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LES Titelseite 04-2016.indd 1
Lesart
UNABHÄNGIGES JOURNAL FÜR LITERATUR
2 3 . J a h r g a n g H e f t 4 / 2 016 W i n t e r
09.11.2016 09:23:12
Editorial
»Das Lesen nimmt so gut wie das Reisen die Einseitigkeit
aus dem Kopfe.«
Jean Paul
»Mein Bruder
war der Gott
des Tanzes.«
Liebe Leserin, lieber Leser!
Wenn langsam immer mehr bunte Blätter auf den Straßen und in den Parkanlagen verschwinden, ist der Winter nicht weit. Man sagt, jetzt beginnt die dunkle Jahreszeit, Eis und Schnee werden kommen. Das ist sicher. So wie jedes Jahr. Und so
wie jedes Jahr ist zum Jahresende hin das Literatur-Angebot beträchtlich angestiegen, zur Freude vieler Leserinnen und Leser, die besonders die vorweihnachtliche
Zeit zum gemütlichen Einkaufsbummel durch die Buchläden genießen. Und wieder
einmal haben wir ein randvolles Heft mit empfehlenswerten Büchern zusammengestellt, das die Orientierung im unübersichtlichen Büchermeer erleichtern wird. Es
sind wundervolle Romane und beeindruckende Sachbücher dabei. Sie werden
schon beim Durchblättern des Heftes eine, wie man sagt, Qual der Wahl erleben!
Text
570 Seiten. Klappenbroschur. € 15,95
Die Augsburger Freizeit-Vereinigung »Alles Bingo« hatte bei uns angefragt, ob
wir einen Vorschlag zur Freizeitgestaltung für die hektischen Shopping-Wochen
im Dezember hätten. Wir kramten aus einer alten Kiste die abgebildete Postkarte hervor, die neun Szenen des Zirkus Barnum-Bailey auf der Vorderseite enthält.
Das fanden wir wirklich eine schöne unterhaltsame Alternative zum Glühwein-Trinken. Es wird sich auch in Ihrer Nähe sicher ein durchreisender Zirkus ausfindig machen, der spektakuläre Wunderdinge darbietet. Es muss ja nicht immer »der Mann
mit dem harten Schädel« auftauchen, der vielleicht zur robusten Nachahmung verleitet. Spannender ist dagegen ein flotter Rechenkünstler oder auch die mysteriöse
»japanische Zauberin«, deren Tricks man bestaunen, vielleicht auch durchschauen
darf. Aber eine riskante Befragung der »Miss Delphi« nach der eigenen Zukunft
dürfte für Überraschungen sorgen. Kleine Kinder allerdings sollte man vom trübsinnigen »Pudelmenschen« fernhalten, denn das Gebell könnte verschrecken wie
ebenso der verstörende Anblick der »bärtigen Dame«. Aber vielleicht empfiehlt
sich doch besser ein Besuch im Zoo!
Eva Stachniak bereitet einer großen russischen Heldin die Bühne:
Bronislawa Nijinska, Schwester
des legendären Waslaw Nijinsky
und selbst gefeierter Star der
Ballets Russes.
Ein Roman über zwei ungleiche Geschwister, über den unbedingten Willen zum Erfolg –
und über die Liebe zum Tanz,
die alles andere überstrahlt.
Wir wünschen recht entspannte Winterwochen!
Die nächste Lesart-Ausgabe erscheint Mitte März 2017
Rangsdorf bei Berlin, November 2016
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www.insel-verlag.de
Roman
Beim Herrn der zehntausend Jahre
Der neue Roman von Christoph Ransmayr führt an den chinesischen Kaiserhof
E
r will keine noch so kostbaren Preziosen, kein neues Spielzeug aus Gold
und Jade — er will ihren Kopf: ihre
Phantasie, ihre unerschöpfliche Erfindungsgabe, eine Kunst, die kein anderer so beherrscht wie Alister Cox mit seinen drei
Gefährten, begnadeter Automatenkonstrukteur und Uhrmacher aus England. Qiánlóng, der Kaiser von China, der Gottgleiche, Herr der zehntausend Jahre — wie nur
einer seiner zahlreichen Titel und Ehrennamen lautet, holt sie an seinen Hof nach Beijing, um sich von ihnen seinen ultimativen
Traum erfüllen zu lassen, die »Uhr aller Uhren«, die »zeitlose Uhr«, die niemals stillstehen werde, auch in unabsehbar ferner Zukunft nicht, und dies ohne äußeres Zutun,
ohne wie auch immer geartete Energiezufuhr: ein Perpetuum mobile.
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Unter den Büchern von Christoph Ransmayr
ist dieses wiederum etwas ganz Besonderes. Es geht um Zeit und Ewigkeit, Vergänglichkeit und Dauer. Wie können Uhren, diese Präzisionsinstrumente, den Ablauf der
Zeit so messen, dass sie das wechselnde
Tempo gemäß dem unterschiedlichen Empfinden in verschiedenen Lebensphasen des
Menschen anzeigen? Einem Kind mag
der Ablauf der Minuten und Stunden allzu langsam vorkommen, während ein Liebender, ein Kranker, ja ein zum Tode Verurteilter das Verrinnen des Zeit als Eiltempo
empfindet, das ihm alles raubt, was ihn ans
Leben bindet. Ist nicht die Sehnsucht nach
Ewigkeit die Triebfeder allen menschlichen
Tuns? Würden wir sonst so viel Energie und
Ausdauer an alles wenden, was uns wirklich am Herzen liegt? Darüber lässt der Er-
zähler nicht nur den berühmten Uhrenbauer nachdenken, sondern auch den Kaiser
von China.
In einer bilderreichen, gehobenen, ungewöhnlich schönen Sprache, wie wir es von
der Prosa des österreichischen Autors Christoph Ransmayr seit langem gewohnt sind —
denkt man nur an die Romane »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die
letzte Welt« oder »Morbus Kitahara« —, reihen sich Szenen aneinander, die ein phantastisch ausgeschmücktes Panorama der
Welt am chinesischen Kaiserhof in der Verbotenen Stadt entwerfen. Dazu verwandelt er sich eine Figur nach historischem
Vorbild an: James Cox (1723-1800), seines Zeichens Konstrukteur kostbarster Automatenuhren, die an den Herrscherhöfen
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Roman
Europas für Furore sorgen und durch die
Ostindien-Kompanie bis ins ferne Asien gelangen. So wecken sie auch die Begehrlichkeiten des Kaisers Qiánlóng. Und tatsächlich befindet sich in der Verbotenen Stadt
eine der größten Sammlungen prunkvoller
Uhren und Automaten aus Europa. Der Kaiser scheut keine noch so hohen Ausgaben,
stellt Gold und Silber, Jade, Diamanten,
Rubine und Saphire zur Verfügung, soviel
Master Alister Cox, wie er nun als Romanfigur heißt, in seiner Werkstatt davon bedarf. Ransmayr fängt die Atmosphäre am
Kaiserhof und in der nächsten Umgebung
des Gottgleichen so ein, als sähe man Filmsequenzen vor sich: Die Farben leuchten in
Purpur und Rubinrot, azurblau sind die Seidengewänder der Konkubinen, ein dunkles Smaragdgrün verleiht der Ausstattung
Glanz. »Cox oder Der Lauf der Zeit« ist ein
Buch der Sinnesfreude. Der Erzähler schafft
eine opulente Szenerie voller eindrücklicher Schönheit.
Während die 3000 Eunuchen am Hofe, ja
selbst die Mandarine sich dem Kaiser nur
gebeugt und mit niedergeschlagenem Blick
nähern dürfen, zeichnet der Höchste die
vier Gäste aus England über alle Maßen
aus, indem sie ihm auf Augenhöhe begegnen dürfen, ja indem er sie sogar selber in
ihrer Werkstatt aufsucht und sich mit dem
Meister über den Fortgang der Arbeit berät. Er befiehlt, ihnen alle Wünsche zu erfüllen und allen Komfort zu bieten, sie gar
mit einer bewaffneten Eskorte zur Großen
Mauer zu begleiten, weil Cox dieses Weltwunder als Modell für eine seiner ausgefallenen Uhren zu verwenden beabsichtigt.
Die höchste Gunst bezeigt der Kaiser den
Europäern, als er sie
einlädt, mit dem gesamten Hofstaat in
die Sommerresidenz
Jehol aufzubrechen,
am Rand der Inneren Mongolei. Dorthin zieht der Hof in
jedem Frühjahr in einer prachtvollen, kilometerlangen Prozession mit tausenden
Pferden,
Elefanten
und Sänften. Die Lieblingsuhren des Kaisers müssen ihn ebenso begleiten wie seine
tausend Konkubinen.
