LESART LES Titelseite 04-2016.indd 1 Lesart UNABHÄNGIGES JOURNAL FÜR LITERATUR 2 3 . J a h r g a n g H e f t 4 / 2 016 W i n t e r 09.11.2016 09:23:12 Editorial »Das Lesen nimmt so gut wie das Reisen die Einseitigkeit aus dem Kopfe.« Jean Paul »Mein Bruder war der Gott des Tanzes.« Liebe Leserin, lieber Leser! Wenn langsam immer mehr bunte Blätter auf den Straßen und in den Parkanlagen verschwinden, ist der Winter nicht weit. Man sagt, jetzt beginnt die dunkle Jahreszeit, Eis und Schnee werden kommen. Das ist sicher. So wie jedes Jahr. Und so wie jedes Jahr ist zum Jahresende hin das Literatur-Angebot beträchtlich angestiegen, zur Freude vieler Leserinnen und Leser, die besonders die vorweihnachtliche Zeit zum gemütlichen Einkaufsbummel durch die Buchläden genießen. Und wieder einmal haben wir ein randvolles Heft mit empfehlenswerten Büchern zusammengestellt, das die Orientierung im unübersichtlichen Büchermeer erleichtern wird. Es sind wundervolle Romane und beeindruckende Sachbücher dabei. Sie werden schon beim Durchblättern des Heftes eine, wie man sagt, Qual der Wahl erleben! Text 570 Seiten. Klappenbroschur. € 15,95 Die Augsburger Freizeit-Vereinigung »Alles Bingo« hatte bei uns angefragt, ob wir einen Vorschlag zur Freizeitgestaltung für die hektischen Shopping-Wochen im Dezember hätten. Wir kramten aus einer alten Kiste die abgebildete Postkarte hervor, die neun Szenen des Zirkus Barnum-Bailey auf der Vorderseite enthält. Das fanden wir wirklich eine schöne unterhaltsame Alternative zum Glühwein-Trinken. Es wird sich auch in Ihrer Nähe sicher ein durchreisender Zirkus ausfindig machen, der spektakuläre Wunderdinge darbietet. Es muss ja nicht immer »der Mann mit dem harten Schädel« auftauchen, der vielleicht zur robusten Nachahmung verleitet. Spannender ist dagegen ein flotter Rechenkünstler oder auch die mysteriöse »japanische Zauberin«, deren Tricks man bestaunen, vielleicht auch durchschauen darf. Aber eine riskante Befragung der »Miss Delphi« nach der eigenen Zukunft dürfte für Überraschungen sorgen. Kleine Kinder allerdings sollte man vom trübsinnigen »Pudelmenschen« fernhalten, denn das Gebell könnte verschrecken wie ebenso der verstörende Anblick der »bärtigen Dame«. Aber vielleicht empfiehlt sich doch besser ein Besuch im Zoo! Eva Stachniak bereitet einer großen russischen Heldin die Bühne: Bronislawa Nijinska, Schwester des legendären Waslaw Nijinsky und selbst gefeierter Star der Ballets Russes. Ein Roman über zwei ungleiche Geschwister, über den unbedingten Willen zum Erfolg – und über die Liebe zum Tanz, die alles andere überstrahlt. Wir wünschen recht entspannte Winterwochen! Die nächste Lesart-Ausgabe erscheint Mitte März 2017 Rangsdorf bei Berlin, November 2016 Lesart 4/16 www.insel-verlag.de Roman Beim Herrn der zehntausend Jahre Der neue Roman von Christoph Ransmayr führt an den chinesischen Kaiserhof E r will keine noch so kostbaren Preziosen, kein neues Spielzeug aus Gold und Jade — er will ihren Kopf: ihre Phantasie, ihre unerschöpfliche Erfindungsgabe, eine Kunst, die kein anderer so beherrscht wie Alister Cox mit seinen drei Gefährten, begnadeter Automatenkonstrukteur und Uhrmacher aus England. Qiánlóng, der Kaiser von China, der Gottgleiche, Herr der zehntausend Jahre — wie nur einer seiner zahlreichen Titel und Ehrennamen lautet, holt sie an seinen Hof nach Beijing, um sich von ihnen seinen ultimativen Traum erfüllen zu lassen, die »Uhr aller Uhren«, die »zeitlose Uhr«, die niemals stillstehen werde, auch in unabsehbar ferner Zukunft nicht, und dies ohne äußeres Zutun, ohne wie auch immer geartete Energiezufuhr: ein Perpetuum mobile. Lesart 4/16 Unter den Büchern von Christoph Ransmayr ist dieses wiederum etwas ganz Besonderes. Es geht um Zeit und Ewigkeit, Vergänglichkeit und Dauer. Wie können Uhren, diese Präzisionsinstrumente, den Ablauf der Zeit so messen, dass sie das wechselnde Tempo gemäß dem unterschiedlichen Empfinden in verschiedenen Lebensphasen des Menschen anzeigen? Einem Kind mag der Ablauf der Minuten und Stunden allzu langsam vorkommen, während ein Liebender, ein Kranker, ja ein zum Tode Verurteilter das Verrinnen des Zeit als Eiltempo empfindet, das ihm alles raubt, was ihn ans Leben bindet. Ist nicht die Sehnsucht nach Ewigkeit die Triebfeder allen menschlichen Tuns? Würden wir sonst so viel Energie und Ausdauer an alles wenden, was uns wirklich am Herzen liegt? Darüber lässt der Er- zähler nicht nur den berühmten Uhrenbauer nachdenken, sondern auch den Kaiser von China. In einer bilderreichen, gehobenen, ungewöhnlich schönen Sprache, wie wir es von der Prosa des österreichischen Autors Christoph Ransmayr seit langem gewohnt sind — denkt man nur an die Romane »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt« oder »Morbus Kitahara« —, reihen sich Szenen aneinander, die ein phantastisch ausgeschmücktes Panorama der Welt am chinesischen Kaiserhof in der Verbotenen Stadt entwerfen. Dazu verwandelt er sich eine Figur nach historischem Vorbild an: James Cox (1723-1800), seines Zeichens Konstrukteur kostbarster Automatenuhren, die an den Herrscherhöfen 5 Roman Europas für Furore sorgen und durch die Ostindien-Kompanie bis ins ferne Asien gelangen. So wecken sie auch die Begehrlichkeiten des Kaisers Qiánlóng. Und tatsächlich befindet sich in der Verbotenen Stadt eine der größten Sammlungen prunkvoller Uhren und Automaten aus Europa. Der Kaiser scheut keine noch so hohen Ausgaben, stellt Gold und Silber, Jade, Diamanten, Rubine und Saphire zur Verfügung, soviel Master Alister Cox, wie er nun als Romanfigur heißt, in seiner Werkstatt davon bedarf. Ransmayr fängt die Atmosphäre am Kaiserhof und in der nächsten Umgebung des Gottgleichen so ein, als sähe man Filmsequenzen vor sich: Die Farben leuchten in Purpur und Rubinrot, azurblau sind die Seidengewänder der Konkubinen, ein dunkles Smaragdgrün verleiht der Ausstattung Glanz. »Cox oder Der Lauf der Zeit« ist ein Buch der Sinnesfreude. Der Erzähler schafft eine opulente Szenerie voller eindrücklicher Schönheit. Während die 3000 Eunuchen am Hofe, ja selbst die Mandarine sich dem Kaiser nur gebeugt und mit niedergeschlagenem Blick nähern dürfen, zeichnet der Höchste die vier Gäste aus England über alle Maßen aus, indem sie ihm auf Augenhöhe begegnen dürfen, ja indem er sie sogar selber in ihrer Werkstatt aufsucht und sich mit dem Meister über den Fortgang der Arbeit berät. Er befiehlt, ihnen alle Wünsche zu erfüllen und allen Komfort zu bieten, sie gar mit einer bewaffneten Eskorte zur Großen Mauer zu begleiten, weil Cox dieses Weltwunder als Modell für eine seiner ausgefallenen Uhren zu verwenden beabsichtigt. Die höchste Gunst bezeigt der Kaiser den Europäern, als er sie einlädt, mit dem gesamten Hofstaat in die Sommerresidenz Jehol aufzubrechen, am Rand der Inneren Mongolei. Dorthin zieht der Hof in jedem Frühjahr in einer prachtvollen, kilometerlangen Prozession mit tausenden Pferden, Elefanten und Sänften. Die Lieblingsuhren des Kaisers müssen ihn ebenso begleiten wie seine tausend Konkubinen. Und dort, in der zauberhaften Landschaft am Heißen Fluss, weiht Qiánlóng sie eines frühen Morgens in seinen bisher unausgesprochenen Traum ein, eine solche Uhr zu