01.12.2016_Fachtagung KINDESSCHUTZ_P. Dörflinger

Schnittstelle zwischen der Kinder- und
Jugendpsychiatrie und der interdisziplinär
arbeitenden Kindesschutzbehörde
Streiflichter aus der Sicht eines KESB-Leiters
kjp-Tagung, 1. Dezember 2016
lic. iur. Peter Dörflinger, Rechtsanwalt
Präsident/Leiter KESB Appenzell Ausserrhoden, vormals Leiter KESB Nordbünden
Übersicht
I. Aufgabe KESB
II. Systemische Annäherung
III. Schnittstelle KESB – Kinder- und
Jugendpsychiatrie
IV. Gutachtensprozess
V. Fazit
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I. Aufgabe KESB
„Ist das Wohl des Kindes gefährdet
und sorgen die Eltern nicht von sich aus für
Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande,
so trifft die Kindesschutzbehörde
die geeigneten Massnahmen
zum Schutz des Kindes.“
(Art. 307 Abs. 1 ZGB)
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I. Aufgabe KESB
•
KESB interveniert* von Amtes wegen, wenn Sie von einer
Kindeswohlgefährdung erfährt.
*Intervention: Abklärung oder sofortiger Eingriff (vorsorgliche
Massnahme/n)
•
Begriff Kindeswohl ist mehrdeutig bzw. nicht gesetzlich
normiert > unterschiedliche Konzepte > gemeinsamer
Nenner:
•Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, sobald „... die
ernstliche Möglichkeit einer Beeinträchtigung des
körperlichen, sittlichen, geistigen oder psychischen
Wohls des Kindes vorauszusehen ist“ (Cyril Hegnauer,
Grundriss des Kindesrechts, Bern, 1999)
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I. Aufgabe KESB
potentielle Melder/innen (nicht abschliessend)
• Kinder/Jugendliche selbst
• Elter/n
• weitere „Familien“-Mitglieder
• Nachbarn
• Schulen, andere in Betreuung Involvierte (z.B. Kita)
• Ärzteschaft / Therapeut/inn/en
• Polizei (häusliche Gewalt), Gerichte, Staatsanwaltschaft
• weitere Akteure im “Netzwerk Kindesschutz“
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I. Aufgabe KESB
Akteure (nicht abschliessend)
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II. Systemische Annäherung
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II. Systemische Annäherung
Eine „Gefährdungsmeldung“ trifft ein
Die KESB klärt ab:
• wertet Register aus
• spricht mit Betroffenen und Umfeld
• erkundigt sich bei Fachpersonen
• holt Berichte, evtl. Gutachten ein
• spricht wieder mit Betroffenen und Umfeld
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II. Systemische Annäherung
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II. Systemische Annäherung
KESB ist eine “High Reliability Organisation“
• arbeitet in einem komplexen, risikoreichen, latent eskaliertem
Umfeld
• muss Unsicherheiten reduzieren und Katastrophen verhindern
• bearbeitet mehrerere Schnittstellen in einem ad-hoc gebildeten
Netzwerk, das zu koordinieren und zu führen ist
• muss (unter Umständen divergierende) Expertenmeinungen mit
unterschiedlichen Wissens- und Sozialisationshintergründen
(Psychologie, Psychiatrie, soziale Arbeit, Recht, Ökonomie), die in
unterschiedliche Unternehmskulturen und Organisationslogiken
erarbeitet wurden, integrieren
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II. Systemische Annäherung
KESB ist ...
• von systemischen Faktoren (politische Stimmungslage,
Ressourcenknappheit, medialer Druck, unterschiedliche Qualitäten der
einsetzbaren Dienstleistungen/Angebote etc.) beeinflusst
• verantwortlich für nur bedingt standardisierbare Entscheidungen
• eine noch im Aufbau befindliche Institution
vgl. dazu Gerlach/Hauri/Iff, Fehler und kritische Zwischenfälle im Kindesschutz, ZKE 4/2016, S. 297 ff.
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III. Schnittstelle KESB – Kinder- und
Jugendpsychiatrie
• kjp arbeitet mit Kindern/Jugendlichen
mit Unterstützung der Eltern, die „selbst für Abhilfe sorgen“
• in Therapie wird akute „Kindeswohlgefährdung“
sichtbar
• kjp meldet Gefährdung > der KESB
• KESB klärt eine mögliche „Kindeswohlgefährdung“
ab und ist auf Expertenwissen angewiesen
• KESB beauftragt > kjp mit Begutachtung
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IV. Gutachtensprozess
1. Vorbemerkungen
…
•Der Begutachtungsprozess ist ein Parallelprozess zum weiterhin
laufenden Abklärungsprozess der KESB.
•In die Begutachtung fliessen die (bis dahin) erhobenen
Abklärungsergebnisse über die zur Verfügung gestellten Akten der KESB
ein.