Und dort, in der zauberhaften Landschaft
am Heißen Fluss, weiht Qiánlóng sie eines
frühen Morgens in seinen bisher unausgesprochenen Traum ein, eine solche Uhr zu
besitzen, die ihren Lauf niemals mehr enden würde. Es ist wohl dieser Augenblick,
da Cox begreift, dass auch der Kaiser von
China nur ein Mensch ist, seiner Endlichkeit sich bewusst und begreifend, dass er
eines Tages nicht mehr da sein wird. Doch
sein Begehren ist es, Herr über Anfang und
Ende der Zeit zu sein. Und so soll die »Uhr
aller Uhren« über ihn hinausweisen in die
Ewigkeit. Zugleich ist Qiánlóng ein Dichter,
der jeden seiner Tage damit beginnt, seine
Träume in Poesie zu verwandeln, die Gedichte in ausgewählt schöner Kalligraphie
abschreiben zu lassen und seiner Existenz
auch dadurch Dauer zu verleihen.
Christoph Ransmayr hat,
wie er in einer Nachbemerkung zum Buch schreibt, mit
einem chinesischen Freund
eine Reise in die Gelben
Berge von Huáng Shán unternommen (im Gegensatz
zum historischen James
Cox, der nie in China war).
Dort begann seine Phantasie zu arbeiten, was am
Ende »zur Erfindung eines
Landes führte«, das den
Namen China trägt. Mit eigenen Augen überzeugt er
sich von der fremdartigen,
harmonischen Schönheit
der Natur, die sein Roman
»Cox oder Der Lauf der
Zeit« in lebhaften Schilderungen vor uns erstehen lässt: das Reich der
Mitte. Jehol, die Sommerresidenz mit der
unvorstellbaren Pracht ihrer dreißig Paläste, Pagoden und Pavillons, ausgestattet in
den rotgoldenen Farben der Dynastie, wird
allein schon zum Lektüregenuss. Wichtiger
noch sind aber die Sehnsüchte, die sich im
Inneren der Figuren stauen: Alister Cox hat
in London seine fünfjährige Tochter Abigail
durch Krankheit verloren. Und seine junge Frau Faye, in der Heimat zurückgeblieben, war durch den Tod des einzigen Kindes für immer verstummt. Diesen Schmerz
kann er nie verwinden. Alles, was er im Auftrag des Kaisers von China tut, geschieht im
Grunde als Totenehrung für sein Kind, als
Liebeserklärung an seine Frau. Selbst die
schönste Konkubine des Kaisers, die anmutige Kindfrau Ān, eine atemberaubende Erscheinung, der Cox in den langen Monaten seines Aufenthalts mehr als einmal
begegnet, kann seinen Sinn nicht von der
Erinnerung an diese liebsten Menschen
abziehen. So baut Master Cox im luxuriösen »Pavillon der vier Stege«, inmitten eines Lotosteichs, zusammen mit seinem Freund Merlin und den Gehilfen an
jenem Wunder der »zeitlosen Uhr«, die
— mit Unmengen von Quecksilber betrieben — auf geringste Veränderungen des
Luftdrucks reagieren und so die Vision
vom unendlichen Lauf der Zeit aufrechterhalten soll.
Monika Melchert
Christoph Ransmayr: »Cox oder Der Lauf der
Zeit«, Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.
2016, 304 S., Leinen, € 22.
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Roman
Das Herz am rechten Fleck
Jami Attenbergs frivol-rührender Tagebuchroman »Saint Mazie«
R
omanfiguren sind luftgeborene Fantasiewesen mit Worten skizziert. Mazie Phillips ist aus Fleisch und Blut. Die
Frau, die den Lesern in Jami Attenbergs neuem Roman begegnet, ist das, was man im
Volksmund ein Original nennt. Selten ist einer Autorin eine Figur gelungen, die in kurzen Tagebucheinträgen und Zeitzeugenberichten von Weggefährten derart plastisch
wird. In den eiskalten New Yorker Winternächten und den verrauchten Untergrundspelunken der Stadt, im und um den Big Apple von Wohnung zu Wohnung ziehend,
wird die Wärme von Mazies Charakter beinahe physisch, ihre Stimme in den kurzen
Abschnitten plastisch und vertraut.
Mazie Philips hat tatsächlich gelebt —
im New York der 1920er und 1930er Jah-
re wurde sie als warmherzige Kinobesitzerin, die sich des Abends und Nachts nach
Dienstschluss um die obdachlosen Männer
auf der Straße kümmerte, eine lokale Berühmtheit, deren Ruf durch die Jahrzehnte
nachhallt. Jami Attenberg, die mit ihrem tragikomischen Familienroman »Die Middlesteins« einem internationalen Publikum bekannt wurde, belebt Mazies Geschichte
und verschafft ihr durch die Tagebuchform
eine Legitimität, die beinahe vergessen
lässt, dass es sich hier trotz realer Einflüsse um Fiktion handelt. Lediglich einige Eckdaten und vor allem Joseph Mitchells Essay »Mazie«, der im Dezember 1940 im
New Yorker erschien, dienten Attenberg
als Grundlage für ihr fiktives (Selbst-)Porträt
in Skizzen. Und wie in »Die Middlesteins«
zeigt sich die Autorin als aufmerksame Be-
obachterin von problematischen Familienstrukturen und deren Auswirkungen auf die
nachfolgende Generation.
Mazie ist zehn Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester Jeanie von ihrer großen Schwester Rosie und
deren Mann Louis von Boston nach New
York geholt wird. Fort von einem nur vage
angedeuteten missbrauchenden Elternhaus, hinein in ein Leben, in dem die große
Schwester zur Mutter wird und es die kleine
schon als Kind fortzieht.
Mazie ist tough, sie prügelt sich mit den
Jungen und Mädchen der Nachbarschaft
in der Lower East Side. Später dann, als
junge Erwachsene, arbeitet sie zunächst im
Bonbonladen, dann im Kino ihres Schwa-
George Benjamin Luks (1867—1933) »Hester Street«, 1905
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Roman
gers Louis, über dessen Geschäfte niemand so recht Bescheid
weiß. Gerne trinkt sie mit den Männern des Viertels einen über
den Durst. Doch niemals lässt sie sich ausnutzen, sie entscheidet,
wen sie küsst, mit wem sie schläft (»...wieso sollte ich einen wollen, der mich liebt, wenn ich auch drei haben kann?«). Sie streift
umher, sieht das Elend der Straße und lernt die Nonne Schwester Te kennen, mit deren Hilfe sie zunächst versucht, eine rauschgiftsüchtige Mutter und dann noch viele andere Seelen von der
Straße zu retten. Die promiskuitive Jüdin und die katholische
Nonne werden Freundinnen, in den 1920er Jahren eine Konstellation, die mit Sicherheit der Magie New Yorks zugeschrieben werden darf. Vereint sind sie in ihrem Impuls, den Menschen
auf der Straße zu helfen.
Mazie hilft, wo sie kann. Ihre
Geschichte, ihr Mangel an Berührungsängsten, ihre Beherztheit sind
es, mit denen sie jedermanns Vertrauen gewinnt. Nach Louis‘ Tod
wird sie zur Kinobesitzerin und
bleibt doch die zugängliche Kassiererin. Außerhalb ihres Kassiererhäuschens lebt sie wild, versteht
es, sich zu vergnügen. Als die psychische Verfassung ihrer Schwester sich durch den Verlust ihres
Gatten immer mehr zutage tritt, bildet die Straße für Mazie den Ausgleich. Als die bitteren Tage der
Wirtschaftskrise die Stadt beuteln, öffnet sie für die obdachlosen
Männer auch einmal das Kino für eine kostenlose Vorstellung.
»Saint Mazie« ist ein Plädoyer für Herzenswärme und den
gesunden Menschenverstand. Mazie ist so etwas wie eine gewöhnliche Heilige, falls es so etwas geben kann, eine beherzte
Frau, die gerne einmal mit ihren Schützlingen die Nacht durchzecht, aber logische Schlüsse zieht und klug handelt. Die Außensicht auf den Charakter, jemand, der ihr Tagebuch findet, Auszüge aus ihrer »Autobiographie«, die der (fiktive?) Verleger für
»unbrauchbar« hält und »Zeitzeugenberichte« von Menschen,
die ihr Leben eine Zeitlang teilten, liefern wichtige Fragmente
zur Einbettung ihrer Geschichte und stützen ihr Porträt. Eine Personenübersicht wäre für die Leser zur Einordnung hilfreich gewesen, darauf wurde möglicherweise aber auch deshalb verzichtet, um die Illusion zu wahren, es handle sich hier um tatsächliche
Aussagen.