besitzen, die ihren Lauf niemals mehr enden würde. Es ist wohl dieser Augenblick, da Cox begreift, dass auch der Kaiser von China nur ein Mensch ist, seiner Endlichkeit sich bewusst und begreifend, dass er eines Tages nicht mehr da sein wird. Doch sein Begehren ist es, Herr über Anfang und Ende der Zeit zu sein. Und so soll die »Uhr aller Uhren« über ihn hinausweisen in die Ewigkeit. Zugleich ist Qiánlóng ein Dichter, der jeden seiner Tage damit beginnt, seine Träume in Poesie zu verwandeln, die Gedichte in ausgewählt schöner Kalligraphie abschreiben zu lassen und seiner Existenz auch dadurch Dauer zu verleihen. Christoph Ransmayr hat, wie er in einer Nachbemerkung zum Buch schreibt, mit einem chinesischen Freund eine Reise in die Gelben Berge von Huáng Shán unternommen (im Gegensatz zum historischen James Cox, der nie in China war). Dort begann seine Phantasie zu arbeiten, was am Ende »zur Erfindung eines Landes führte«, das den Namen China trägt. Mit eigenen Augen überzeugt er sich von der fremdartigen, harmonischen Schönheit der Natur, die sein Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit« in lebhaften Schilderungen vor uns erstehen lässt: das Reich der Mitte. Jehol, die Sommerresidenz mit der unvorstellbaren Pracht ihrer dreißig Paläste, Pagoden und Pavillons, ausgestattet in den rotgoldenen Farben der Dynastie, wird allein schon zum Lektüregenuss. Wichtiger noch sind aber die Sehnsüchte, die sich im Inneren der Figuren stauen: Alister Cox hat in London seine fünfjährige Tochter Abigail durch Krankheit verloren. Und seine junge Frau Faye, in der Heimat zurückgeblieben, war durch den Tod des einzigen Kindes für immer verstummt. Diesen Schmerz kann er nie verwinden. Alles, was er im Auftrag des Kaisers von China tut, geschieht im Grunde als Totenehrung für sein Kind, als Liebeserklärung an seine Frau. Selbst die schönste Konkubine des Kaisers, die anmutige Kindfrau Ān, eine atemberaubende Erscheinung, der Cox in den langen Monaten seines Aufenthalts mehr als einmal begegnet, kann seinen Sinn nicht von der Erinnerung an diese liebsten Menschen abziehen. So baut Master Cox im luxuriösen »Pavillon der vier Stege«, inmitten eines Lotosteichs, zusammen mit seinem Freund Merlin und den Gehilfen an jenem Wunder der »zeitlosen Uhr«, die — mit Unmengen von Quecksilber betrieben — auf geringste Veränderungen des Luftdrucks reagieren und so die Vision vom unendlichen Lauf der Zeit aufrechterhalten soll. Monika Melchert Christoph Ransmayr: »Cox oder Der Lauf der Zeit«, Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016, 304 S., Leinen, € 22. 6 Lesart 4/16 Roman Das Herz am rechten Fleck Jami Attenbergs frivol-rührender Tagebuchroman »Saint Mazie« R omanfiguren sind luftgeborene Fantasiewesen mit Worten skizziert. Mazie Phillips ist aus Fleisch und Blut. Die Frau, die den Lesern in Jami Attenbergs neuem Roman begegnet, ist das, was man im Volksmund ein Original nennt. Selten ist einer Autorin eine Figur gelungen, die in kurzen Tagebucheinträgen und Zeitzeugenberichten von Weggefährten derart plastisch wird. In den eiskalten New Yorker Winternächten und den verrauchten Untergrundspelunken der Stadt, im und um den Big Apple von Wohnung zu Wohnung ziehend, wird die Wärme von Mazies Charakter beinahe physisch, ihre Stimme in den kurzen Abschnitten plastisch und vertraut. Mazie Philips hat tatsächlich gelebt — im New York der 1920er und 1930er Jah- re wurde sie als warmherzige Kinobesitzerin, die sich des Abends und Nachts nach Dienstschluss um die obdachlosen Männer auf der Straße kümmerte, eine lokale Berühmtheit, deren Ruf durch die Jahrzehnte nachhallt. Jami Attenberg, die mit ihrem tragikomischen Familienroman »Die Middlesteins« einem internationalen Publikum bekannt wurde, belebt Mazies Geschichte und verschafft ihr durch die Tagebuchform eine Legitimität, die beinahe vergessen lässt, dass es sich hier trotz realer Einflüsse um Fiktion handelt. Lediglich einige Eckdaten und vor allem Joseph Mitchells Essay »Mazie«, der im Dezember 1940 im New Yorker erschien, dienten Attenberg als Grundlage für ihr fiktives (Selbst-)Porträt in Skizzen. Und wie in »Die Middlesteins« zeigt sich die Autorin als aufmerksame Be- obachterin von problematischen Familienstrukturen und deren Auswirkungen auf die nachfolgende Generation. Mazie ist zehn Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester Jeanie von ihrer großen Schwester Rosie und deren Mann Louis von Boston nach New York geholt wird. Fort von einem nur vage angedeuteten missbrauchenden Elternhaus, hinein in ein Leben, in dem die große Schwester zur Mutter wird und es die kleine schon als Kind fortzieht. Mazie ist tough, sie prügelt sich mit den Jungen und Mädchen der Nachbarschaft in der Lower East Side. Später dann, als junge Erwachsene, arbeitet sie zunächst im Bonbonladen, dann im Kino ihres Schwa- George Benjamin Luks (1867—1933) »Hester Street«, 1905 16 Lesart 4/16 Roman gers Louis, über dessen Geschäfte niemand so recht Bescheid weiß. Gerne trinkt sie mit den Männern des Viertels einen über den Durst. Doch niemals lässt sie sich ausnutzen, sie entscheidet, wen sie küsst, mit wem sie schläft (»...wieso sollte ich einen wollen, der mich liebt, wenn ich auch drei haben kann?«). Sie streift umher, sieht das Elend der Straße und lernt die Nonne Schwester Te kennen, mit deren Hilfe sie zunächst versucht, eine rauschgiftsüchtige Mutter und dann noch viele andere Seelen von der Straße zu retten. Die promiskuitive Jüdin und die katholische Nonne werden Freundinnen, in den 1920er Jahren eine Konstellation, die mit Sicherheit der Magie New Yorks zugeschrieben werden darf. Vereint sind sie in ihrem Impuls, den Menschen auf der Straße zu helfen. Mazie hilft, wo sie kann. Ihre Geschichte, ihr Mangel an Berührungsängsten, ihre Beherztheit sind es, mit denen sie jedermanns Vertrauen gewinnt. Nach Louis‘ Tod wird sie zur Kinobesitzerin und bleibt doch die zugängliche Kassiererin. Außerhalb ihres Kassiererhäuschens lebt sie wild, versteht es, sich zu vergnügen. Als die psychische Verfassung ihrer Schwester sich durch den Verlust ihres Gatten immer mehr zutage tritt, bildet die Straße für Mazie den Ausgleich. Als die bitteren Tage der Wirtschaftskrise die Stadt beuteln, öffnet sie für die obdachlosen Männer auch einmal das Kino für eine kostenlose Vorstellung. »Saint Mazie« ist ein Plädoyer für Herzenswärme und den gesunden Menschenverstand. Mazie ist so etwas wie eine gewöhnliche Heilige, falls es so etwas geben kann, eine beherzte Frau, die gerne einmal mit ihren Schützlingen die Nacht durchzecht, aber logische Schlüsse zieht und klug handelt. Die Außensicht auf den Charakter, jemand, der ihr Tagebuch findet, Auszüge aus ihrer »Autobiographie«, die der (fiktive?) Verleger für »unbrauchbar« hält und »Zeitzeugenberichte« von Menschen, die ihr Leben eine Zeitlang teilten, liefern wichtige Fragmente zur Einbettung ihrer Geschichte und stützen ihr Porträt. Eine Personenübersicht wäre für die Leser zur Einordnung hilfreich gewesen, darauf wurde möglicherweise aber auch deshalb verzichtet, um die Illusion zu wahren, es handle sich hier um tatsächliche Aussagen. »Saint Mazie« ist ein wunderbarer Roman über eine wunderbare Person. Mazie erlebt viele Tragödien und Verluste, sie wird herb enttäuscht und verletzt, ihrer Offenheit und ihrer Hilfsbereitschaft tut dies jedoch keinen Abbruch. Dies macht »Saint Mazie« zu einem Roman, der sich — ob nun gewollt oder zufällig — aktuell als starkes Gegenargument zu jeglichem Exklusionsstreben, persönlich oder politisch, lesen lässt. TaTjana SchmidT Jami Attenberg: »Saint Mazie«, Roman (a. d. Englischen von Barbara Christ), Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2016, 384 S., ¤ 24. Lesart 4/16 Aus dem Englischen v. Claudia Wenner. 