•Verweigerungshaltungen von Eltern/Jugendlichen gegenüber KESB
werden oft auch (zumindest initial) im Begutachtungsprozess
eingenommen.
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IV. Gutachtensprozess
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IV. Gutachtensprozess
1. Notwendigkeit von Gutachten
1.1. Fallgruppen
A. psychische Störung bei Kind/Jugendlicher/Jugendlichem
a.bestehende Diagnose
•z.B. ADHS, posttraumatische Belastungsstörung, Essstörungen,
Substanzmissbrauch, Depression etc.
– Aktualität der gutachterlichen Diagnose? > evtl. (Ergänzungs-)
Gutachten
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IV. Gutachtensprozess
1. Notwendigkeit von Gutachten
1.1. Fallgruppen
B. psychische Störung bei Kind/Jugendlicher/Jugendlichem
b.Verdacht auf psychische Störung
–
Gutachten erforderlich, insbesondere mit Blick auf Therapiebedürftigkeit
•
Systemischer Ansatz besonders wichtig > u.U. ist Kind/Jugendliche/r
Symptomträger einer Störung im familiären/sozialen System
•
Therapiemöglichkeiten (Kind, Eltern, andere Beteiligte) sind
umfassend auszuleuchten
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IV. Gutachtensprozess
1. Notwendigkeit von Gutachten
1.1. Fallgruppen
C. Fragliche Erziehungsfähigkeit Elter
z.B. Behauptung, dass ein Elternteil “psychisch gestört”
•In Abklärung erhärtbar, dass es sich um einen “taktischen” Vorwurf handelt (z.B.
keine Diagnose, keine psychiatrische Behandlung nachweisbar,
Dritteinschätzung von “kompetenter” Seite teilen die Auffassung klar nicht)
– kein Gutachten
•Konkrete Hinweise auf psychische Störung gegeben, kein aktuelles Gutachten
oder Diagnose vorhanden
– Gutachten notwendig (erwachsenenpsychiatrisches Gutachten in
Kombination mit kinderpsychiatrischem Gutachten zur
Erziehungsfähigkeit)
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IV. Gutachtensprozess
1. Notwendigkeit von Gutachten
1.1. Fallgruppen
C. Fragliche Erziehungsfähigkeit Elter
•Psychische Störung nachgewiesen (Krankengeschichte/Diagnose, von
betroffener Person eingestanden)
•
konkrete Hinweise auf Einfluss der psychischen Störung auf
Erziehungsfähigkeit
- Gutachten zu Erziehungsfähigkeit, insbesondere mit Blick auf
Entwicklungsperspektive (Veränderung der Verhältnisse)
•
therapeutisch erfolgreich behandelte psychische Störung > keine
konkreten Hinweise für Einfluss auf Erziehungsfähigkeit
- Gutachten an sich entbehrlich > Gutachtensdruck?
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IV. Gutachtensprozess
1. Notwendigkeit von Gutachten
1.1. Fallgruppen
D. Massive* Störungen des persönlichen Verkehrs (z.B. Verweigerung
durch einen Elternteil / ablehnende Haltung Kind / Antrag auf begleitete Besuche
etc.) * Beistandschaft nach ZGB 308 II von vorneherein nicht ausreichend
•Betreuungsfähigkeit fraglich
– Gutachten zu Betreuungs-/Erziehungsfähigkeit notwendig
•Betreuungsfähigkeit nicht fraglich
- Störungen in der Kommunikation / nicht gelöste Paarkonflikte
(“Rosenkrieg”)
- Kind in Loyalitätskonflikt, stark beeinflusst von einem/beiden Elternteilen
-interventionsorientiertes Gutachten
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IV. Gutachtensprozess
1. Notwendigkeit von Gutachten
1.2 Interventionsorientierte Gutachten
•Teil 1: diagnostische Abklärung zur Lebenssituation des Kindes XY
und den Konfliktfeldern zwischen den Eltern
> Ergebnisbericht mit Empfehlungen zur Erprobung des persönlichen
Verkehrs > evtl. vorsorglicher Entscheid der KESB nötig
–Zeitbedarf: 2 – 3 Monate
•Teil 2: Erprobung der Empfehlungen gemäss Ergebnisbericht
> Evalution und Empfehlung zur weiteren Ausgestaltung des
persönlichen Verkehrs > in der Regel Hauptentscheid der KESB
(Festlegung und/oder Auflagen) zum persönlichen Verkehr
–Zeitbedarf: 6 – 12 Monate
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IV. Gutachtensprozess
1. Notwendigkeit von Gutachten
1.2 Interventionsorientierte Gutachten
•Während Erarbeitung eines interventionsorientierten Gutachtens
werden die Abklärungen bei/im Auftrag der KESB in der Regel
zurückgefahren > Verantwortung bleibt bei der KESB
•Begutachtende tragen eine delegierte Verantwortung
– KESB ist über relevante Zwischenfälle und “Entdeckungen”
zeitnah informieren
– “Gefährdungsmeldung” > führt häufig zu Störung/Abbruch des
Gutachtensprozesses
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IV. Gutachtensprozess
IV. Gutachtensprozess
1.2 Verständigung auf gemeinsamen Kindeswohlbegriff
Auswahlfragestellung zur Erziehungsfähigkeit an Gutachtensperson
(in Anlehnung an Seifert/Krexa/Kühnel/Bareiss, FamPra 1/2015, 125 f.)