»Saint Mazie« ist ein wunderbarer Roman über eine wunderbare Person. Mazie erlebt viele Tragödien und Verluste, sie
wird herb enttäuscht und verletzt, ihrer Offenheit und ihrer Hilfsbereitschaft tut dies jedoch keinen Abbruch. Dies macht »Saint
Mazie« zu einem Roman, der sich — ob nun gewollt oder zufällig — aktuell als starkes Gegenargument zu jeglichem Exklusionsstreben, persönlich oder politisch, lesen lässt.
TaTjana SchmidT
Jami Attenberg: »Saint Mazie«, Roman (a. d. Englischen von Barbara Christ),
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2016, 384 S., ¤ 24.
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Aus dem Englischen
v. Claudia Wenner.
335 S. Geb. € 21,95
ISBN
978-3-406-69803-3
„Adiga ist ein Maxim Gorki der Globalisierung, ein moderner Rudyard Kipling, der
erwachsen geworden ist und wütend. Bei
ihm liegt die Zukunft des Romans.“
John Burdett
315 S. Geb. € 21,95
ISBN
978-3-406-69740-1
„Ebenso leise wie eindringlich beschreibt
Sabine Gruber in vielen großartigen Momentaufnahmen, welche Herausforderung
es ist, nicht‚ mit dem Krieg, sondern mit
dem Frieden fertig zu werden.“
Christa Gürtler, Die Furche
C.H.BECK
WWW.C H BE C K .D E
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Sachbuch
Der Erfolgreiche und das Genie
Andreas Rumler erzählt vom Arbeitsbündnis zwischen Feuchtwanger und Brecht
S
ie waren in ihrer Lebensart sehr verschieden. Was sie jedoch verband,
war das nie endende Ringen um
künstlerische Vollendung. Der 13 Jahre Ältere, Lion Feuchtwanger, blieb seit seinem
Roman »Jud Süß« ein Bestsellerautor, dessen Bücher in über 20 Sprachen übersetzt
wurden. Auch in seinen Exiljahren umgab
ihn bürgerlicher Wohlstand. In Berlin, im
südfranzösischen Fischerort Sanary oder
an der Pazifikküste Kaliforniens wohnte er
bis zu seinem Tod im Jahr 1958 in prächtigen Villen, umgeben von Bücherwänden
und seiner schönen Frau Marta. Der Jüngere, Bertolt Brecht, war ein Theatergenie. Ein
unruhiger, egomanischer Charakter blieb
er, stets umgeben von seinen Geliebten
und Mitarbeiterinnen und schon seit seinen
Augsburger Tagen ein
politisch wacher Beobachter seiner Zeit. Beide
Schriftsteller erkannten
rasch, wie sehr sie sich
künstlerisch ergänzten.
Seit der etablierte Feuchtwanger dem
jungen unbekannten
Brecht mit seinen ersten
Bühnenwerken (»Trommeln in der Nacht« und
»Baal«) zum Durchbruch verholfen hat, besteht diese neidlose und
von gegenseitiger Sympathie getragene Künstlerfreundschaft. In
endlosen und nicht selten lauten Streitgesprächen debattieren sie ihre Manuskripte und die Zeitenläufe. »Brecht war mir
trotz aller Gegensätzlichkeiten sehr nah«,
wird Feuchtwanger in einem Kondolenzbrief an die Brecht-Witwe Helene Weigel
schreiben. Für den Münchner Romancier
ist der Augsburger Dramatiker ein »Genie«. Brecht wiederum notiert im »Arbeitsjournal«, Feuchtwanger habe »sinn für konstruktion, versteht sprachliche feinheiten zu
schätzen, hat auch poetische und sprachliche einfälle, weiß viel von literatur, respektiert argumente und ist menschlich angenehm, ein guter freund.«
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Sie schreiben zusammen Theaterstücke (»Leben
Eduards des Zweiten von England« oder »Die Gesichte der Simone Marchard«). Feuchtwanger hilft
Brecht in den Flucht- und Exiljahren finanziell. Der bürgerliche Brecht agitiert den bürgerlichen Feuchtwanger politisch und trägt mit dazu bei, dass der Freund
den Marxismus und die Sowjetunion in den Kriegsjahren neu entdeckt. Brecht spottet gelegentlich über
den »Schriftsteller« Feuchtwanger, und dieser zeichnet in seinem großen Roman »Erfolg« mit der Figur
des Kaspar Pröckl ein ironisches Porträt Brechts. Beide glauben an die »Vernunft und den Fortschritt«.
Andreas Rumler resümiert in seinem gut recherchierten Essay: »Aus der ersten Begegnung entwickelte sich ein lebenslanges, kollegiales, ausgesprochen
produktives Arbeitsbündnis über fast drei Jahrzehnte, wie es wohl nur selten unter Autoren möglich
ist, vergleichbar allenfalls der späten Freundschaft von Goethe und
Schiller.« Er weist zu Recht darauf
hin, dass beide »in dem Bewusstsein aufwuchsen, Außenseiter, nie
recht akzeptiert zu sein: Feuchtwanger als Bürger jüdischen Glaubens
und Brecht als Linker, erleben sie
sich beide als ´Fremdlinge im eigenen Land`, wie Wolf Biermann später Hölderlin variieren wird«. Es ist
jedoch nicht nur das »Arbeitsbündnis« dieser beiden Intellektuellen,
von dem Rumler berichtet, sondern
er erzählt auch von dem Drama
des Exils, in das ein bedeutender
Teil der deutschen Geisteselite nach
1933 gezwungen wurde. Feuchtwanger und Brecht,
das wird erneut deutlich, haben mit ihren Romanen
und Dramen, ihren literarischen und journalistischen
Einwürfen mutig das Wort gegen die Gewalt gesetzt.
Thomas Mann sprach einst von »Lübeck als geistige Lebensform«, um die Nachwirkung seines Heranwachsens in der Hansestadt auf sein Schaffen und
Denken zu unterstreichen. Rumler hat diesen Gedanken mit Bedacht und treffend als Titel für seinen Essay gewählt.
Wilhelm von Sternburg
Andreas Rumler: »Exil als geistige Lebensform. Brecht + Feuchtwanger. Ein Arbeitsbündnis«, Edition A. B. Fischer, Berlin 2016,
159 S., ¤ 16,80.
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Sachbuch
Tiefbraune Schatten
»Die Akte Rosenburg« legt den Umgang des Justizministeriums mit der NS-Vergangenheit offen
E
s klingt so harmlos: »Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz«, kurz EGOWiG. Doch dieses
unscheinbare Gesetz von 1968 hatte es
in sich, denn in ihm versteckte sich eine
Vorschrift, als deren Folge Tausende von
Strafverfahren gegen Verbrecher des Nazi-Regimes eingestellt werden mussten. Begünstigt durch die höchstrichterliche Rechtsprechung in der jungen Bundesrepublik,
die, absurd genug, nur die oberste Riege
der Nazis wie Hitler, Göring oder Himmler als Mörder ansah, wurden die allermeisten Täter, auch solche, die beispielsweise
Todesurteile vollstreckten oder als ‚Schreibtischtäter‘ den Holocaust organisierten, lediglich als Gehilfen eingestuft. Und deren
Taten waren nach der Einführung des EGOWiG mit einem Schlag verjährt.
Lange war unklar, ob der Kopf hinter
dem fatalen Gesetz, der Ministerialdirigent
Eduard Dreher, diese »Justizpanne« versehentlich verursacht oder zielgerichtet initiiert hatte. Doch nun hat die »Unabhängige Wissenschaftliche Kommission«, die seit
2012 im Auftrag des Bundesjustizministeriums dessen früheren Umgang mit der
NS-Vergangenheit untersucht hat, Belege
dafür gefunden, dass Dreher ganz bewusst
gehandelt haben muss. Und er dürfte von
seinem eigenen Gesetz nicht zuletzt auch
selbst profitiert haben, denn im »Dritten
Reich« hat er sich als Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck die Hände im braunen
Sumpf ziemlich schmutzig gemacht, indem
er selbst für Bagatelldelikte wie Lebensmittel- oder Kleiderkartendiebstahl die Todesstrafe forderte.
Eduard Dreher war freilich bei weitem nicht der einzige NS-Jurist im neu errichteten Bundesjustizministerium. Von den
170 Beamten, die vor 1927 geboren worden waren und die auf Referatsleiterebene und höher im Ministerium tätig waren,
hatten zwischen 1949 und 1973 im Durchschnitt mehr als die Hälfte eine einschlägige Nazi-Vergangenheit. Die Leiter der Wissenschaftlichen Kommission, der Potsdamer
Historiker Manfred Görtemaker und der Er30
langer Strafrechtler Christoph Safferling,
haben sich in ihrer Untersuchung aber natürlich nicht aufs Nazi-Zählen beschränkt.