335 S. Geb. € 21,95 ISBN 978-3-406-69803-3 „Adiga ist ein Maxim Gorki der Globalisierung, ein moderner Rudyard Kipling, der erwachsen geworden ist und wütend. Bei ihm liegt die Zukunft des Romans.“ John Burdett 315 S. Geb. € 21,95 ISBN 978-3-406-69740-1 „Ebenso leise wie eindringlich beschreibt Sabine Gruber in vielen großartigen Momentaufnahmen, welche Herausforderung es ist, nicht‚ mit dem Krieg, sondern mit dem Frieden fertig zu werden.“ Christa Gürtler, Die Furche C.H.BECK WWW.C H BE C K .D E 17 Sachbuch Der Erfolgreiche und das Genie Andreas Rumler erzählt vom Arbeitsbündnis zwischen Feuchtwanger und Brecht S ie waren in ihrer Lebensart sehr verschieden. Was sie jedoch verband, war das nie endende Ringen um künstlerische Vollendung. Der 13 Jahre Ältere, Lion Feuchtwanger, blieb seit seinem Roman »Jud Süß« ein Bestsellerautor, dessen Bücher in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Auch in seinen Exiljahren umgab ihn bürgerlicher Wohlstand. In Berlin, im südfranzösischen Fischerort Sanary oder an der Pazifikküste Kaliforniens wohnte er bis zu seinem Tod im Jahr 1958 in prächtigen Villen, umgeben von Bücherwänden und seiner schönen Frau Marta. Der Jüngere, Bertolt Brecht, war ein Theatergenie. Ein unruhiger, egomanischer Charakter blieb er, stets umgeben von seinen Geliebten und Mitarbeiterinnen und schon seit seinen Augsburger Tagen ein politisch wacher Beobachter seiner Zeit. Beide Schriftsteller erkannten rasch, wie sehr sie sich künstlerisch ergänzten. Seit der etablierte Feuchtwanger dem jungen unbekannten Brecht mit seinen ersten Bühnenwerken (»Trommeln in der Nacht« und »Baal«) zum Durchbruch verholfen hat, besteht diese neidlose und von gegenseitiger Sympathie getragene Künstlerfreundschaft. In endlosen und nicht selten lauten Streitgesprächen debattieren sie ihre Manuskripte und die Zeitenläufe. »Brecht war mir trotz aller Gegensätzlichkeiten sehr nah«, wird Feuchtwanger in einem Kondolenzbrief an die Brecht-Witwe Helene Weigel schreiben. Für den Münchner Romancier ist der Augsburger Dramatiker ein »Genie«. Brecht wiederum notiert im »Arbeitsjournal«, Feuchtwanger habe »sinn für konstruktion, versteht sprachliche feinheiten zu schätzen, hat auch poetische und sprachliche einfälle, weiß viel von literatur, respektiert argumente und ist menschlich angenehm, ein guter freund.« Lesart 4/16 Sie schreiben zusammen Theaterstücke (»Leben Eduards des Zweiten von England« oder »Die Gesichte der Simone Marchard«). Feuchtwanger hilft Brecht in den Flucht- und Exiljahren finanziell. Der bürgerliche Brecht agitiert den bürgerlichen Feuchtwanger politisch und trägt mit dazu bei, dass der Freund den Marxismus und die Sowjetunion in den Kriegsjahren neu entdeckt. Brecht spottet gelegentlich über den »Schriftsteller« Feuchtwanger, und dieser zeichnet in seinem großen Roman »Erfolg« mit der Figur des Kaspar Pröckl ein ironisches Porträt Brechts. Beide glauben an die »Vernunft und den Fortschritt«. Andreas Rumler resümiert in seinem gut recherchierten Essay: »Aus der ersten Begegnung entwickelte sich ein lebenslanges, kollegiales, ausgesprochen produktives Arbeitsbündnis über fast drei Jahrzehnte, wie es wohl nur selten unter Autoren möglich ist, vergleichbar allenfalls der späten Freundschaft von Goethe und Schiller.« Er weist zu Recht darauf hin, dass beide »in dem Bewusstsein aufwuchsen, Außenseiter, nie recht akzeptiert zu sein: Feuchtwanger als Bürger jüdischen Glaubens und Brecht als Linker, erleben sie sich beide als ´Fremdlinge im eigenen Land`, wie Wolf Biermann später Hölderlin variieren wird«. Es ist jedoch nicht nur das »Arbeitsbündnis« dieser beiden Intellektuellen, von dem Rumler berichtet, sondern er erzählt auch von dem Drama des Exils, in das ein bedeutender Teil der deutschen Geisteselite nach 1933 gezwungen wurde. Feuchtwanger und Brecht, das wird erneut deutlich, haben mit ihren Romanen und Dramen, ihren literarischen und journalistischen Einwürfen mutig das Wort gegen die Gewalt gesetzt. Thomas Mann sprach einst von »Lübeck als geistige Lebensform«, um die Nachwirkung seines Heranwachsens in der Hansestadt auf sein Schaffen und Denken zu unterstreichen. Rumler hat diesen Gedanken mit Bedacht und treffend als Titel für seinen Essay gewählt. Wilhelm von Sternburg Andreas Rumler: »Exil als geistige Lebensform. Brecht + Feuchtwanger. Ein Arbeitsbündnis«, Edition A. B. Fischer, Berlin 2016, 159 S., ¤ 16,80. 21 Sachbuch Tiefbraune Schatten »Die Akte Rosenburg« legt den Umgang des Justizministeriums mit der NS-Vergangenheit offen E s klingt so harmlos: »Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz«, kurz EGOWiG. Doch dieses unscheinbare Gesetz von 1968 hatte es in sich, denn in ihm versteckte sich eine Vorschrift, als deren Folge Tausende von Strafverfahren gegen Verbrecher des Nazi-Regimes eingestellt werden mussten. Begünstigt durch die höchstrichterliche Rechtsprechung in der jungen Bundesrepublik, die, absurd genug, nur die oberste Riege der Nazis wie Hitler, Göring oder Himmler als Mörder ansah, wurden die allermeisten Täter, auch solche, die beispielsweise Todesurteile vollstreckten oder als ‚Schreibtischtäter‘ den Holocaust organisierten, lediglich als Gehilfen eingestuft. Und deren Taten waren nach der Einführung des EGOWiG mit einem Schlag verjährt. Lange war unklar, ob der Kopf hinter dem fatalen Gesetz, der Ministerialdirigent Eduard Dreher, diese »Justizpanne« versehentlich verursacht oder zielgerichtet initiiert hatte. Doch nun hat die »Unabhängige Wissenschaftliche Kommission«, die seit 2012 im Auftrag des Bundesjustizministeriums dessen früheren Umgang mit der NS-Vergangenheit untersucht hat, Belege dafür gefunden, dass Dreher ganz bewusst gehandelt haben muss. Und er dürfte von seinem eigenen Gesetz nicht zuletzt auch selbst profitiert haben, denn im »Dritten Reich« hat er sich als Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck die Hände im braunen Sumpf ziemlich schmutzig gemacht, indem er selbst für Bagatelldelikte wie Lebensmittel- oder Kleiderkartendiebstahl die Todesstrafe forderte. Eduard Dreher war freilich bei weitem nicht der einzige NS-Jurist im neu errichteten Bundesjustizministerium. Von den 170 Beamten, die vor 1927 geboren worden waren und die auf Referatsleiterebene und höher im Ministerium tätig waren, hatten zwischen 1949 und 1973 im Durchschnitt mehr als die Hälfte eine einschlägige Nazi-Vergangenheit. Die Leiter der Wissenschaftlichen Kommission, der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker und der Er30 langer Strafrechtler Christoph Safferling, haben sich in ihrer Untersuchung aber natürlich nicht