darüber, dass er zusammen mit fünf anderen Vertragsärzten "das allen
Berufsgruppen verfassungsrechtlich zustehende Streikrecht" ausüben und deshalb am 10. Oktober
sowie am 21. November 2012 seine Praxis schließen werde. Die Beklagte erteilte dem Kläger einen
Verweis als Disziplinarmaßnahme, da er durch die Praxisschließungen seine vertragsärztlichen
Pflichten schuldhaft verletzt habe. Das Sozialgericht hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen.
Ein Streikrecht als Grund für eine Unterbrechung der Praxistätigkeit sei im Vertragsarztrecht nicht
vorgesehen.
Die dagegen eingelegte Sprungrevision hat der 6. Senat des Bundessozialgerichts heute
zurückgewiesen. Der Kläger hat seine vertragsärztlichen Pflichten schuldhaft verletzt. Vertragsärzte
müssen während der angegebenen Sprechstunden für die vertragsärztliche Versorgung ihrer
Patienten zur Verfügung stehen (sogenannte "Präsenzpflicht"). Etwas Anderes gilt etwa bei Krankheit
oder Urlaub nicht jedoch bei der Teilnahme an einem "Warnstreik". Dem Kläger steht kein durch die
Verfassung oder die Europäische Menschenrechtskonvention geschütztes "Streikrecht" zu. Ein Recht
der Vertragsärzte, Forderungen gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen im Wege von
"Arbeitskampfmaßnahmen" durchzusetzen, ist mit der gesetzlichen Konzeption des Vertragsarztrechts
nicht vereinbar. Der Gesetzgeber hat durch die Ausgestaltung des Vertragsarztrechts die teilweise
gegenläufigen Interessen von Krankenkassen und Ärzten zum Ausgleich gebracht, um auf diese
Weise eine verlässliche Versorgung der Versicherten zu angemessenen Bedingungen sicherzustellen.
Die gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen besitzt ein hohes Maß an
Autonomie bei der Regelung der Einzelheiten der vertragsärztlichen Versorgung. Dem entsprechend
wird die ärztliche Vergütung zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen
ausgehandelt. Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung ist den Kassenärztlichen
Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts übertragen worden. In diesen
Sicherstellungsauftrag ist der einzelne Vertragsarzt aufgrund seiner Zulassung zur vertragsärztlichen
Versorgung und seiner Mitgliedschaft bei der KÄV eingebunden. Konflikte mit Krankenkassen um die
Höhe der Gesamtvergütung werden in diesem System nicht durch "Streik" oder "Aussperrung"
ausgetragen, sondern durch zeitnahe verbindliche Entscheidungen von Schiedsämtern gelöst. Die
Rechtmäßigkeit des Schiedsspruchs wird im Streitfall durch unabhängige Gerichte überprüft.
Az.: B 6 KA 38/15 R
Dr. W.B. ./. Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg
Medieninformation und Termintipp sind keine amtlichen Veröffentlichungen, sondern nur Arbeitsunterlagen für die beim
Bundessozialgericht tätigen Journalisten.
-2-
Hinweise auf die Rechtslage
§ 72 SGB V Sicherstellung der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung
1
(1) Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, medizinische Versorgungszentren und Krankenkassen
wirken zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten zusammen. […]
§ 75 SGB V Inhalt und Umfang der Sicherstellung
1
(1) Die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen haben die
vertragsärztliche Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 bezeichneten Umfang sicherzustellen und den
Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die
vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. […]
§ 95 SGB V Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung
(1) […]
(2) […]
1
(3) Die Zulassung bewirkt, dass der Vertragsarzt Mitglied der für seinen Kassenarztsitz zuständigen
Kassenärztlichen Vereinigung wird und zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung im
Umfang seines aus der Zulassung folgenden zeitlich vollen oder hälftigen Versorgungsauftrages
berechtigt und verpflichtet ist. […]
Zulassungsverordnung für Vertragsärzte
§ 24
(1) Die Zulassung erfolgt für den Ort der Niederlassung als Arzt (Vertragsarztsitz).
(2) Der Vertragsarzt muss am Vertragsarztsitz seine Sprechstunde halten.
(3) …
§ 32
1
2
(1) Der Vertragsarzt hat die vertragsärztliche Tätigkeit persönlich in freier Praxis auszuüben. Bei
Krankheit, Urlaub oder Teilnahme an ärztlicher Fortbildung oder an einer Wehrübung kann er sich
innerhalb von zwölf Monaten bis zur Dauer von drei Monaten vertreten lassen. […]
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art. 9 [Vereinigungsfreiheit]
(1) …
(2) …
1
(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen
2
zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht
einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind
3
rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91
dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Art. 11 Abs. 1
(1) Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen
zusammenzuschließen, einschließlich des Rechts, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu
bilden und diesen beizutreten.
(2) …