Vielmehr wollten sie wissen, ob und, wenn
ja, wie sich das nationalsozialistische Denken jener Juristen auf die Gesetzgebung
der Bundesrepublik auswirkte. Die eindrucksvollen Ergebnisse ihrer Studie liegen
jetzt in ihrem Abschussbericht, der »Akte
Rosenburg«, vor.
Dass überhaupt so viele Nazi-Juristen
eingestellt worden waren, führen Görtemaker und Safferling auf eine Art Schlussstrich-Mentalität in den 50er Jahren zurück. Man wollte die NS-Vergangenheit am
liebsten vergessen und zur Tagesordnung
übergehen. Um so schnell wie möglich einen effizienten öffentlichen Dienst aufzubauen, empfahl selbst Bundeskanzler Adenauer 1949, sich der erfahrenen Beamten
aus den Reichsministerien zu bedienen und
der Unterscheidung zwischen »politisch Einwandfreien und Nichteinwandfreien« möglichst wenig Gewicht beizumessen. Und so
achtete man auch im Justizministerium bei
den Einstellungen mehr auf fachliche Eignung als auf frühere NS-Verstrickungen.
Was hinter den Mauern der idyllisch
gelegenen Bonner Rosenburg, dem Sitz
des Justizministeriums bis 1973, ausbaldowert wurde, offenbarte jedoch zunächst
einmal ein bemerkenswertes Engagement
der Beamten, NS-Täter vor Verfolgung und
Bestrafung zu schützen. Nicht nur das Dreher-Gesetz, sondern auch zwei Straffreiheitsgesetze führten dazu, dass sehr viele
von ihnen ungeschoren davonkamen. Um
mutmaßliche Kriegsverbrecher vor internationalen Ermittlungsverfahren zu warnen, wurde eigens die »Zentrale Rechtsschutzstelle« eingerichtet, die allerdings
1953 ans Auswärtige Amt ging.
Auch auf andere Gesetze wirkte sich
die nationalsozialistische Prägung der Beamten aus. So wurde beispielsweise die
im Nationalsozialismus verschärfte Strafbarkeit der Homosexualität beibehalten,
anstatt das Sexualstrafrecht zu liberalisieren, wie andere Staaten es taten. Das
Staatsschutzstrafrecht, also Delikte wie
Hochverrat oder Staatsgefährdung, war
von den Alliierten bereits abgeschafft worden, wurde jedoch wieder eingeführt und
im Vergleich zur NS-Version nur leicht abgemildert. Und im Zuge der Planung eines geheimen Kriegsrechts waren im
Justizministerium Notverordnungen formuliert worden, deren weitgefasste Befugnisse jenseits jeder Verfassungsmäßigkeit lagen.
»Die Akte Rosenburg« zeigt, was eine
sachliche und gründliche Aufarbeitung der
dunklen Vergangenheit leisten kann: Sie
trägt nicht nur zum Verständnis der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik bei,
sondern verdeutlicht, dass ein konstruktiver
Umgang mit dem historischen Erbe unabdingbar für die Gestaltung der Gegenwart
wie der Zukunft ist.
Karin Wieprecht
Manfred Görtemaker, Christoph Safferling: »Die
Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz
und die NS-Zeit«, Verlag C.H.Beck, München 2016,
588 S. mit 19 Abbildungen, ¤ 29,95.
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Sachbuch
Mythos und Moderne
Der Kunsthistoriker Ekkehard Mai blickt auf das Werk Anselm Feuerbachs
D
ass der Maler Anselm Feuerbach
(1829-1880) ein ziemlicher Exzentriker war, ist bekannt. Wie beeindruckend vielfältig, subtil und anspruchsvoll
sein Werk aber tatsächlich zu sehen ist, das
zeigt uns der Kunsthistoriker Ekkehard Mai
in seiner neuen, im Böhlau Verlag erschienenen Publikation »Anselm Feuerbach. Ein
Jahrhundertleben«. In zehn Kapiteln, vom
Biographischen bis zur Verortung innerhalb der Kunstgeschichte, zeichnet Mai
das Bild eines Menschen, »der,
sich selbst Problem, in seinem
Ringen und Misslingen für die
Künstlerproblematik eines ganzen Jahrhunderts steht«.
Was verbindet man mit Anselm
Feuerbach? Atelierboheme, Italien natürlich, vor allem Rom.
Große Gefühle im Verhältnis des Malers zu seinem Modell Anna Risi, genannt Nanna. Ein Dandy mit Ambitionen,
gefangen im künstlerischen
Rausch. Junggeselle, selbstverliebt, schwankender Erfolg. Es
gibt der Klischees und Etikettierungen viele und es ist Mais
Anliegen, diese kritisch zu hinterfragen. Den Kokon der Feuerbachschen Stilisierung und
Verehrung gelte es aufzubrechen, so lautet das Ziel des Autors. Und als Fachmann für die
Kunst des 19. Jahrhunderts ist
Ekkehard Mai, Honorarprofessor in Köln und ehemals Kurator am Wallraf-Richartz-Museum, zweifelsfrei prädestiniert
für diese Aufgabe.
Anselm Feuerbach gilt als eine der singulären Gestalten der deutschen Malerei
im 19. Jahrhundert. Wie auch Arnold Böcklin und Hans van Marées lebt und arbeitet
er viele Jahre lang in Italien, seinem Sehnsuchtsland, in das er immer wieder zurückkehrt. Vielleicht mehr als jeder andere Maler
seiner Zeit reflektiert Feuerbach die Suche
nach neuen Konzepten der Kunst, diese be-
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stimmt die Themen und Gestaltungsweisen
seiner Bilder. Der Rückgriff auf antike Motive und Inhalte, die Beschäftigung mit Figuren wie Iphigenie und Medea, bedingte zunächst eine Zuordnung zum Klassizismus,
doch in Feuerbachs Werk geht es letztlich
um weit mehr — es geht um Kunst und Künstler, Klassik und Moderne.
Von Anfang an scheiden sich, so Mai,
an Feuerbach die Geister. Die Forschung
war (und ist) sich uneinig. Anerkennung und
Ablehnung, Lob und Verriss, es gab immer
beide Seiten. Das gilt auch für die Rezeption des Gemäldes »Das Gastmahl des Plato« (erste Fassung 1869), einem der wichtigsten Werke Feuerbachs. Mai bespricht
es ausführlich, analysiert diese »Tiefgründigkeit in Grau«, filtert zentrale Aspekte heraus und macht sie für den Leser sichtbar.
Wesentliche Positionen im Nachdenken
über die bildende Kunst der 1860er Jahre
werden erkennbar. Zentral sind Fragen wie
jene nach Technik und Gehalt, nach Wahrheit und Fiktion.
Trocken oder geschraubt ist Mais Analyse dabei nie. Im Gegenteil. Es erhöht den
Reiz der Lektüre, dass er seine profunden
Kenntnisse in einem sprachlich schwungvollen, mitunter kühnen Stil zu vermitteln weiß.
Mais Formulierungen sind pointiert und seine Zitate gut ausgewählt. Sorgfältig nimmt
er Stellung zur Forschungslage,
trennt die Anekdote vom Nachgewiesenen, verweist auf die Bedeutung der Psyche des Künstlers für die kreative Arbeit. Seine
wichtigste und wesentliche Quelle sind dabei Feuerbachs geradezu literarischen Briefe und
Bekenntnisse. Sie geben Aufschluss über die verschiedenen
Bereiche seines Schaffens. Mai
nimmt primär die Historien sowie
zum Abschluss seiner Studie die
Selbstbildnisse in den Blick. Zwei
Gattungsformen, die bei Feuerbach durchaus zu verschmelzen
vermögen. Nicht von ungefähr
schreibt Henriette Feuerbach angesichts einer privaten Nachfrage nach einem Iphigenienbild
im Oktober 1876 an ihren Stiefsohn: »Deine Iphigenie ist identisch mit Dir geworden.«
Ekkehard Mais Feuerbach-Studie liest sich, vor allem
in ihrer ersten Hälfte, wie ein
spannender Schmöker. Zugleich
aber bietet sie einen fundierten Blick auf das Werk des Künstlers. Ein
empfehlenswerter Band, auch dank seines
großartigen, umfangreichen Abbildungsmaterials.