aufs Nazi-Zählen beschränkt. Vielmehr wollten sie wissen, ob und, wenn ja, wie sich das nationalsozialistische Denken jener Juristen auf die Gesetzgebung der Bundesrepublik auswirkte. Die eindrucksvollen Ergebnisse ihrer Studie liegen jetzt in ihrem Abschussbericht, der »Akte Rosenburg«, vor. Dass überhaupt so viele Nazi-Juristen eingestellt worden waren, führen Görtemaker und Safferling auf eine Art Schlussstrich-Mentalität in den 50er Jahren zurück. Man wollte die NS-Vergangenheit am liebsten vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Um so schnell wie möglich einen effizienten öffentlichen Dienst aufzubauen, empfahl selbst Bundeskanzler Adenauer 1949, sich der erfahrenen Beamten aus den Reichsministerien zu bedienen und der Unterscheidung zwischen »politisch Einwandfreien und Nichteinwandfreien« möglichst wenig Gewicht beizumessen. Und so achtete man auch im Justizministerium bei den Einstellungen mehr auf fachliche Eignung als auf frühere NS-Verstrickungen. Was hinter den Mauern der idyllisch gelegenen Bonner Rosenburg, dem Sitz des Justizministeriums bis 1973, ausbaldowert wurde, offenbarte jedoch zunächst einmal ein bemerkenswertes Engagement der Beamten, NS-Täter vor Verfolgung und Bestrafung zu schützen. Nicht nur das Dreher-Gesetz, sondern auch zwei Straffreiheitsgesetze führten dazu, dass sehr viele von ihnen ungeschoren davonkamen. Um mutmaßliche Kriegsverbrecher vor internationalen Ermittlungsverfahren zu warnen, wurde eigens die »Zentrale Rechtsschutzstelle« eingerichtet, die allerdings 1953 ans Auswärtige Amt ging. Auch auf andere Gesetze wirkte sich die nationalsozialistische Prägung der Beamten aus. So wurde beispielsweise die im Nationalsozialismus verschärfte Strafbarkeit der Homosexualität beibehalten, anstatt das Sexualstrafrecht zu liberalisieren, wie andere Staaten es taten. Das Staatsschutzstrafrecht, also Delikte wie Hochverrat oder Staatsgefährdung, war von den Alliierten bereits abgeschafft worden, wurde jedoch wieder eingeführt und im Vergleich zur NS-Version nur leicht abgemildert. Und im Zuge der Planung eines geheimen Kriegsrechts waren im Justizministerium Notverordnungen formuliert worden, deren weitgefasste Befugnisse jenseits jeder Verfassungsmäßigkeit lagen. »Die Akte Rosenburg« zeigt, was eine sachliche und gründliche Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit leisten kann: Sie trägt nicht nur zum Verständnis der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik bei, sondern verdeutlicht, dass ein konstruktiver Umgang mit dem historischen Erbe unabdingbar für die Gestaltung der Gegenwart wie der Zukunft ist. Karin Wieprecht Manfred Görtemaker, Christoph Safferling: »Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit«, Verlag C.H.Beck, München 2016, 588 S. mit 19 Abbildungen, ¤ 29,95. Lesart 4/16 Sachbuch Mythos und Moderne Der Kunsthistoriker Ekkehard Mai blickt auf das Werk Anselm Feuerbachs D ass der Maler Anselm Feuerbach (1829-1880) ein ziemlicher Exzentriker war, ist bekannt. Wie beeindruckend vielfältig, subtil und anspruchsvoll sein Werk aber tatsächlich zu sehen ist, das zeigt uns der Kunsthistoriker Ekkehard Mai in seiner neuen, im Böhlau Verlag erschienenen Publikation »Anselm Feuerbach. Ein Jahrhundertleben«. In zehn Kapiteln, vom Biographischen bis zur Verortung innerhalb der Kunstgeschichte, zeichnet Mai das Bild eines Menschen, »der, sich selbst Problem, in seinem Ringen und Misslingen für die Künstlerproblematik eines ganzen Jahrhunderts steht«. Was verbindet man mit Anselm Feuerbach? Atelierboheme, Italien natürlich, vor allem Rom. Große Gefühle im Verhältnis des Malers zu seinem Modell Anna Risi, genannt Nanna. Ein Dandy mit Ambitionen, gefangen im künstlerischen Rausch. Junggeselle, selbstverliebt, schwankender Erfolg. Es gibt der Klischees und Etikettierungen viele und es ist Mais Anliegen, diese kritisch zu hinterfragen. Den Kokon der Feuerbachschen Stilisierung und Verehrung gelte es aufzubrechen, so lautet das Ziel des Autors. Und als Fachmann für die Kunst des 19. Jahrhunderts ist Ekkehard Mai, Honorarprofessor in Köln und ehemals Kurator am Wallraf-Richartz-Museum, zweifelsfrei prädestiniert für diese Aufgabe. Anselm Feuerbach gilt als eine der singulären Gestalten der deutschen Malerei im 19. Jahrhundert. Wie auch Arnold Böcklin und Hans van Marées lebt und arbeitet er viele Jahre lang in Italien, seinem Sehnsuchtsland, in das er immer wieder zurückkehrt. Vielleicht mehr als jeder andere Maler seiner Zeit reflektiert Feuerbach die Suche nach neuen Konzepten der Kunst, diese be- 36 stimmt die Themen und Gestaltungsweisen seiner Bilder. Der Rückgriff auf antike Motive und Inhalte, die Beschäftigung mit Figuren wie Iphigenie und Medea, bedingte zunächst eine Zuordnung zum Klassizismus, doch in Feuerbachs Werk geht es letztlich um weit mehr — es geht um Kunst und Künstler, Klassik und Moderne. Von Anfang an scheiden sich, so Mai, an Feuerbach die Geister. Die Forschung war (und ist) sich uneinig. Anerkennung und Ablehnung, Lob und Verriss, es gab immer beide Seiten. Das gilt auch für die Rezeption des Gemäldes »Das Gastmahl des Plato« (erste Fassung 1869), einem der wichtigsten Werke Feuerbachs. Mai bespricht es ausführlich, analysiert diese »Tiefgründigkeit in Grau«, filtert zentrale Aspekte heraus und macht sie für den Leser sichtbar. Wesentliche Positionen im Nachdenken über die bildende Kunst der 1860er Jahre werden erkennbar. Zentral sind Fragen wie jene nach Technik und Gehalt, nach Wahrheit und Fiktion. Trocken oder geschraubt ist Mais Analyse dabei nie. Im Gegenteil. Es erhöht den Reiz der Lektüre, dass er seine profunden Kenntnisse in einem sprachlich schwungvollen, mitunter kühnen Stil zu vermitteln weiß. Mais Formulierungen sind pointiert und seine Zitate gut ausgewählt. Sorgfältig nimmt er Stellung zur Forschungslage, trennt die Anekdote vom Nachgewiesenen, verweist auf die Bedeutung der Psyche des Künstlers für die kreative Arbeit. Seine wichtigste und wesentliche Quelle sind dabei Feuerbachs geradezu literarischen Briefe und Bekenntnisse. Sie geben Aufschluss über die verschiedenen Bereiche seines Schaffens. Mai nimmt primär die Historien sowie zum Abschluss seiner Studie die Selbstbildnisse in den Blick. Zwei Gattungsformen, die bei Feuerbach durchaus zu verschmelzen vermögen. Nicht von ungefähr schreibt Henriette Feuerbach angesichts einer privaten Nachfrage nach einem Iphigenienbild im Oktober 1876 an ihren Stiefsohn: »Deine Iphigenie ist identisch mit Dir geworden.« Ekkehard Mais Feuerbach-Studie liest sich, vor allem in ihrer ersten Hälfte, wie ein spannender Schmöker. Zugleich aber bietet sie einen fundierten Blick auf das Werk des Künstlers. Ein empfehlenswerter Band, auch dank seines großartigen, umfangreichen Abbildungsmaterials. Fiona Trede Ekkehard Mai: »Anselm Feuerbach. Ein Jahrhundertleben«, Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2016, 216 S., 70 schwarz-weiße und 50 farbige Abbildungen, € 34,99. Lesart 4/16 Biographie Eine Ausnahmekünstlerin Käthe Kollwitz lebte ein Leben gegen jede Konvention — selbstbewußt, leidenschaftlich und unerschrocken A uch wenn Carl Schmidt, Inhaber eines Königsberger Baugeschäfts, wenig begeistert war von dem Vorhaben seiner Tochter Käthe, Malerei zu studieren, stimmte er schließlich zu und finanzierte ihr die Ausbildung. Künstler, gar Künstlerin, war nicht unbedingt das, was die Eltern um 1886 für ihre Kinder erträumten. Käthe Schmidt, 1867 geboren, die 1891 den Arzt Karl Kollwitz heiratete, setzte sich dank ihrer großen Begabung durch. Ihr Vater hat es nicht mehr erlebt, daß ihr graphischer Zyklus »Ein Weberaufstand« (inspiriert von Gerhart Hauptmanns Drama) öffentliche Anerkennung fand, doch als ihm die Tochter die sechs Blätter 1897 zum Geburtstag schenkte, knurrte er: »Es ist gut, du kannst doch etwas.