Bewegung muss Spaß machen

THEMEN DER ZEIT
KOMMENTAR
Prof. Dr. phil. Ansgar Thiel, Universität Tübingen
Die Anzahl der Menschen, die sich nicht bewegen, ist viel zu hoch.
Dennoch wird noch zu wenig nach den Gründen der Inaktivität geforscht. Ein
Plädoyer dafür, den Spaß an der gesundheitsförderlichen Bewegung zu finden.
D
ie drastischen Folgen körperlicher Inaktivität für die Gesundheit der Bevölkerung haben das renommierte Fachjournal The Lancet
jüngst dazu bewogen, sich dem Thema
Bewegung zu widmen. Die Editoren Pamela Das und Richard Horton fordern
dabei von Politik und Wissenschaft klar
wa mit einem Lebenswandel, sondern
sie ziehen sich eher zurück, essen mehr
und vermeiden Bewegung und Diäten.
Die Stigmatisierung des „Unfitten“
beginnt meist schon in der Kindheit.
US-Amerikanischen Studien zufolge
scheint insbesondere im Sportunterricht abwertendes Verhalten gegenüber
sen – stecken sich bei ihren Freunden
mit Inaktivität (und eben nicht Aktivität)
an. So haben die Ökonomen Carrell,
Hoekstra und West herausgefunden,
dass sich schlechte Fitness von Person
zu Person ausbreitet, denn die Menschen imitieren das Ernährungs- und
Bewegungsverhalten ihrer am wenigs-
SPORTMEDIZIN
Bewegung muss Spaß machen
und deutlich: Es ist an der Zeit, die gesundheitsbezogenen Konsequenzen
körperlicher (In-)Aktivität ernster zu
nehmen. Fakt ist: Die Anzahl der Menschen, die es nicht schaffen, sich regelmäßig und dauerhaft zu bewegen,
ist noch immer desillusionierend hoch.
Deshalb wurde hierzulande vermehrt in
die sogenannte Sedentariness-Forschung investiert. Doch die Frage, was
genau inaktive Menschen an der Bewegung hindert, scheint die Wissenschaftler im Moment gar nicht so sehr
zu interessieren. „In“ sind vielmehr
Fragen wie: Wie viel Zeit können Menschen maximal sitzend verbringen, ohne ihre Gesundheit zu gefährden?
Anstatt dieser Denklogik zu folgen,
plädieren wir für gesundheitspolitische
Anstrengungen, die auf die Erforschung der Barrieren körperlicher Aktivität setzen, insbesondere bei den hartnäckig bewegungsabstinenten Gruppen. Ein ganz wichtiger, wenngleich
noch kaum erforschter bewegungshinderlicher Faktor scheint der Mangel an
Spaß an der Bewegung zu sein.
Ergebnisse der Adipositasforschung
deuten auf einen sehr einflussreichen
Bewegungsspaß-Killer: den erhobenen
Zeigefinger, das Warnen und Beschämen der „Un-Fitten“. So reagieren adipöse Menschen auf stigmatisierende
gewichtsbezogene Kritik häufig nicht et-
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„Un-Fitten“ durch Gleichaltrige, aber
auch durch Lehrkräfte, kein Ausnahmefall zu sein – mit drastischen Folgen. So führt die Abwertung von unsportlichen oder stark übergewichtigen
Kindern offenbar zu einer nachhaltig
reduzierten Bewegungsmotivation, zu
einer negativen Einstellung zu Sport
und Bewegung und zu körperlicher Inaktivität. Wenn diese Personen im Erwachsenenalter von ihren Ärzten Bewegungsprogramme verordnet bekommen, dann verändert das selten das
negative Verhältnis zu körperlicher Aktivität. Oft wird die Abneigung sogar
noch verstärkt, denn die präventiven
körperlichen Übungen werden in vielen
Fällen als rein funktional, ernsthaft und
oft sogar als einsame Angelegenheit
wahrgenommen. Von Spaß ist da keine
Rede. Im Erwachsenenalter gemeinsam
Spaß zu haben, passiert – wie wir
jüngst in einer Studie herausgefunden
haben – meist sitzend; es wird geredet, gegessen, getrunken – körperliche
Aktivität stört eher, sogar in bewegungsanregenden Settings wie beispielsweise am Strand. Anders als übrigens bei Kindern, die, egal wie dünn
oder dick sie sind, sich in bewegungsfördernden Umwelten gegenseitig im
fröhlichen Bewegungsspiel mitreißen.
Erwachsene dagegen – und das
sollten Ärzte, Lehrer und Politiker wis-
ten fitten Freunde. Deren Fitness wird
als Benchmark für die eigene Fitness
angesehen. Die Regel scheint: Wenn es
sich die Freunde erlauben, auf die
(subjektiv gesehen) freudlosen Vorgaben eines gesunden Lebensstils zu
pfeifen, dann ist es für einen selbst
leichter, das auch zu machen, ohne ein
schlechtes Gewissen zu haben.
Der Mangel an Spaß, den gerade inaktive Menschen bei Sport und Bewegung empfinden, stellt also eine wichtige Herausforderung für die Gesundheitsvorsorge dar. Will man bewegungsabstinente Menschen zu regelmäßiger körperlicher Aktivität bringen,
dann reicht es nicht aus, Appelle zu
formulieren, Strafen zu verhängen oder
öffentliche Trainingsgeräte bereitzustellen. Public-Health-Experten sollten vielmehr erforschen, wie gesundheitsförderliche Bewegung mit Spaß kombiniert werden kann, so dass auch die
„Un-Fitten“ körperliche Aktivität als belohnend erleben und nicht als Qual.
Und die Politik beziehungsweise die
Gesundheits-, Kultus- und Wissenschaftsministerien sollten es den Wissenschaftlern ermöglichen, diese für
die Gesellschaft so wichtige Frage zu
beantworten.
Koautoren: Prof. Dr. med. Andreas Nieß,
Prof. Dr. med. Stephan Zipfel, Universitätsklinikum Tübingen
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 48 | 2. Dezember 2016