Fiona Trede
Ekkehard Mai: »Anselm Feuerbach. Ein Jahrhundertleben«, Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2016,
216 S., 70 schwarz-weiße und 50 farbige Abbildungen, € 34,99.
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Biographie
Eine Ausnahmekünstlerin
Käthe Kollwitz lebte ein Leben gegen jede Konvention — selbstbewußt, leidenschaftlich und unerschrocken
A
uch wenn Carl Schmidt, Inhaber eines Königsberger Baugeschäfts,
wenig begeistert war von dem Vorhaben seiner Tochter Käthe, Malerei zu
studieren, stimmte er schließlich zu und finanzierte ihr die Ausbildung. Künstler, gar
Künstlerin, war nicht unbedingt das, was
die Eltern um 1886 für ihre Kinder erträumten. Käthe Schmidt, 1867 geboren, die
1891 den Arzt Karl Kollwitz heiratete, setzte sich dank ihrer großen Begabung
durch. Ihr Vater hat es nicht mehr erlebt,
daß ihr graphischer Zyklus »Ein Weberaufstand« (inspiriert von Gerhart Hauptmanns
Drama) öffentliche Anerkennung fand,
doch als ihm die Tochter die sechs Blätter
1897 zum Geburtstag schenkte, knurrte er:
»Es ist gut, du kannst doch etwas.« Schon
zwei Jahre später wurden ihre Arbeiten mit
einer Goldmedaille bedacht, und das Dresdener Kupferstichkabinett legte als erstes
Museum eine Sammlung ihrer Werke an.
Doch der Aufstieg der jungen Künstlerin war schwer. Zwar fanden der 1898 erstmals ausgestellte Weber-Zyklus und die
zehn Jahre später vollendete Folge »Bauernkrieg« (17 Radierungen) fast durchweg
Zustimmung, doch auch wenn man ihre
überragende Begabung lobte: Als »Frauenkunst« stand sie unter Vorbehalten und Vorurteilen, hatte doch 1908 einer der renommiertesten Kunstkritiker, Karl Scheffler, in
seinem Buch »Die Frau und die Kunst« befunden, Frauen mangele es grundsätzlich
an Schöpferkraft, für künstlerische Größe
fehle es ihnen an Talent und Persönlichkeit.
Beweise für diesen Unfug hatte er nicht, es
war eben so.
Der Tod ihres erst 18 Jahre alten Sohnes
Peter als Kriegsfreiwilliger des Ersten Weltkrieges beeinflußte ihre politische Überzeugung, sie engagierte sich öffentlich gegen
den Krieg, arbeitete für die »Internationale Arbeiterhilfe« und entwarf ein Denkmal
für einen Soldatenfriedhof in Belgien, das
1932 vollendet und aufgestellt wurde. Viele Graphiken — seit 1919 entstanden jetzt
auch Holzschnitte — thematisierten die sozialen Mißstände, die Not der Arbeitslosen,
Lesart 4/16
den Hunger, die Verelendung unter den Arbeitern. Das führte dazu, Käthe Kollwitz als
Kommunistin zu deklarieren, die sie aber zu
keinem Zeitpunkt gewesen ist. Gewiß, es
gibt ihr »Gedenkblatt für Karl Liebknecht«
(Holzschnitt 1920), aber diese bewegende
Darstellung gilt dem so brutal ermordeten
Arbeiterführer, dessen Politik sie aber stets
abgelehnt hatte. Ihr
Thema — seit »Weberaufstand« und
»Bauernkrieg« — ist
die Anteilnahme am
Los der Mühseligen
und Beladenen, niemals Parteipolitik.
Als erste Frau
wurde Käthe Kollwitz 1919 in die
Akademie der Künste aufgenommen.
Mitte Februar 1933,
Hitler war keine
zwei Wochen an
der Macht, erfolgte
ihr Ausschluß. Nur
die tapfere Ricarda Huch erklärte im
März ihren Austritt,
ihren Protest gegen
die massive Einmischung der Nazis in die
Belange der Akademie, und gerade sie hätten die neuen Herren so gern in dieser Institution gesehen, doch die couragierte Autorin ließ sich nicht umstimmen.
Das NS-Regime hat Käthe Kollwitz nicht
unmittelbar verfolgt, sie kam nicht auf die
Liste der »Entarteten«, aber sie durfte nicht
mehr ausstellen, auch im Ausland nicht.
Sie beschäftigte sich mit Plastiken, zeichnete Selbstbildnisse und schuf Lithographien
zum Thema »Tod«. Ihr Mann starb 1940,
ihr Enkel Peter fiel 1942 an der Ostfront, 21
Jahre alt. Wegen der zunehmenden Luftangriffe auf Berlin verließ Käthe Kollwitz im
April 1943 die Hauptstadt und zog nach
Nordhausen am Südrand des Harzes, und
als es auch dort nicht mehr sicher war, folgte sie der Einladung des Prinzen Heinrich
von Sachsen, der ihr ein Quartier in Moritzburg anbot. Hier ist Käthe Kollwitz am 22.
April 1945 gestorben, 77 Jahre alt, im Tod
ganz allein. Als die sie behandelnde Ärztin
abends nach ihr sah, war sie schon tot. Wer
heute nach Moritzburg kommt, sollte nicht
versäumen, das ärmliche Sterbezimmer im
»Rüdenhof« anzuschauen.
Nach ihrem Tod
versuchte die DDR,
Käthe Kollwitz »sozialistisch« zu vereinnahmen, während der
Westen bemüht war,
das Sozialkritische ihrer Arbeiten zu übersehen, denn so recht
wußte niemand etwas
mit einem Werk anzufangen, das sich dem
im westlichen Nachkriegsdeutschland so
beliebten ideologischen Kunstgezänk so
beharrlich entzog.
Yvonne Schymura hat das Leben von
Käthe Kollwitz in einer
soliden Biographie erzählt und auch die Geschichte ihres Nachlebens mit einbezogen. Es ist ein äußerlich
unscheinbares Leben gewesen, einzig dem
Werk verpflichtet, das in den letzten 12 Jahren ihres Daseins nicht einmal mehr öffentlich gezeigt werden durfte, das Leben eines
tapferen, beherzten Menschen lauteren
Charakters. Diese gut erzählte Biographie
(die allerdings ihren Stoff nicht wirklich ausschöpft) wird der Künstlerin gerecht. Das
Werk selber kommt vielleicht ein wenig zu
kurz, aber das Buch nennt sich ausdrücklich
»eine Biographie« und beansprucht keinen
monographischen Charakter.
Eckart Kleßmann
Yvonne Schymura: »Käthe Kollwitz, der Krieg und
die Kunst. Eine Biographie«, Verlag C.H. Beck, München 2016, 315 S., ¤ 24,95.
41
Sachbuch
Eine Amerikanische Revolution?
Michael Hochgeschwenders neue Interpretation
D
ie Amerikanische Revolution (1775
— 1783) gilt — zumeist in Verbindung
mit der Französischen Revolution —
als die große Initialzündung für das Zeitalter des Bürgertums und damit für das lange
19. Jahrhundert zwischen 1789 und 1914.
Eine nunmehr aktuelle, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre berücksichti-gende Darstellung der Prozesse
und Ereignisse, die mit dem Begriff »Amerikanische Revolution« assoziiert werden, hat
der Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung
und Kulturanthropologie an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, Michael Hochgeschwender, vorgelegt.
Mit der Unabhängigkeitserklärung vom
4. Juli 1776 und der Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. September 1787
seien — so lange Zeit die landläufige Meinung in Wissenschaft und Publizistik — die
klassischen Menschen- und Grundrechte
erstmalig von staatlicher Seite formuliert,
garantiert und in Kraft gesetzt worden; so
hätten sie insbesondere auch die philosophische und ideengeschichtliche Debatte um
maßgebliche Inhalte erweitert und ihre Funktionsfähigkeit im politischen Betrieb unter
Beweis gestellt.
»In dieser Sichtweise, die in erster Linie nach Ideen fragte
und politisch im liberalen Lager zu verorten
war, stand die Amerikanische Revolution
ohne jede Ambivalenz
für einen idealistischen
Durchbruch in die Moderne. Gerade für Amerikaner war das unter
Gesichtspunkten der
nationalen
Identität
zentral, denn diese In-
50
terpretation erleichterte es, aus den Ereignissen von 1776 einen Gründungsmythos
zu konstruieren, der gleichzeitig nach innen — im Zuge nationaler Integration — und
nach außen — hegemonial — nutzbar war.
Die USA befanden sich im eigenen Selbstverständnis von Beginn an auf der richtigen
Seite der Geschichte, nicht nur weil sie den
Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien gewonnen hatten, sondern vor allem weil
sie in einzigartiger Weise für die Ideen von
Freiheit, Fortschritt, Demokratie, Modernität
und Eigentum eintraten.«
bedürftigen Nation fest verankern und ist
seitdem eine feste und weitgehend unverbrüchliche Grundkonstante amerikanischen
Selbstbewusstseins.