« Schon zwei Jahre später wurden ihre Arbeiten mit einer Goldmedaille bedacht, und das Dresdener Kupferstichkabinett legte als erstes Museum eine Sammlung ihrer Werke an. Doch der Aufstieg der jungen Künstlerin war schwer. Zwar fanden der 1898 erstmals ausgestellte Weber-Zyklus und die zehn Jahre später vollendete Folge »Bauernkrieg« (17 Radierungen) fast durchweg Zustimmung, doch auch wenn man ihre überragende Begabung lobte: Als »Frauenkunst« stand sie unter Vorbehalten und Vorurteilen, hatte doch 1908 einer der renommiertesten Kunstkritiker, Karl Scheffler, in seinem Buch »Die Frau und die Kunst« befunden, Frauen mangele es grundsätzlich an Schöpferkraft, für künstlerische Größe fehle es ihnen an Talent und Persönlichkeit. Beweise für diesen Unfug hatte er nicht, es war eben so. Der Tod ihres erst 18 Jahre alten Sohnes Peter als Kriegsfreiwilliger des Ersten Weltkrieges beeinflußte ihre politische Überzeugung, sie engagierte sich öffentlich gegen den Krieg, arbeitete für die »Internationale Arbeiterhilfe« und entwarf ein Denkmal für einen Soldatenfriedhof in Belgien, das 1932 vollendet und aufgestellt wurde. Viele Graphiken — seit 1919 entstanden jetzt auch Holzschnitte — thematisierten die sozialen Mißstände, die Not der Arbeitslosen, Lesart 4/16 den Hunger, die Verelendung unter den Arbeitern. Das führte dazu, Käthe Kollwitz als Kommunistin zu deklarieren, die sie aber zu keinem Zeitpunkt gewesen ist. Gewiß, es gibt ihr »Gedenkblatt für Karl Liebknecht« (Holzschnitt 1920), aber diese bewegende Darstellung gilt dem so brutal ermordeten Arbeiterführer, dessen Politik sie aber stets abgelehnt hatte. Ihr Thema — seit »Weberaufstand« und »Bauernkrieg« — ist die Anteilnahme am Los der Mühseligen und Beladenen, niemals Parteipolitik. Als erste Frau wurde Käthe Kollwitz 1919 in die Akademie der Künste aufgenommen. Mitte Februar 1933, Hitler war keine zwei Wochen an der Macht, erfolgte ihr Ausschluß. Nur die tapfere Ricarda Huch erklärte im März ihren Austritt, ihren Protest gegen die massive Einmischung der Nazis in die Belange der Akademie, und gerade sie hätten die neuen Herren so gern in dieser Institution gesehen, doch die couragierte Autorin ließ sich nicht umstimmen. Das NS-Regime hat Käthe Kollwitz nicht unmittelbar verfolgt, sie kam nicht auf die Liste der »Entarteten«, aber sie durfte nicht mehr ausstellen, auch im Ausland nicht. Sie beschäftigte sich mit Plastiken, zeichnete Selbstbildnisse und schuf Lithographien zum Thema »Tod«. Ihr Mann starb 1940, ihr Enkel Peter fiel 1942 an der Ostfront, 21 Jahre alt. Wegen der zunehmenden Luftangriffe auf Berlin verließ Käthe Kollwitz im April 1943 die Hauptstadt und zog nach Nordhausen am Südrand des Harzes, und als es auch dort nicht mehr sicher war, folgte sie der Einladung des Prinzen Heinrich von Sachsen, der ihr ein Quartier in Moritzburg anbot. Hier ist Käthe Kollwitz am 22. April 1945 gestorben, 77 Jahre alt, im Tod ganz allein. Als die sie behandelnde Ärztin abends nach ihr sah, war sie schon tot. Wer heute nach Moritzburg kommt, sollte nicht versäumen, das ärmliche Sterbezimmer im »Rüdenhof« anzuschauen. Nach ihrem Tod versuchte die DDR, Käthe Kollwitz »sozialistisch« zu vereinnahmen, während der Westen bemüht war, das Sozialkritische ihrer Arbeiten zu übersehen, denn so recht wußte niemand etwas mit einem Werk anzufangen, das sich dem im westlichen Nachkriegsdeutschland so beliebten ideologischen Kunstgezänk so beharrlich entzog. Yvonne Schymura hat das Leben von Käthe Kollwitz in einer soliden Biographie erzählt und auch die Geschichte ihres Nachlebens mit einbezogen. Es ist ein äußerlich unscheinbares Leben gewesen, einzig dem Werk verpflichtet, das in den letzten 12 Jahren ihres Daseins nicht einmal mehr öffentlich gezeigt werden durfte, das Leben eines tapferen, beherzten Menschen lauteren Charakters. Diese gut erzählte Biographie (die allerdings ihren Stoff nicht wirklich ausschöpft) wird der Künstlerin gerecht. Das Werk selber kommt vielleicht ein wenig zu kurz, aber das Buch nennt sich ausdrücklich »eine Biographie« und beansprucht keinen monographischen Charakter. Eckart Kleßmann Yvonne Schymura: »Käthe Kollwitz, der Krieg und die Kunst. Eine Biographie«, Verlag C.H. Beck, München 2016, 315 S., ¤ 24,95. 41 Sachbuch Eine Amerikanische Revolution? Michael Hochgeschwenders neue Interpretation D ie Amerikanische Revolution (1775 — 1783) gilt — zumeist in Verbindung mit der Französischen Revolution — als die große Initialzündung für das Zeitalter des Bürgertums und damit für das lange 19. Jahrhundert zwischen 1789 und 1914. Eine nunmehr aktuelle, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre berücksichti-gende Darstellung der Prozesse und Ereignisse, die mit dem Begriff »Amerikanische Revolution« assoziiert werden, hat der Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, Michael Hochgeschwender, vorgelegt. Mit der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und der Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. September 1787 seien — so lange Zeit die landläufige Meinung in Wissenschaft und Publizistik — die klassischen Menschen- und Grundrechte erstmalig von staatlicher Seite formuliert, garantiert und in Kraft gesetzt worden; so hätten sie insbesondere auch die philosophische und ideengeschichtliche Debatte um maßgebliche Inhalte erweitert und ihre Funktionsfähigkeit im politischen Betrieb unter Beweis gestellt. »In dieser Sichtweise, die in erster Linie nach Ideen fragte und politisch im liberalen Lager zu verorten war, stand die Amerikanische Revolution ohne jede Ambivalenz für einen idealistischen Durchbruch in die Moderne. Gerade für Amerikaner war das unter Gesichtspunkten der nationalen Identität zentral, denn diese In- 50 terpretation erleichterte es, aus den Ereignissen von 1776 einen Gründungsmythos zu konstruieren, der gleichzeitig nach innen — im Zuge nationaler Integration — und nach außen — hegemonial — nutzbar war. Die USA befanden sich im eigenen Selbstverständnis von Beginn an auf der richtigen Seite der Geschichte, nicht nur weil sie den Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien gewonnen hatten, sondern vor allem weil sie in einzigartiger Weise für die Ideen von Freiheit, Fortschritt, Demokratie, Modernität und Eigentum eintraten.