Gott und die Welt

Gott und die Welt
Ein Essay von Peter Hiemann, Grasse
„Wir müssen wissen. Wir werden wissen.“
(Inschrift auf dem Grabstein des Mathematikers David Hilbert)
Die Wege, Wissen zu erwerben sind lang und verschlungen. Die Geschichte spricht für
sich.
Mythologie ̶ Sisyphos (1400 v. Chr.)
Sisyphos war ein König zu Korinth. Er soll um das Jahr 1400 v. Chr. Gelebt und sich
durch große Weisheit ausgezeichnet haben. Heute gilt er vor allem als eine Figur der
griechischen Mythologie, die im Volksglauben als Schalk, gerissenes Schlitzohr und Urbild
des Menschen und Götter verachtenden „Frevlers“ gilt, dem es durch skrupellose
Schlauheit mehrfach gelingt, trickreich den Tod zu überlisten und den Zustrom zum Hades
zu sperren, indem er den Todesgott Thanatos fesselt. Nach dessen Befreiung wird
Sisyphos festgesetzt, aber es gelingt dem Toten mit einer List erneut ins Leben
zurückzukehren: Er befiehlt seiner Frau, ihn nicht zu bestatten und keine Totenopfer für ihn
darzubringen.
Sprichwörtlich ist, dass Sisyphos später eine Strafe auferlegt wurde. Homer nennt keinen
Grund für die Strafe, weshalb schon in der Antike verschiedene Autoren unterschiedliche
Gründe dafür angeben: Einmal wird Sisyphos für seine Renitenz dem Gott Thanatos
gegenüber bestraft, einmal für seine Verschlagenheit, einmal weil er den Göttervater Zeus
an den Flussgott Asopos verrät, weil jener dessen Tochter Aigina geraubt hat. Schließlich
wird er von Hermes für seinen Frevel in die Unterwelt gezwungen, wo er zur Strafe einen
Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen muss, der, fast am Gipfel, jedes Mal wieder
ins Tal rollt.
Heute dient der Begriff 'Sisyphos' vorwiegend dem Zweck, auf eine sinnlose und dabei
schwere Tätigkeit ohne absehbares Ende hinzuweisen. Albert Camus („Der Mythos des
Sisyphos“) hat auf einen Aspekt (wieder?) aufmerksam gemacht, dass man sich Sisyphos
als eine glückliche Figur in absurden Lebenssituationen vorstellen kann.
Weg der Mitte ̶ Siddhartha Gautama (500 v. Chr.)
Grundlage der buddhistischen Praxis und Theorie sind die Vier Edlen Wahrheiten: Die
Erste Edle Wahrheit, dass das Leben in der Regel vom Leid (dukkha) über Geburt, Alter,
Krankheit und Tod geprägt ist; die Zweite Edle Wahrheit, dass dieses Leid durch die Drei
Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung verursacht wird; die Dritte Edle Wahrheit, dass
zukünftiges Leid durch die Vermeidung dieser Ursachen nicht entstehen kann bzw. aus
dieser Vermeidung Glück entsteht und die Vierte Edle Wahrheit, dass die Mittel zur
Vermeidung von Leid, und damit zur Entstehung von Glück, in der Praxis der Übungen des
Edlen Achtfachen Pfades zu finden sind. Diese bestehen in: rechter Erkenntnis, rechter
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Absicht, rechter Rede, rechtem Handeln, rechtem Lebenserwerb, rechter Übung, rechter
Achtsamkeit und rechter Meditation, wobei mit 'recht' die Übereinstimmung der Praxis mit
den Vier Edlen Wahrheiten, also der Leidvermeidung gemeint ist.
Methoden der Meditation haben sich bewährt, geistigen und körperlichen Stress
abzubauen bzw. zu vermeiden.
Metaphysik – Aristoteles (350 v. Chr.)
Aristoteles untersuchte die Frage, welche Inhalte zur ersten Philosophie gehören und wie
diese von anderen Wissenschaften abzugrenzen ist. Während die Einzelwissenschaften
sich mit den ihnen je eigenen Gegenständen befassen, ist es Aufgabe der
Grundlagenwissenschaft, nach den ersten Prinzipien und Ursachen zu fragen und hierzu
Klärungen zur Verfügung zu stellen.