Der Mythos von freiheitsliebenden und
selbstbestimmten Siedlern, die zum einen
ihr Neuland der Natur abringen, kultivieren, gegen einheimische Indianer verteidigen und ihre Existenz bei teilweise widrigen Witterungs- und Lebensbedingungen
behaupten mussten, sich andererseits aber
von der englischen Krone unangemessen —
»no taxation without representation« — behandelt fühlten, konnte sich im Selbstverständnis einer sich neu etablierenden und
eines entsprechenden Gründungsmythos
»Die einfache Geschichte von den Amerikanern als freiheitsliebenden, patriotischen
Helden auf der einen Seite und den Briten
als korrupten, arroganten und despotischen
Schurken auf der andern Seite lässt sich heute nicht mehr erzählen.«
Solange diese heroisierende Darstellung der Revolutionäre und ihrer maßgeblichen Wort- und Anführer wie George Washington, John Adams, Thomas Jefferson
oder Benjamin Franklin Historie und Publizistik beherrschte, blieben allerdings eine
ganze Reihe von relevanten Fragestellungen weitgehend ausgeblendet.
In seiner anspruchsvollen und lesenswerten Darstellung unternimmt Hochgeschwender deswegen den Versuch, die
Entwicklung des geschilderten öffentlichen
Selbstverständnisses — einschließlich publi-
John Trumbull (1756—1843), »The Declaration of Indenpendence, 4 July 1776«, 1787
Lesart 4/16
Sachbuch
kumswirksamer Rituale und Feiertage (»Independence Day«) — und die weitgehend
erhalten gebliebene Vorstellung von den
durchweg »guten«, d.h. der Moderne verpflichteten Amerikanern zu hinterfragen
und die Geburtswehen des neuen Staatswesens in den Vordergrund zu rücken,
die bis heute sowohl den Optimismus und
die Offenheit der amerikanischen Gesellschaft geprägt, andererseits aber auch die
Grundlagen für fortbestehende Sklaverei
und Rassendiskriminierung, für ungleiche
Bildungs- und Berufschancen, für soziale
und gesellschaftliche Ausgrenzung gelegt
haben.
»Die Revolution war nicht ausschließlich
auf Freiheit, Fortschritt und Moderne ausgerichtet, ihre Träger blickten nicht nur in
die Zukunft, sondern womöglich viel mehr
in eine idealisierte Vergangenheit; ... Neben den revolutionären Akteuren rückten
nun die Gegner der Revolution verstärkt in
das Blickfeld der Forschung. Welche Amerikaner kämpften aktiv gegen die Revolution,
wer blieb neutral, wie sah es mit Frontwechseln aus? ... Wem brachte die Revolution etwas, wer waren die Verlierer?«
So jedenfalls lauten manche jener kritischen Fragestellungen, die angesichts der
lange Zeit plakativen Sichtweise unberücksichtigt geblieben waren, da sie vielleicht
manche vermeintlichen Gewissheiten ins
Wanken hätten bringen können. Hierzu gehören etwa auch die Antriebe und ÜberleLesart 4/16
gungen jener Siedler, die mit der britischen
Seite kollaborierten und deren manchmal
durchaus tragisches Schicksal nach dem
endgültigen Sieg der Unabhängigkeits-bewegung mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte. Weiterhin gehört hierzu die immer wieder gestellte Frage, warum sich
angesichts der zahlreichen Gleichheitsbekundungen in den maßgeblichen Verfassungsdokumenten die Sklaverei als ein
— zumindest in den südlichen Mitgliedsstaaten des neuen Verbundes — wirtschaftliches
Instrument erhalten konnte, um erst nach einem, die Union fast sprengenden und mörderischen Bruderkrieg diesen Schandfleck
wenigstens einzuebnen — und die aktuelle Diskussion um Polizeigewalt gegen Afroamerikaner ist nur ein weiteres Indiz für die
bis heute nicht eingelösten Versprechen der
Verfassungsväter, deren Antriebe und Erwägungen bei näherem Hinsehen oftmals
sehr viel weniger altruistisch geprägt waren, als man ihnen lange zugutegehalten
hat.
Wer von Hochgeschwenders Darstellung eine primär ereignisgeschichtlich orientierte Beschreibung der politischen Entscheidungen und militärischen Geschehnisse
erwartet, wird zunächst enttäuscht werden,
zumal er ausführlich die ideen- und geistesgeschichtlichen Bezüge und die unterschiedlichen Positionen im englischen Parlament (»Tories« vs. »Whigs«) beschreibt,
die auch dem interessierten Leser durchaus
eine gewisse Geduld abverlangen.
So dauert es denn eine ganze Zeit, bis
sich der Autor mit der eigentlichen Vorgeschichte des Konflikts und den zentralen Ursachen des späteren Revolutionsprozesses
beschäftigt, die sich rund um die Folgen des
Stamp Act und schließlich der Boston Tea
Party drehen.
Bei der Darstellung der 1775 beginnenden kriegerischen Auseinandersetzungen, die oftmals von der Inkompetenz der
jeweiligen Befehlshaber und den klassischen Symptomen eines Besatzungskrieges gekennzeichnet waren, ist schließlich
der ausschlaggebende Faktor das Eingreifen des französischen Königreichs, welches
die Revanche für den gerade auch in Nordamerika verlorengegangen Siebenjährigen
Krieg 1756 — 1763) suchte. Im Namen britischer Werte von Freiheit, Rechten und Protestantismus verbündeten sich die amerikanischen Revolutionäre ausgerechnet mit
Frankreich, das spätestens im Siebenjährigen Krieg zum stereotypen Vorkämpfer
von Katholizismus, Absolutismus und Tyrannei stilisiert worden war.
Als maßgebliches Erbe der Verfassungsväter von 1787 stellt Hochgeschwender am Ende seiner Darstellung zum einen
den Destillationsprozess dessen fest, was in
der Zeit des »Kalten Krieges« und auch jetzt
wieder in der Auseinandersetzung mit dem
Islamismus als »westlicher« Wertekanon ins
Feld geführt wird, der durch solche Begriffe
wie Freiheit, Eigentum, Chancengleichheit,
soziale Mobilität und Volkssouveränität gekennzeichnet ist. Zudem konnte sich auf dieser Grundlage ein ökonomisches System
ausbilden, welches einerseits zwar den Aufstieg sozialer Gruppen begünstigte, zum
anderen aber auch soziale Ausgrenzung
und die Etablierung elitärer, sich selbst reproduzierender Strukturen begünstigte.
Weiterhin diente der seit der Revolution
tief verwurzelte Gedanke einer gleichsam
»messianischen Auserwähltheit« auch dazu,
»revolutionären Hypernationalismus, militärischen Expansionismus und ökonomischen
Imperialismus« zu legitimieren
So bleibt letzten Endes ein eher verhaltener Blick in die Zukunft Amerikas, zumal
der aktuelle Präsidentenwahlkampf wahrhaft nicht dazu angetan ist, die Werte der
amerikanischen Verfassung zu transportieren und als — vielleicht letztes — Bindeglied
einer mehr und mehr auseinanderdriftenden Gesellschaft zu verstehen.
»Für die Vereinigten Staaten von Amerika stellt die Revolution der 1770er Jahre den zentralen, sakral aufgeladenen Referenzrahmen ihrer patriotischen Identität
dar. ... Die Revolution von 1776 stand für
mehr als bloße Opposition gegenüber der
Steuer- und Abgabenlast. Sie war, ungeachtet aller egoistischer Interessen der Revolutionäre, ein verfassungsrechtliches Projekt
der Volkssouveränität und einer intensivierten Massenpartizipation ... Ohne die Revolution würde den USA neben dem Bürgerkrieg ein zentraler Bestandteil ihrer
historischen Identität fehlen.«
RobeRt Mizia
Michael Hochgeschwender: »Die Amerikanische Revolution. Geburt einer Nation 1763 — 1815«, C. H.
Beck Verlag, München 2016, 512 S., ¤ 29,95.