« bedürftigen Nation fest verankern und ist seitdem eine feste und weitgehend unverbrüchliche Grundkonstante amerikanischen Selbstbewusstseins. Der Mythos von freiheitsliebenden und selbstbestimmten Siedlern, die zum einen ihr Neuland der Natur abringen, kultivieren, gegen einheimische Indianer verteidigen und ihre Existenz bei teilweise widrigen Witterungs- und Lebensbedingungen behaupten mussten, sich andererseits aber von der englischen Krone unangemessen — »no taxation without representation« — behandelt fühlten, konnte sich im Selbstverständnis einer sich neu etablierenden und eines entsprechenden Gründungsmythos »Die einfache Geschichte von den Amerikanern als freiheitsliebenden, patriotischen Helden auf der einen Seite und den Briten als korrupten, arroganten und despotischen Schurken auf der andern Seite lässt sich heute nicht mehr erzählen.« Solange diese heroisierende Darstellung der Revolutionäre und ihrer maßgeblichen Wort- und Anführer wie George Washington, John Adams, Thomas Jefferson oder Benjamin Franklin Historie und Publizistik beherrschte, blieben allerdings eine ganze Reihe von relevanten Fragestellungen weitgehend ausgeblendet. In seiner anspruchsvollen und lesenswerten Darstellung unternimmt Hochgeschwender deswegen den Versuch, die Entwicklung des geschilderten öffentlichen Selbstverständnisses — einschließlich publi- John Trumbull (1756—1843), »The Declaration of Indenpendence, 4 July 1776«, 1787 Lesart 4/16 Sachbuch kumswirksamer Rituale und Feiertage (»Independence Day«) — und die weitgehend erhalten gebliebene Vorstellung von den durchweg »guten«, d.h. der Moderne verpflichteten Amerikanern zu hinterfragen und die Geburtswehen des neuen Staatswesens in den Vordergrund zu rücken, die bis heute sowohl den Optimismus und die Offenheit der amerikanischen Gesellschaft geprägt, andererseits aber auch die Grundlagen für fortbestehende Sklaverei und Rassendiskriminierung, für ungleiche Bildungs- und Berufschancen, für soziale und gesellschaftliche Ausgrenzung gelegt haben. »Die Revolution war nicht ausschließlich auf Freiheit, Fortschritt und Moderne ausgerichtet, ihre Träger blickten nicht nur in die Zukunft, sondern womöglich viel mehr in eine idealisierte Vergangenheit; ... Neben den revolutionären Akteuren rückten nun die Gegner der Revolution verstärkt in das Blickfeld der Forschung. Welche Amerikaner kämpften aktiv gegen die Revolution, wer blieb neutral, wie sah es mit Frontwechseln aus? ... Wem brachte die Revolution etwas, wer waren die Verlierer?« So jedenfalls lauten manche jener kritischen Fragestellungen, die angesichts der lange Zeit plakativen Sichtweise unberücksichtigt geblieben waren, da sie vielleicht manche vermeintlichen Gewissheiten ins Wanken hätten bringen können. Hierzu gehören etwa auch die Antriebe und ÜberleLesart 4/16 gungen jener Siedler, die mit der britischen Seite kollaborierten und deren manchmal durchaus tragisches Schicksal nach dem endgültigen Sieg der Unabhängigkeits-bewegung mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte. Weiterhin gehört hierzu die immer wieder gestellte Frage, warum sich angesichts der zahlreichen Gleichheitsbekundungen in den maßgeblichen Verfassungsdokumenten die Sklaverei als ein — zumindest in den südlichen Mitgliedsstaaten des neuen Verbundes — wirtschaftliches Instrument erhalten konnte, um erst nach einem, die Union fast sprengenden und mörderischen Bruderkrieg diesen Schandfleck wenigstens einzuebnen — und die aktuelle Diskussion um Polizeigewalt gegen Afroamerikaner ist nur ein weiteres Indiz für die bis heute nicht eingelösten Versprechen der Verfassungsväter, deren Antriebe und Erwägungen bei näherem Hinsehen oftmals sehr viel weniger altruistisch geprägt waren, als man ihnen lange zugutegehalten hat. Wer von Hochgeschwenders Darstellung eine primär ereignisgeschichtlich orientierte Beschreibung der politischen Entscheidungen und militärischen Geschehnisse erwartet, wird zunächst enttäuscht werden, zumal er ausführlich die ideen- und geistesgeschichtlichen Bezüge und die unterschiedlichen Positionen im englischen Parlament (»Tories« vs. »Whigs«) beschreibt, die auch dem interessierten Leser durchaus eine gewisse Geduld abverlangen. So dauert es denn eine ganze Zeit, bis sich der Autor mit der eigentlichen Vorgeschichte des Konflikts und den zentralen Ursachen des späteren Revolutionsprozesses beschäftigt, die sich rund um die Folgen des Stamp Act und schließlich der Boston Tea Party drehen. Bei der Darstellung der 1775 beginnenden kriegerischen Auseinandersetzungen, die oftmals von der Inkompetenz der jeweiligen Befehlshaber und den klassischen Symptomen eines Besatzungskrieges gekennzeichnet waren, ist schließlich der ausschlaggebende Faktor das Eingreifen des französischen Königreichs, welches die Revanche für den gerade auch in Nordamerika verlorengegangen Siebenjährigen Krieg 1756 — 1763) suchte. Im Namen britischer Werte von Freiheit, Rechten und Protestantismus verbündeten sich die amerikanischen Revolutionäre ausgerechnet mit Frankreich, das spätestens im Siebenjährigen Krieg zum stereotypen Vorkämpfer von Katholizismus, Absolutismus und Tyrannei stilisiert worden war. Als maßgebliches Erbe der Verfassungsväter von 1787 stellt Hochgeschwender am Ende seiner Darstellung zum einen den Destillationsprozess dessen fest, was in der Zeit des »Kalten Krieges« und auch jetzt wieder in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus als »westlicher« Wertekanon ins Feld geführt wird, der durch solche Begriffe wie Freiheit, Eigentum, Chancengleichheit, soziale Mobilität und Volkssouveränität gekennzeichnet ist. Zudem konnte sich auf dieser Grundlage ein ökonomisches System ausbilden, welches einerseits zwar den Aufstieg sozialer Gruppen begünstigte, zum anderen aber auch soziale Ausgrenzung und die Etablierung elitärer, sich selbst reproduzierender Strukturen begünstigte. Weiterhin diente der seit der Revolution tief verwurzelte Gedanke einer gleichsam »messianischen Auserwähltheit« auch dazu, »revolutionären Hypernationalismus, militärischen Expansionismus und ökonomischen Imperialismus« zu legitimieren So bleibt letzten Endes ein eher verhaltener Blick in die Zukunft Amerikas, zumal der aktuelle Präsidentenwahlkampf wahrhaft nicht dazu angetan ist, die Werte der amerikanischen Verfassung zu transportieren und als — vielleicht letztes — Bindeglied einer mehr und mehr auseinanderdriftenden Gesellschaft zu verstehen. »Für die Vereinigten Staaten von Amerika stellt die Revolution der 1770er Jahre den zentralen, sakral aufgeladenen Referenzrahmen ihrer patriotischen Identität dar. ... Die Revolution von 1776 stand für mehr als bloße Opposition gegenüber der Steuer- und Abgabenlast. Sie war, ungeachtet aller egoistischer Interessen der Revolutionäre, ein verfassungsrechtliches Projekt der Volkssouveränität und einer intensivierten Massenpartizipation ... Ohne die Revolution würde den USA neben dem Bürgerkrieg ein zentraler Bestandteil ihrer historischen Identität fehlen.« RobeRt Mizia Michael Hochgeschwender: »Die Amerikanische Revolution. Geburt einer Nation 1763 — 1815«, C. H. Beck Verlag, München 2016, 512 S., ¤ 29,95. 51 Edition Zwischen die Fronten geraten Ein voluminöser Band mit Briefen der Schriftstellerin Christa Wolf A nfang Januar 1978 befragt Christa Wolf die Freundin Sarah Kirsch, die gerade die DDR verlassen hatte, in einem Brief nach ihren neuen Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik: »Nur frag ich mich, wie arbeitet man ohne die gewohnte Reibung (die ja Reibungswärme erzeugt, die man, manchmal, in Produktionswärme umsetzen kann), und doch, und doch, diese Dauerreibung nutzt ja auch so unglaublich ab.