„Es gibt eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht und das
demselben an sich Zukommende. Diese Wissenschaft ist mit keiner der einzelnen
Wissenschaften identisch; denn keine der übrigen Wissenschaften handelt allgemein vom
Seienden als Seienden, sondern sie grenzen sich einen Teil des Seienden ab und
untersuchen die für diesen sich ergebenden Bestimmungen, wie z.B. die mathematischen
Wissenschaften. Indem wir nun die Prinzipien und höchsten Ursachen suchen, ist
offenbar, dass diese notwendig Ursachen einer gewissen Natur an sich sein müssen.“
„Denn wie die Zahl als Zahl besondere Eigenschaften hat, z.B. Ungeradheit und
Geradheit, Verhältnis und Gleichheit, Übermaß und Mangel, was den Zahlen sowohl an
sich als in Beziehung auf einander zukommt; und ebenso das Solide, das Unbewegte und
das Bewegte, das Schwerelose und das Schwere andere Eigenschaften hat: ebenso hat
auch das Seiende als solches gewisse eigentümliche Merkmale, und sie sind es,
hinsichtlich deren der Philosoph die Wahrheit zu erforschen hat.“
Aristoteles' Ansatz, sich über spezielle Wissensinhalte hinaus um weltumfassende
Erkenntnisse zu bemühen, ist beachtenswert. Das er derartige Erkenntnisse in einem
metaphysischen 'Unbewegten' vermutete und zu suchte, war seiner Epoche angemessen.
Aristoteles' Überlegungen im Bereich der Logik finden heute noch Beachtung.
Prophetie – Christus
Jesus Christus (Jesus, der Gesalbte) ist nach dem Neuen Testament der von Gott zur
Erlösung aller Menschen gesandte Messias und Sohn Gottes. Mit seinem Namen drückten
bereits die Urchristen ihren Glauben aus und bezogen die Heilsverheißungen des Alten
Testaments auf die historische Person Jesus von Nazareth.
Die Lehrentwicklung (Theologie) in der Geschichte des Christentums lässt verschiedene
Interpretationen der Person Christi erkennen. Die trinitarische Interpretation (Christologie
der Alten Kirche) geht von der Identität des historischen Jesus mit dem ewigen Sohn
Gottes aus und fragte von da aus, wie der ewige Gott das Menschsein annehmen konnte.
Ihr Interesse ist also darauf gerichtet, Gottes Identität in seiner Menschwerdung
festzuhalten. Die reformatorische Interpretation geht vom Tod Jesu aus und fragt, was
dieser für Gottes Wesen und des Menschen Heil bedeute. Ihr Interesse ist darauf
gerichtet, das Heil des Einzelnen gerade im Menschsein und Sterben des Sohnes Gottes
als Sühnetod zu entdecken. Die anthropozentrische Interpretation geht von allgemein
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menschlichen Daseins- und Verstehensbedingungen aus und interpretierte das Gottsein
Jesu als Bestätigung und Erfüllung des vorab definierten wahren Menschseins. Ihr
Interesse ist auf die Akzeptanz der christlichen Religion unter den Bedingungen des
aufgeklärten historischen Selbstbewusstseins gerichtet.
Die Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam haben gemeinsame
Wurzeln. Mittels Vorstellungen eines 'transzendenten', dem Menschen unzugänglichen,
übergeordneten Gott soll unter anderem erreicht werden, eine menschenverträgliche Welt
zu schaffen. Weil Homo sapiens von Natur aus zu sündhaften Denk- und
Verhaltensweisen neigt, muss er unter Umständen durch Strafe auf den rechten Pfad
verwiesen werden.
Aufklärung mittels Wissen ̶ Denis Diderot (1713-1784)
Denis Diderot widmete sich vielfältigen kontrovers diskutierten Themen seiner Zeit. Zum
Beispiel äußerte er sich zum Gegensatzes von Determinismus und Willensfreiheit, zur
Selbstbestimmung des Menschen, zum Leib-Seele-Problem oder zur Kritik an der
Religion. Vernunft war für Diderot durch die Suche nach wissenschaftlich fundierten
Erkenntnissen zu erreichen. Nach Diderot werden Erkenntnisse durch empirisch
beobachtete und überprüfbare Fakten gewonnen. Erkenntnisse sind nicht auf rein
quantitative Beobachtungen der Wirklichkeit, beschränkt, die mittels mathematischer
Beziehungen dargestellt werden können.
Diderots Überzeugungen beruhten weniger auf abstrakten philosophisch orientierten
Vorstellungen. Vielmehr war er an naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen interessiert.
Für Diderot war Naturwissenschaft dadurch charakterisiert, dass sie sowohl auf Warum –
Fragen als auch auf Wie – Fragen Antworten finden solle.