51
Edition
Zwischen die Fronten geraten
Ein voluminöser Band mit Briefen der Schriftstellerin Christa Wolf
A
nfang Januar 1978 befragt Christa Wolf die Freundin Sarah Kirsch,
die gerade die DDR verlassen hatte, in einem Brief nach ihren neuen Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik: »Nur
frag ich mich, wie arbeitet man ohne die
gewohnte Reibung (die ja Reibungswärme
erzeugt, die man, manchmal, in Produktionswärme umsetzen kann), und doch, und
doch, diese Dauerreibung nutzt ja auch so
unglaublich ab.« Während Sarah Kirsch
irgendwann aufgegeben hat als Spätfolge der Biermann-Ausbürgerung, hält Christa Wolf durch, sie hält die Dauerreibung
aus und braucht sie wohl tatsächlich zum
Schreiben, um ihren Gegenstand nicht zu
verlieren, ihr großes Thema, die Auseinandersetzung mit einer komplizierten, herausfordernden, einer geteilten Welt. Oft allerdings reagiert die Schriftstellerin auf diese
Dauerbelastung mit Krankheit, mit schmerzhaften Zusammenbrüchen. Gleichzeitig
aber gesteht sie ihre Trauer über diesen
Verlust von Sarah Kirsch im Brief an die gemeinsame Freundin Maxi Wander ein:
»Es wird so leer, man fängt an zu frieren.
Sie wird sehr fehlen, nicht nur mir.«
Der treffende Titel des Bandes: »Man
steht sehr bequem zwischen allen Fronten«, 1977 in einem Brief an den Freund
Lew Kopelew formuliert, spricht, sarkastisch überhöht, genau dies aus. Mit ihm,
dem russischen Schriftsteller und Dissidenten, kann sie sich immer wieder über
gemeinsame Erfahrungen verständigen.
Beiden ist die Auseinandersetzung mit
der vertrackten Realität ihrer Gesellschaft
unverzichtbares Thema. Kopelew, der
bei Heinrich Böll in Köln Zuflucht finden
wird, ist einer von denen, die Trost und
Wärme spenden.
Die Herausgeberin Sabine Wolf vom
Archiv der Akademie der Künste, die den
Nachlass Christa Wolfs bewahrt, hat aus
einem riesigen Fundus 483 Briefe an
mehr als 300 Adressaten ausgewählt;
eine immense Arbeit, allein wenn man
erfährt, dass ca. 15 000 Schreiben von
Christa Wolf über einen Zeitraum von
58
sechzig Jahren erhalten sind. Über Christa
Wolf gibt es mehrere Biografien, eine Bildbiografie, eine Doppelbiografie (sie und
ihr Mann Gerhard Wolf) – und nun diese
Briefe. Wer sich in die fast tausend Seiten
Bekenntnisse, Bekundungen, Bestandsaufnahmen eines Lebens vertieft, kommt der
Autorin darin ganz nahe. Briefe sind ein literarisches Genre, ein Teil ihres Werkes also,
und Christa Wolf ist eine leidenschaftliche
Briefschreiberin. Nicht von ungefähr wird
der Band mit dem Faksimile aus einem Kalender der Schriftstellerin eröffnet, auf dem
als Tagesnotiz nur steht: »Post, Post, Post!«
So viele Briefe mit Anfragen, Bitten, Einladungen sie auch erreichen, hat sie es sich
zum Prinzip gemacht, keinen unbeantwortet zu lassen. In manchen Jahren werden
vor allem die zahllosen Briefe von Lesern
zur Belastung, wenn körbeweise Reaktionen auf ihre neuen Bücher eintreffen. Immer
wieder erwarten sie von ihr Zuspruch und
Ermutigung, und Christa Wolf gibt sie, solange sie kann. Bis auch ihre Hoffnung auf
eine Veränderung der bestehenden Zustände in den siebziger und achtziger Jahren
immer mehr schrumpft.
Doch insgesamt enthält die Auswahl
weniger Briefe an Leser oder Verlage, dafür umso mehr an die zahlreichen Freunde.
Gerade dieser Kreis Gleichgesinnter ist es,
der es ihr ermöglicht, weiter in der DDR
zu arbeiten und auch nach 1990 nicht aufzugeben. Wunderbare Briefe der Freundschaft etwa an Günter de Bruyn und Rosemarie Zeplin, an Otl Aicher und Inge
Aicher-Scholl, an Heinrich Böll oder Erich
Fried, an Hilde Domin oder Fred Wander,
an Ingeborg Arlt oder Stephan Hermlin, an
Max Frisch oder Erwin Strittmatter, an Günter Grass oder Peter Weiss weben ein dichtes Geflecht des geistigen Austauschs. Einige Briefwechsel mit wichtigen Partnern sind
bereits früher publiziert worden, so der mit
Brigitte Reimann (»Sei gegrüßt und lebe«),
mit Franz Fühmann (»Monsieur, wir finden
uns wieder«), mit Anna Seghers (»Das dicht
besetzte Leben«) oder mit der in England lebenden Psychologin und Schriftstellerin Charlotte Wolff (»Ja, unsere
Kreise berühren sich«). Der vorliegende Textkorpus jedoch wird zu 90 %
hier erstmals veröffentlicht. Mit manchem Briefpartner steht Christa Wolf
über Jahre und Jahrzehnte im Zwiegespräch, mit anderen gibt es nur kurzzeitig Kontakt. Immer aber geht es in der
Korrespondenz neben ihrer persönlichen Betroffenheit auch um die großen
Existenzfragen des Menschen in seiner
Zeit.
Mit diesen Briefen wird daher zugleich ein Stück deutscher Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts transparent. Schon früh
lässt sich an Wolfs Briefen der Prozess ablesen, wie sie mit den ersten
wichtigen Büchern »Der geteilte Himmel« und »Nachdenken über Christa
T.« ihre eigene Stimme findet, eben indem sie sich an der Wirklichkeit reibt,
die sie aufregt und gleichzeitig produktiv macht. Man nimmt, folgt man den
Lesart 4/16
Buchkunst
Der Fuchs und der Stern
Das besondere Märchenbuch
W
enn Dinge sich ändern, verspüren wir oft Angst und trauen uns
nicht aus unserem Bau. So ergeht es eines Tages dem kleinen Fuchs, der
tief im Wald wohnt und recht schüchtern
ist. Nur ein einzelner Stern ist sein Freund.
Das Sternenlicht begleitet unseren kleinen
Freund bei seinen nächtlichen Streifzügen
durch den Wald und ist dem roten Jäger
seit langer Zeit vertraut. Der Fuchs kennt es
gar nicht anders. Doch eines Abends ist der
Stern nicht mehr zu sehen und der kleine
Fuchs ist völlig verunsichert. Kein Rufen holt
den Freund wieder zurück. Wie soll es nun
weitergehen?
Das kurze, bezaubernde Märchen
wird im Rahmen einer außergewöhnlichen
Buchillustration und Buchgestaltung präsentiert: Der blaue Leineneinband passt perfekt
zu Weihnachten, allerdings ist »Der Fuchs
und der Stern« kein Weihnachtsmärchen.
Das macht aber nichts, es ist jedenfalls das
Illustrationen lassen die Augen neugierig
und bewundernd über Bäume, Sterne, Wolken, Blätter, Gräser und vieles mehr wandern. Die Gestaltung von Text und Bild ist
eine Augenweide. Dieses Buch wird sicher
immer wieder hervorgeholt, auch wenn die
Geschichte schon lange auswendig hergesagt werden kann.
Coralie Bickford-Smith ist eine äußerst
renommierte englische Künstlerin, die mit
ihren Werken für Penguin Random House
regelmäßig auch international hohe Anerkennung erfährt. Mit ihrem ersten eigenen
Werk »Der Fuchs und der Stern« erreichte sie die Auszeichnung »Buch des Jahres
2015« von Waterstones.
Heike krause-LeipoLdt
ideale Geschenkbuch, und zwar nicht nur
für die Kleinen (zum Vorlesen), sondern bevorzugt für die großen Leser. Die herrlichen
Coralie Bickford-Smith: »Der Fuchs und der Stern«,
(a. d. Englischen von Stefanie Jacobs), Insel Verlag,
Berlin 2016, 64 S., € 18.
© Coralie Bickford-Smith, Der Fuchs und der Stern / Insel Verlag
60
Lesart 4/16
Sachbuch
Die Marke Luther
Von der erfolgreichen Selbstvermarktung eines besonderen Christenmenschen
I
m Untertitel heißt es: »Wie ein unbekannter Mönch eine deutsche Kleinstadt zum
Zentrum der Druckindustrie und sich selbst
zum berühmtesten Mann Europas machte — und die protestantische Reformation
lostrat.« Damit wird klar, dass der Blickwinkel dieses umfangreichen Bandes ein ganz
spezieller ist. Hier geht es nicht um eine weitere Lutherbiografie — diese Daten dienen
nur als Eckpfeiler —, sondern um ein Phänomen, das noch kaum beleuchtet wurde. Als
international anerkannter Experte für Europa zur Zeit der Reformation bringt Andrew
Pettegree — er lehrt Moderne Geschichte
an der University of St. Andrews — die richtigen Voraussetzungen mit, um Details herauszuarbeiten, die bisher nahezu unbekannt, auf jeden Fall unerforscht waren.