« Während Sarah Kirsch irgendwann aufgegeben hat als Spätfolge der Biermann-Ausbürgerung, hält Christa Wolf durch, sie hält die Dauerreibung aus und braucht sie wohl tatsächlich zum Schreiben, um ihren Gegenstand nicht zu verlieren, ihr großes Thema, die Auseinandersetzung mit einer komplizierten, herausfordernden, einer geteilten Welt. Oft allerdings reagiert die Schriftstellerin auf diese Dauerbelastung mit Krankheit, mit schmerzhaften Zusammenbrüchen. Gleichzeitig aber gesteht sie ihre Trauer über diesen Verlust von Sarah Kirsch im Brief an die gemeinsame Freundin Maxi Wander ein: »Es wird so leer, man fängt an zu frieren. Sie wird sehr fehlen, nicht nur mir.« Der treffende Titel des Bandes: »Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten«, 1977 in einem Brief an den Freund Lew Kopelew formuliert, spricht, sarkastisch überhöht, genau dies aus. Mit ihm, dem russischen Schriftsteller und Dissidenten, kann sie sich immer wieder über gemeinsame Erfahrungen verständigen. Beiden ist die Auseinandersetzung mit der vertrackten Realität ihrer Gesellschaft unverzichtbares Thema. Kopelew, der bei Heinrich Böll in Köln Zuflucht finden wird, ist einer von denen, die Trost und Wärme spenden. Die Herausgeberin Sabine Wolf vom Archiv der Akademie der Künste, die den Nachlass Christa Wolfs bewahrt, hat aus einem riesigen Fundus 483 Briefe an mehr als 300 Adressaten ausgewählt; eine immense Arbeit, allein wenn man erfährt, dass ca. 15 000 Schreiben von Christa Wolf über einen Zeitraum von 58 sechzig Jahren erhalten sind. Über Christa Wolf gibt es mehrere Biografien, eine Bildbiografie, eine Doppelbiografie (sie und ihr Mann Gerhard Wolf) – und nun diese Briefe. Wer sich in die fast tausend Seiten Bekenntnisse, Bekundungen, Bestandsaufnahmen eines Lebens vertieft, kommt der Autorin darin ganz nahe. Briefe sind ein literarisches Genre, ein Teil ihres Werkes also, und Christa Wolf ist eine leidenschaftliche Briefschreiberin. Nicht von ungefähr wird der Band mit dem Faksimile aus einem Kalender der Schriftstellerin eröffnet, auf dem als Tagesnotiz nur steht: »Post, Post, Post!« So viele Briefe mit Anfragen, Bitten, Einladungen sie auch erreichen, hat sie es sich zum Prinzip gemacht, keinen unbeantwortet zu lassen. In manchen Jahren werden vor allem die zahllosen Briefe von Lesern zur Belastung, wenn körbeweise Reaktionen auf ihre neuen Bücher eintreffen. Immer wieder erwarten sie von ihr Zuspruch und Ermutigung, und Christa Wolf gibt sie, solange sie kann. Bis auch ihre Hoffnung auf eine Veränderung der bestehenden Zustände in den siebziger und achtziger Jahren immer mehr schrumpft. Doch insgesamt enthält die Auswahl weniger Briefe an Leser oder Verlage, dafür umso mehr an die zahlreichen Freunde. Gerade dieser Kreis Gleichgesinnter ist es, der es ihr ermöglicht, weiter in der DDR zu arbeiten und auch nach 1990 nicht aufzugeben. Wunderbare Briefe der Freundschaft etwa an Günter de Bruyn und Rosemarie Zeplin, an Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl, an Heinrich Böll oder Erich Fried, an Hilde Domin oder Fred Wander, an Ingeborg Arlt oder Stephan Hermlin, an Max Frisch oder Erwin Strittmatter, an Günter Grass oder Peter Weiss weben ein dichtes Geflecht des geistigen Austauschs. Einige Briefwechsel mit wichtigen Partnern sind bereits früher publiziert worden, so der mit Brigitte Reimann (»Sei gegrüßt und lebe«), mit Franz Fühmann (»Monsieur, wir finden uns wieder«), mit Anna Seghers (»Das dicht besetzte Leben«) oder mit der in England lebenden Psychologin und Schriftstellerin Charlotte Wolff (»Ja, unsere Kreise berühren sich«). Der vorliegende Textkorpus jedoch wird zu 90 % hier erstmals veröffentlicht. Mit manchem Briefpartner steht Christa Wolf über Jahre und Jahrzehnte im Zwiegespräch, mit anderen gibt es nur kurzzeitig Kontakt. Immer aber geht es in der Korrespondenz neben ihrer persönlichen Betroffenheit auch um die großen Existenzfragen des Menschen in seiner Zeit. Mit diesen Briefen wird daher zugleich ein Stück deutscher Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts transparent. Schon früh lässt sich an Wolfs Briefen der Prozess ablesen, wie sie mit den ersten wichtigen Büchern »Der geteilte Himmel« und »Nachdenken über Christa T.« ihre eigene Stimme findet, eben indem sie sich an der Wirklichkeit reibt, die sie aufregt und gleichzeitig produktiv macht. Man nimmt, folgt man den Lesart 4/16 Buchkunst Der Fuchs und der Stern Das besondere Märchenbuch W enn Dinge sich ändern, verspüren wir oft Angst und trauen uns nicht aus unserem Bau. So ergeht es eines Tages dem kleinen Fuchs, der tief im Wald wohnt und recht schüchtern ist. Nur ein einzelner Stern ist sein Freund. Das Sternenlicht begleitet unseren kleinen Freund bei seinen nächtlichen Streifzügen durch den Wald und ist dem roten Jäger seit langer Zeit vertraut. Der Fuchs kennt es gar nicht anders. Doch eines Abends ist der Stern nicht mehr zu sehen und der kleine Fuchs ist völlig verunsichert. Kein Rufen holt den Freund wieder zurück. Wie soll es nun weitergehen? Das kurze, bezaubernde Märchen wird im Rahmen einer außergewöhnlichen Buchillustration und Buchgestaltung präsentiert: Der blaue Leineneinband passt perfekt zu Weihnachten, allerdings ist »Der Fuchs und der Stern« kein Weihnachtsmärchen. Das macht aber nichts, es ist jedenfalls das Illustrationen lassen die Augen neugierig und bewundernd über Bäume, Sterne, Wolken, Blätter, Gräser und vieles mehr wandern. Die Gestaltung von Text und Bild ist eine Augenweide. Dieses Buch wird sicher immer wieder hervorgeholt, auch wenn die Geschichte schon lange auswendig hergesagt werden kann. Coralie Bickford-Smith ist eine äußerst renommierte englische Künstlerin, die mit ihren Werken für Penguin Random House regelmäßig auch international hohe Anerkennung erfährt. Mit ihrem ersten eigenen Werk »Der Fuchs und der Stern« erreichte sie die Auszeichnung »Buch des Jahres 2015« von Waterstones. Heike krause-LeipoLdt ideale Geschenkbuch, und zwar nicht nur für die Kleinen (zum Vorlesen), sondern bevorzugt für die großen Leser. Die herrlichen Coralie Bickford-Smith: »Der Fuchs und der Stern«, (a. d. Englischen von Stefanie Jacobs), Insel Verlag, Berlin 2016, 64 S., € 18. © Coralie Bickford-Smith, Der Fuchs und der Stern / Insel Verlag 60 Lesart 4/16 Sachbuch Die Marke Luther Von der erfolgreichen Selbstvermarktung eines besonderen Christenmenschen I m Untertitel heißt es: »Wie ein unbekannter Mönch eine deutsche Kleinstadt zum Zentrum der Druckindustrie und sich selbst zum berühmtesten Mann Europas machte — und die protestantische Reformation lostrat.