Diderot gilt als die historische Persönlichkeit, die mit dem Begriff 'Aufklärung' im Sinne
einer undogmatischen Geisteshaltung heute assoziiert wird. Die ursprüngliche
französische Bedeutung 'siècle des lumières' im Sinne einer Erleuchtung wird der Idee
nicht gerecht, dass es bei Aufklärung letztlich um den nicht endenden Auftrag geht, sich
um aktuelles Wissen zu bemühen.
Bewusstsein, aus physikalischer Sicht ̶ Amit Goswami (*1936)
Amit Goswami ist ein Wissenschaftler, der seine Vorstellungen in dem viel beachteten
Buch „Das bewusste Universum. Wie Bewusstsein die materielle Welt erschafft“ dargelegt.
In einem Interview des „enligthenment magazine“ erklärt er seine Vorstellungen:
„Die heutige Weltsicht besagt, dass alles aus Materie besteht und alles auf die
Elementarteilchen der Materie reduziert werden kann, auf die grundlegenden Bestandteile
– Bausteine – der Materie. Und Ursächlichkeit entsteht aus den Interaktionen dieser
grundlegenden Bausteine oder Elementarteilchen; aus Elementarteilchen entstehen
Atome, aus Atomen Moleküle, aus Molekülen Zellen und aus Zellen Gehirn. Aber die
ganze Zeit ist die letztendliche Ursache immer die Interaktion zwischen den
Elementarteilchen. Das ist die Überzeugung – alle Ursache resultiert aus den
Elementarteilchen. Das nennt man „aufsteigende Ursächlichkeit“. In dieser Weltsicht
existiert nicht, was Menschen wie Sie und ich für den freien Willen halten. Freier Wille ist
nur ein Epiphänomen oder ein sekundäres Phänomen, das der ursächlichen Kraft der
Materie untergeordnet ist. Und jede ursächliche Kraft, zu der wir fähig scheinen, ist nur
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eine Illusion. Das ist das gegenwärtige Paradigma.
Die gegenteilige Ansicht besagt nun, dass Bewusstsein am Anfang von allem steht. Das
heißt, Bewusstsein ist der Urgrund allen Seins. In dieser Sichtweise bedingt Bewusstsein
„absteigende Ursächlichkeit“. Mit anderen Worten, unser freier Wille ist real. Wenn wir in
dieser Welt handeln, handeln wir mit der Kraft der Ursächlichkeit. Diese Ansicht bestreitet
nicht, dass die Materie auch über ursächliches Potenzial verfügt – sie leugnet nicht, dass
es von den Elementarteilchen aufwärts Verursachung gibt, also aufsteigende
Ursächlichkeit – aber zusätzlich besteht sie darauf, dass es auch absteigende
Ursächlichkeit gibt. Diese zeigt sich in unserer Kreativität und freien Willensakten oder
wenn wir moralische Entscheidungen treffen. Zu diesen Gelegenheiten sind wir in der Tat
Zeugen absteigender Ursächlichkeit durch Bewusstsein. …...Es gibt eine [physikalische]
Evolution, anders gesagt: Manifeste Realität. Evolution findet statt. Das heißt, dass die
Amöbe natürlich auch eine Manifestation des Bewusstseins ist und ebenso das
menschliche Wesen. Aber sie befinden sich nicht auf derselben Stufe. Vom Standpunkt
der Evolution aus sind wir eben der Amöbe voraus. Und diese Theorien einer
ökologischen Weltsicht wollen das nicht wahrhaben. Sie verstehen nicht, was Evolution ist,
da sie die transzendente Dimension negieren. Sie ignorieren die Sinngerichtetheit des
Universums, das kreative Spiel.“
Goswami und auch andere Physiker übersehen, dass der Begriff 'Evolution' nur auf die
Entwicklung biologischer Spezies aber nicht auf physikalische Gesetze (Theorien)
anwendbar ist. Physikalische Theorien beruhen auf (mathematischen) Beziehungen
zwischen physikalischen Größen. Physik kennt keine physikalischen Programme, die sich
im Verlauf einer Evolution verändern. Physikalisch definierte Strukturen sind nicht das
Resultat der Ausführung physikalischer Programme.
Was ist Leben? – James Watson (*1928)
Der Molekularbiologe James Watson suchte eine molekularbiologische Struktur mit der
Eigenschaft, dass unter bestimmten chemischen Bedingungen eine Kopie ihrer selbst
hergestellt wird. Der Quantenphysiker Erwin Schrödinger hatte schon 1943 in auch noch
heute vielbeachteten Vorlesungen Fragen zum Thema „Was ist Leben?“ erörtert.