Luther war mit vielen Talenten gesegnet.
Dazu gehörten seine schiere Schreibkraft,
die sich in einem ungeheuren Arbeitspensum zeigte; weiterhin sein Schreibtalent und
ein instinktives Gespür dafür, welche Möglichkeiten ihm und seiner Bewegung die
junge Druckindustrie bot. Gutenbergs Erfindung war gerade mal wenige Jahrzehnte alt. Als Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an der Tür der Schlosskirche
zu Wittenberg anschlug, ahnte niemand,
auch er selbst nicht, dass er innerhalb weniger Jahre der meistgelesene und einer
der berühmtesten Männer Europas werden würde. Luther war geschickt darin, seine Erstausgaben gleichmäßig auf diverse
Drucker zu verteilen. Er sorgte sogar dafür, dass neue Drucker nach Wittenberg kamen. In Zusammenarbeit mit Lucas Cranach
entstanden Titelblätter, die lebendig, neu
und anders waren. Sie revolutionierten das
Druckgewerbe, waren auf den ersten Blick
zu erkennen und damit von anderen zu unterscheiden: Es entstand die Marke Luther.
Die Drucker ihrerseits nutzten zu gern die
Popularität des Reformers, denn sie brachte ihnen viel Geld ein.
Zu all seinen genannten Vorzügen befasste sich Luther nicht nur mit theologischen
Diskursen und theoretisierte mit Gelehrten,
sondern kümmerte sich auch um Themen
wie das Schulsystem. Es war für ihn selbstverständlich, dass Mädchen ebenfalls etwas lernen sollten. Der Bau neuer Schulen in den protestantischen Gebieten geht
zu einem Großteil auf Luthers Initiative zurück; was kaum einer weiß. Luther war ein
wirklich erstaunlicher und mutiger Mann:
Der unbekannte Mönch aus dem wenig bekannten Wittenberg sorgte in nur wenigen
Jahrzehnten und trotz aller Gefahren dafür,
dass er und seine Stadt unvergesslich blieben.
»Die Marke Luther« ist ein sehr unterhaltsam geschriebenes Buch, das
viel Freude macht. Pettegree legt
anschaulich dar, wie stark die Verflechtungen zwischen dem Reformer und den Druckereien war.
Luther unternahm nur wenige Reisen, ohne seine gedruckten Werke wäre alles wahrscheinlich ganz
anders gekommen. Er war ein hervorragender Selbstvermarkter, der
gern auch persönlich in den Druckereien vorbeischaute und die
Vorgänge überwachte. Diesen
Mann persönlich und beruflich von
anderen Seiten beleuchtet zu haben, ist das Verdienst des Autors.
Heike krause-LeipoLdt
Luther verbrennt die Bannbulle; Künstlerkarte 1917
62
Andrew Pettegree: »Die Marke Luther«,
(aus dem Englischen von Ulrike Bischoff),
Insel Verlag, Berlin 2016, 407 S., € 26.
Lesart 4/16
Roman
Katze ist kein Beruf
Peter Henisch erzählt von einer Wiener Kindheit und vom Weg zum Schriftsteller-Dasein
D
er österreichische Schriftsteller Peter
Henisch dehnt seit jeher den Begriff
des Romans, aber der Roman hält
das aus. Sein neues Buch könnte man ohne
diese Gattungseinordnung wohl auch »Erinnerungsbilder« nennen. Wie die Dinge
aber liegen, kann Henisch es sich leisten, offen zu lassen, wie viel von ihm selbst in dem
Nachkriegs-Wiener Buben stecken, der unter Umständen ebenfalls Peter mit Vornamen heißt. Vielleicht aber auch Paul. Und
wie viel von ihm in dem Reisenden steckt,
der mal in New Orleans ist, mal in Istanbul, Letzteres auf der Rückreise vom Iran,
als Tramper, unvorstellbar. »Damals
lag noch nicht so viel Angst in der
Luft. Was das betrifft, waren das sehr
glückliche Zeiten.«
So besteht Peter Henisch auf der ultimativen Freiheit des Autors und der relativen
des Erzählers und macht sich zugleich darüber lustig: Über dieses natürlich bei aller
Verwicklung auch einfache Verfahren, das
das Mitspielen des Lesers voraussetzt und
sich an Frau S.’ Ignoranz die Zähnchen ausbeißt. Die Erzählerfigur in Henischs jüngstem Roman, »Suchbild mit Katze« hat viele autobiografische Details mit dem Wiener
Schriftsteller gemeinsam, ohne dass dieser eine Autobiografie geschrieben hätte.
In hingetupften Szenen erinnert sich Peter
(Paul) im Roman an die Nachkriegszeit in
Auch muss Henisch sich nicht festlegen, wie viel von ihm in einem Erzähler steckt, der einen Roman über
einen gewissen Paul Spielmann geschrieben hat. Allerdings kommt in
Peter Henischs »Eine sehr kleine
Frau« (2007) ein Mann dieses Namens als Erzähler vor. Der Erzähler in
Henischs neuem Buch wird nun von
»Frau S.« darauf angesprochen. Sie
glaubt partout nicht, dass er wiederum partout nicht dieser Paul Spielmann sein will. Frau S. denkt, er will
sie zum Narren halten. »Wenn so ein
Autor ICH schreibt, dann denke ich
selbstverständlich, es handelt sich um
ihn.«
Frau S. ist zum Verzweifeln, aber
auch sehr komisch. Nachher erfreut
sie mit einer weiteren Verwechslung.
»Und diese Katze hat Murr geheißen?, fragt die Frau S. Nein, sage
ich, Murli hat sie geheißen, weil sie
so schwarz war. Aber irgendwo hab
ich gelesen, dass Sie eine Katze — oder war
es ein Kater? — namens Murr gehabt haben. Das war nicht ich, sage ich, das war
E. T. A. Hoffmann. Schon wieder nicht Sie!,
sagt die Frau S. Sie wollen es nie gewesen
sein.« Da kann man auch wieder denken: Irgendwie hat sie recht, die Frau S.
Lesart 4/16
mir diese Wörter peinlich vorkommen? Ich
mag sie nicht, diese Wörter, aber ich spitze
die Ohren, wenn sie fallen.«
Selten vergisst der Erzähler, die Wege
der Erinnerung mitzuerzählen: warum ihm
etwas wieder eingefallen ist, wie es ihm gerade jetzt einfällt, wo er etwas schon einmal
gesehen, gehört hat. Manchmal, häufig
reicht ein Blick aus dem Fenster — so dass
neben dem »Kater Murr« auch »Des Vetters
Eckfenster« seinen Platz bekommt. In der
Form bleibt das locker, ist aber weder beliebig noch verplaudert. Die Szenen, die sich
dem Erzähler in den Kopf drängen, sind
kurz und prägnant. Ihre Zuverlässigkeit ist
nicht verbürgt, dafür wiederum sorgt Autor Henisch, der nichts dagegen hat, uns
in einer Restunsicherheit zu lassen.
Katzen — neben Murli namentlich
auch Mimí und Hoffmann (das erzählt
der Erzähler gleich Frau S., die nach dem
Kater Murr fragt) – sind im »Suchbild mit
Katze« keineswegs nur Dekor. Der Erzähler bekennt sich nicht nur zur Katze,
indem er mit ihr lebt und zwar offenbar
über Jahrzehnte, also Katzengenerationen hinweg. In einem Schulaufsatz nach
seinen Plänen für später befragt, schreibt
er auch: »Auf die Frage, was ich einmal werden möchte, fällt mir zuallererst
die Antwort KATZE ein ... Ja. Ich würde
gern eine Katze sein.« Der Lehrer nach
einem Blick ins Heft des Lieblingsschülers:
»Nein, Peter, das geht nicht. Katze ist kein
Beruf.«
der geteilten Stadt Wien, eine Kinderliebe,
Straßenfreundschaften, das seltsame Leben
als Einzelkind, das seltsame Leben als Kind
des Jahrgangs 1943. »Es gibt Wörter, auf
die eine eigenartige Betonung gelegt wird.
Das Wort Jud zum Beispiel. Oder das Wort
Nazi. Liegt es nur an der Betonung, dass
Daraufhin möchte Peter Schriftsteller werden. »Ich möchte etwas erleben
und dann darüber schreiben«, schreibt
er nun. Ironischerweise orientiert er sich
vorerst an Karl May, der bekanntlich wenig erleben musste, um über alles Mögliche zu schreiben. Aber auch Peter Henisch
fand dann ja seinen Weg.
Judith von Sternburg
Peter Henisch: »Suchbild mit Katze«, Roman, Deuticke, Wien 2016, 204 S.,¤ 20.
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