« Damit wird klar, dass der Blickwinkel dieses umfangreichen Bandes ein ganz spezieller ist. Hier geht es nicht um eine weitere Lutherbiografie — diese Daten dienen nur als Eckpfeiler —, sondern um ein Phänomen, das noch kaum beleuchtet wurde. Als international anerkannter Experte für Europa zur Zeit der Reformation bringt Andrew Pettegree — er lehrt Moderne Geschichte an der University of St. Andrews — die richtigen Voraussetzungen mit, um Details herauszuarbeiten, die bisher nahezu unbekannt, auf jeden Fall unerforscht waren. Luther war mit vielen Talenten gesegnet. Dazu gehörten seine schiere Schreibkraft, die sich in einem ungeheuren Arbeitspensum zeigte; weiterhin sein Schreibtalent und ein instinktives Gespür dafür, welche Möglichkeiten ihm und seiner Bewegung die junge Druckindustrie bot. Gutenbergs Erfindung war gerade mal wenige Jahrzehnte alt. Als Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg anschlug, ahnte niemand, auch er selbst nicht, dass er innerhalb weniger Jahre der meistgelesene und einer der berühmtesten Männer Europas werden würde. Luther war geschickt darin, seine Erstausgaben gleichmäßig auf diverse Drucker zu verteilen. Er sorgte sogar dafür, dass neue Drucker nach Wittenberg kamen. In Zusammenarbeit mit Lucas Cranach entstanden Titelblätter, die lebendig, neu und anders waren. Sie revolutionierten das Druckgewerbe, waren auf den ersten Blick zu erkennen und damit von anderen zu unterscheiden: Es entstand die Marke Luther. Die Drucker ihrerseits nutzten zu gern die Popularität des Reformers, denn sie brachte ihnen viel Geld ein. Zu all seinen genannten Vorzügen befasste sich Luther nicht nur mit theologischen Diskursen und theoretisierte mit Gelehrten, sondern kümmerte sich auch um Themen wie das Schulsystem. Es war für ihn selbstverständlich, dass Mädchen ebenfalls etwas lernen sollten. Der Bau neuer Schulen in den protestantischen Gebieten geht zu einem Großteil auf Luthers Initiative zurück; was kaum einer weiß. Luther war ein wirklich erstaunlicher und mutiger Mann: Der unbekannte Mönch aus dem wenig bekannten Wittenberg sorgte in nur wenigen Jahrzehnten und trotz aller Gefahren dafür, dass er und seine Stadt unvergesslich blieben. »Die Marke Luther« ist ein sehr unterhaltsam geschriebenes Buch, das viel Freude macht. Pettegree legt anschaulich dar, wie stark die Verflechtungen zwischen dem Reformer und den Druckereien war. Luther unternahm nur wenige Reisen, ohne seine gedruckten Werke wäre alles wahrscheinlich ganz anders gekommen. Er war ein hervorragender Selbstvermarkter, der gern auch persönlich in den Druckereien vorbeischaute und die Vorgänge überwachte. Diesen Mann persönlich und beruflich von anderen Seiten beleuchtet zu haben, ist das Verdienst des Autors. Heike krause-LeipoLdt Luther verbrennt die Bannbulle; Künstlerkarte 1917 62 Andrew Pettegree: »Die Marke Luther«, (aus dem Englischen von Ulrike Bischoff), Insel Verlag, Berlin 2016, 407 S., € 26. Lesart 4/16 Roman Katze ist kein Beruf Peter Henisch erzählt von einer Wiener Kindheit und vom Weg zum Schriftsteller-Dasein D er österreichische Schriftsteller Peter Henisch dehnt seit jeher den Begriff des Romans, aber der Roman hält das aus. Sein neues Buch könnte man ohne diese Gattungseinordnung wohl auch »Erinnerungsbilder« nennen. Wie die Dinge aber liegen, kann Henisch es sich leisten, offen zu lassen, wie viel von ihm selbst in dem Nachkriegs-Wiener Buben stecken, der unter Umständen ebenfalls Peter mit Vornamen heißt. Vielleicht aber auch Paul. Und wie viel von ihm in dem Reisenden steckt, der mal in New Orleans ist, mal in Istanbul, Letzteres auf der Rückreise vom Iran, als Tramper, unvorstellbar. »Damals lag noch nicht so viel Angst in der Luft. Was das betrifft, waren das sehr glückliche Zeiten.« So besteht Peter Henisch auf der ultimativen Freiheit des Autors und der relativen des Erzählers und macht sich zugleich darüber lustig: Über dieses natürlich bei aller Verwicklung auch einfache Verfahren, das das Mitspielen des Lesers voraussetzt und sich an Frau S.’ Ignoranz die Zähnchen ausbeißt. Die Erzählerfigur in Henischs jüngstem Roman, »Suchbild mit Katze« hat viele autobiografische Details mit dem Wiener Schriftsteller gemeinsam, ohne dass dieser eine Autobiografie geschrieben hätte. In hingetupften Szenen erinnert sich Peter (Paul) im Roman an die Nachkriegszeit in Auch muss Henisch sich nicht festlegen, wie viel von ihm in einem Erzähler steckt, der einen Roman über einen gewissen Paul Spielmann geschrieben hat. Allerdings kommt in Peter Henischs »Eine sehr kleine Frau« (2007) ein Mann dieses Namens als Erzähler vor. Der Erzähler in Henischs neuem Buch wird nun von »Frau S.« darauf angesprochen. Sie glaubt partout nicht, dass er wiederum partout nicht dieser Paul Spielmann sein will. Frau S. denkt, er will sie zum Narren halten. »Wenn so ein Autor ICH schreibt, dann denke ich selbstverständlich, es handelt sich um ihn.« Frau S. ist zum Verzweifeln, aber auch sehr komisch. Nachher erfreut sie mit einer weiteren Verwechslung. »Und diese Katze hat Murr geheißen?, fragt die Frau S. Nein, sage ich, Murli hat sie geheißen, weil sie so schwarz war. Aber irgendwo hab ich gelesen, dass Sie eine Katze — oder war es ein Kater? — namens Murr gehabt haben. Das war nicht ich, sage ich, das war E. T. A. Hoffmann. Schon wieder nicht Sie!, sagt die Frau S. Sie wollen es nie gewesen sein.« Da kann man auch wieder denken: Irgendwie hat sie recht, die Frau S. Lesart 4/16 mir diese Wörter peinlich vorkommen? Ich mag sie nicht, diese Wörter, aber ich spitze die Ohren, wenn sie fallen.« Selten vergisst der Erzähler, die Wege der Erinnerung mitzuerzählen: warum ihm etwas wieder eingefallen ist, wie es ihm gerade jetzt einfällt, wo er etwas schon einmal gesehen, gehört hat. Manchmal, häufig reicht ein Blick aus dem Fenster — so dass neben dem »Kater Murr« auch »Des Vetters Eckfenster« seinen Platz bekommt. In der Form bleibt das locker, ist aber weder beliebig noch verplaudert. Die Szenen, die sich dem Erzähler in den Kopf drängen, sind kurz und prägnant. Ihre Zuverlässigkeit ist nicht verbürgt, dafür wiederum sorgt Autor Henisch, der nichts dagegen hat, uns in einer Restunsicherheit zu lassen. Katzen — neben Murli namentlich auch Mimí und Hoffmann (das erzählt der Erzähler gleich Frau S., die nach dem Kater Murr fragt) – sind im »Suchbild mit Katze« keineswegs nur Dekor. Der Erzähler bekennt sich nicht nur zur Katze, indem er mit ihr lebt und zwar offenbar über Jahrzehnte, also Katzengenerationen hinweg. In einem Schulaufsatz nach seinen Plänen für später befragt, schreibt er auch: »Auf die Frage, was ich einmal werden möchte, fällt mir zuallererst die Antwort KATZE ein ... Ja. Ich würde gern eine Katze sein.« Der Lehrer nach einem Blick ins Heft des Lieblingsschülers: »Nein, Peter, das geht nicht. Katze ist kein Beruf.« der geteilten Stadt Wien, eine Kinderliebe, Straßenfreundschaften, das seltsame Leben als Einzelkind, das seltsame Leben als Kind des Jahrgangs 1943. »Es gibt Wörter, auf die eine eigenartige Betonung gelegt wird. Das Wort Jud zum Beispiel. Oder das Wort Nazi. Liegt es nur an der Betonung, dass Daraufhin möchte Peter Schriftsteller werden. »Ich möchte etwas erleben und dann darüber schreiben«, schreibt er nun. Ironischerweise orientiert er sich vorerst an Karl May, der bekanntlich wenig erleben musste, um über alles Mögliche zu schreiben. Aber auch Peter Henisch fand dann ja seinen Weg. Judith von Sternburg Peter Henisch: »Suchbild mit Katze«, Roman, Deuticke, Wien 2016, 204 S.,¤ 20. 69
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