Schrödinger wollte herausfinden, ob Physik und Biologie miteinander verträglich sind und
ob Leben aus den Gesetzen der Physik erklärt werden kann. Schrödinger war überzeugt,
dass die wesentliche Eigenschaft des Lebens darin bestehe, Ordnung von Generation zu
Generation weiterzugeben. Da die materielle Verkörperung dieser Ordnung offenbar Platz
finde in einer einzelnen Zelle, müsse sie in Gestalt eines molekularen Codes gespeichert
sein.
Watson konnte sich in den 1950er Jahren auf bereits existierende Untersuchungen und
Arbeitshypothesen berufen, die Genen auf der Spur waren. Kristallografen und
Biochemiker waren Molekülstrukturen auf der Spur, in denen sie den Sitz von Genen
vermuteten.
Schließlich gelang 1953 dem Molekularbiologen James Watson und dem Biochemiker
Francis Crick als Erste, die Molekülstruktur einer Doppelhelix zu finden, die sich eignete,
auf einfache biochemische Weise reproduziert zu werden. Zitat James Watson: „Uns war
klar: So wird das Genmaterial kopiert – und genau das war ja das zentrale Problem des
Lebens, sowie Schrödinger in seinem berühmten Buch „Was ist Leben? definiert hatte.“
Und Watson fügte hinzu: „Die Doppelhelix ist einfach. Vielleicht musste es eine einfache
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Lösung geben, sonst hätte das Leben gar nicht beginnen können.“
Die Entdeckung einer noch wesentlicheren 'Brücke' zwischen der physikalischen und der
biologischen Welt als die DNA Struktur gelang 1961 dem Biochemiker Heinrich Matthaei.
Er entdeckte den Code, nach dem Genmaterial in Proteinmaterial übersetzt wird. Dieser
Code ist universell für die Strukturbildung biologischer Organismen auf allen Stufen der
biologischen Evolution.
Watson sah im Moment des Erfolgs noch nicht, wie viel schwieriger es sein wird, die
komplexe Welt der Proteine zu ergründen. Crick war der Ansicht, dass es seit der
Entdeckung der DNA-Doppelhelix überflüssig sei, in die Kirche zu gehen.
Bewusstsein, aus biologischer Sicht
Francis Crick (1916-2004), Christof Koch (*1956)
Lange wurde angenommen, dass Leben mehr oder weniger durch Gene determiniert wird
und biologische Evolution mehr oder weniger auf zufälligen Veränderungen (Mutationen)
von Genen und der Selektion erfolgreicher Gene beruht. Der vielleicht bedeutsamste
Schritt auf dem Weg weg von der Allmacht der Gene war die biologische Evolution von
speziellen organischen Strukturen, den Nervensystemen. Der Struktur und Funktion von
Nervensystemen, speziell dem menschlichen Gehirn und dem Phänomen Bewusstsein,
widmen sich Neurobiologen. Neurobiologische Erkenntnisse basieren auf der
Arbeitshypothese und Experimenten (mit Tieren), dass Bewusstsein aus dynamischen
außerordentlich komplexen Kombinationen wechselwirkender Neuronen (neuronal
complementary conciosness) hervorgeht. Neurowissenschaftler haben beachtliche
Erkenntnisse über die neuronalen Zusammenhänge (Korrelate) des Sehens erarbeitet.
Molekularbiologische und neurobiologische Prozesse der Nervenzellen beruhen auf
Wechselwirkungen. Zellstrukturen beruhen auf Wechselwirkungen zwischen Genen ↔
Proteinen ↔ Neuronen. Geistige Strukturen beruhen auf Wechselwirkungen zwischen
Neuronen ↔ innere Bilder ↔ Umwelt. Es ist beachtenswert, dass viele dieser
Wechselwirkungen nicht in einer Richtung Ursache → Wirkung ablaufen , sondern in
vielfältigen rückbezüglichen Prozessen nach dem Prinzip Schlüssel ↔ Schloss verlaufen.
Es gibt Arbeitshypothesen, dass biologische und geistige Strukturen auch Eigenschaften
besitzen, sich selbst organisieren zu können. Komplexe biologische Programme scheinen
auch ohne zentrale Steuereinheit (anders als Computerprogramme) zu funktionieren.
Koch und der renommierte Neurobiologe Antonio Damasio („Descartes' Irrtum“) sind
überzeugt, dass Descartes' Vorstellung über die Existenz grundlegend unterschiedlicher
Welten, der physikalischen Substanz (res extensa) und denkender Substanz (res
cogitans), der realen Welt nicht entspricht. Zitat Koch: „Auch wenn starke dualistische
Positionen logisch schlüssig sind, sind sie von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus
unbefriedigend. Besonders problematisch ist die Art der Wechselwirkung zwischen Seele
und Gehirn.“ Neurobiologen sind jedoch weit davon entfernt, neuronale Korrelate
komplexen bewussten Erlebens nachweisen zu können.