«In welchen Bereichen und in welchem Umfang ist die Mutter allenfalls bei der
Betreuung und Erziehung ihres Kindes eingeschränkt, insbesondere bezüglich der
Fähigkeit:
a.die Grundbedürfnisse ihres Kindes (Ernährung, Schlaf, Hygiene, Schutz vor
Gefahren) selbst oder durch Beizug Dritter (wer?) nachhaltig und adäquat
sicherzustellen;
b.die Bedürfnisse des Kindes von den eigenen zu unterscheiden, diese richtig zu
interpretieren und angemessen darauf zu reagieren;
c....
oder andere Konzepte von Kindeswohl (z.B. Dettenborn, Hegnauer)
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IV. Gutachtensprozess
2. Rezeption von Gutachten
1. durch KESB
Ein Gutachten ist:
•eine Expertenabklärung von definierten Fragestellungen im Auftrag der
KESB/eines Gerichts im Zeitpunkt X bzw. über den Zeitraum Z
•prozessual: Teil einer delegierten Sachverhaltsabklärung
•inhaltlich: eine gedankliche Konstruktion im Grenzbereich zwischen
Psychologie (emiprirische Wissenschaft) und Recht (normative
Wissenschaft) (vgl. Kling, FamPra 3/2009, S. 620)
•eine Empfehlung, der gefolgt, von der aber auch mit guten Argumenten
abgewichen werden kann
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IV. Gutachtensprozess
2. Rezeption von Gutachten
2. durch betroffene Personen bzw. Parteien
•Eltern/Jugendliche und viele Rechtsvertreter neigen dazu, die
Empfehlungen eines Gutachtens auf eine höhere Stufe zu stellen
als den Entscheid der KESB > Erklärungsansätze:
–
ungenügend begründete KESB-Entscheide
–
Expertenwissen wird höher eingestuft > Gutachten sind ja auch
teurer als KESB-Entscheide!
–
lineares Verständnis von Ursache-Wirkung statt zirkulärer
Denkmodelle
–
Aversion gegen (unaufgelöste) Widersprüche
–
interessengerichtete Lesart (Was spricht für meine Position?)
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IV. Gutachtensprozess
2. Rezeption von Gutachten
3. durch Rechtsmittelinstanzen
•Rechtsmittelinstanzen werten Aussagen in Gutachten oft höher
als begründeten Entscheide einer KESB:
“Die Vorinstanz stützte ihren Entscheid hauptsächlich auf das
Gutachten von …, in welchem im Wesentlichen ausgeführt wird …”
•Erklärungsansätze:
–ungenügend begründete KESB-Entscheide
–Selbstverständnis der in der Regel monodisziplinär
zusammengesetzten Rechtsmittelinstanz
–Gutachtenszwang imErwachsenenschutz (Entzug Handlungsfähigkeit,
umfassende Beistandschaft) strahlt in Kindesschutz aus
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V. Fazit
•Kindesschutz ist hochkomplex, findet in einem dynamischen und
emotional aufgeladenen Umfeld statt
•Kindesschutzfälle gelangen meist in eskaliertem Status zur KESB
•Betroffene sind in der Regel belastet und ambivalent
•Risikobuerteilung ist insbesondere im Anfangsstadium einer
Abklärung sehr schwierig
•das Fundament des “Kindeswohls” ist unscharf und mehrdeutig
bzw. in hohem Masse auslegbar
•Akteure in professionellen Netzwerken arbeiten in/mit
unterschiedlichen Logiken
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V. Fazit
…
•rechtlicher und faktischer Druck, gutachterlich abzuklären nimmt
tendenziell zu
•Prozessteuerung und Kommunikation durch KESB unter
Einbezug der Betroffenen und Akteure ist hohe Bedeutung
beizumessen
•Implementierung eines Risikomanagements in Anlehnung an
Critical Incidence Reporting Systems (CIRS) sind zu erwägen*
• innerhalb KESB
• innerhalb des konkreten Netwzwerks eines Falles
*Gerlach/Hauri/Iff, Fehler und kritische Zwischenfälle im Kindesschutz, ZKE 4/2016, S. 309
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V. Fazit
... es ist schwierig ...
Art. 11 BV
„Kinder und Jugendliche haben Anspruch
auf besonderen Schutz ihrer Unversertheit
und auf Förderung ihrer Entwicklung.“
... es lohnt sich!
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