Philosophen, die mit Hirnforschern zusammenarbeiten, stellen ein menschliches
Grundbedürfnis ins Zentrum ihrer Überlegungen: Bedeutung bzw. Sinn. Sinn in diesem
Zusammenhang bedeutet nicht 'linguistischer' Sinn, sondern dass die Objekte, die man in
der Welt fühlt, sieht oder hört, keine bedeutungslosen Symbole sind, sondern dass sie mit
zahlreichen Assoziation einhergehen (für ein Individuum 'Sinn machen'). Jeder konstruiert
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in seinen Vorstellungen Zusammenhänge, die seinen Erfahrungen und Kenntnissen über
Sachen, Personen oder Ereignisse entsprechen.
Kommunikative Systemtheorie – Niklas Luhmann (1927-1998)
Geisteswissenschaftler versuchen herauszufinden, wie menschliche Vorstellungen im
Rahmen gewisser zusammenfassender Bereiche systematisch dargestellt werden können,
wie zum Beispiel „Wirtschaft der Gesellschaft“, „Politik der Gesellschaft“,“Religion der
Gesellschaft“ oder „Liebe als Passion“.
Die aufgeführten Beispiele beziehen sich auf Untersuchungen Niklas Luhmanns, die er auf
der Basis seiner kommunikative Systemtheorie durchgeführt hat. Der wesentliche Aspekt
von Luhmanns Systemansatzes sind rückbezügliche Wechselwirkungen innerhalb relativ
autonomer gesellschaftlich relevanter (soziologischer) Systeme. Derartige Systeme 'leben'
auf Grund des sprachlichen Austauschs von Information und den Fähigkeiten eines
menschlichen Gehirns, Vorstellungen zu bilden, festzuhalten und zu kommunizieren.
Luhmann postuliert, dass sich in kommunikativen Systemen über längere Zeiträume
Strukturen bilden, denen programmatische Bedeutung zukommt.
Luhmanns Systemansatz geht über die 'üblichen' soziologischen Ansätze, gesellschaftlich
relevante Systeme mittels statischer Erhebungen und Analysen von Elementen und
Relationen darzustellen, weit hinaus. Nach Luhmanns Systemtheorie findet eine ständiger
Informationsfluss zwischen den Elementen eines kommunikativen Systems statt. Luhmann
postuliert, dass in einem kommunikativen System verschiedenartige Teilsysteme aktiv
sind: ein Programmsystem, ein Interaktionssystem und ein Funktionssystem. Das
Gesamtsystem ist ständigen Veränderungen unterworfen, solange Kommunikation
(Austausch von Information) zwischen den Teilsystemen nicht zum Erliegen kommt.
Während des fortdauernden Kommunikationsprozesses kommt es zu Variationen der
Programme des kommunikativen Systems. Variationen werden von dem System entweder
akzeptiert und integriert oder abgewiesen und verworfen (positive oder negative
Selektion).
Luhmann bezieht sich bei seinen Überlegungen zur kommunikativen Systemtheorie öfters
auf den Neurobiologen Humberto R. Maturanas und kannte dessen Ansichten hinsichtlich
menschlichen Bewusstseins:
- „Es gibt kein Selbstbewusstsein ohne die Sprache als ein Phänomen der
sprachlichen Rekursion. Selbstbewusstsein, Bewusstheit, Geist – das sind
Phänomene, die in der Sprache stattfinden. Deshalb finden sie als solche nur im
sozialen Bereich statt.“
- „Experimente sagen uns Grundlegendes über die Weise, auf die jener
andauernde Fluss von Reflexionen, den wir Bewusstsein nennen und mit unserer
Identität assoziieren, organisiert ist und seine Kohärenz bewahrt.“
Luhmann kannte auch den Begriff „strukturelle Kopplung“, wie er von Humberto R.
Maturana für zwischen voneinander abhängigen, sich bedingenden biologischen
Systemen eingeführt worden war. Dieser Begriff ist sicher auch relevant, um Umwelt
bedingte Abhängigkeiten in gesellschaftlich relevanten Systemen zu berücksichtigen.
Luhmann hatte nur seinen berühmten 'Zettelkasten' und keine Computer, um
umweltbedingte Abhängigkeiten in von ihm betrachteten sozial-gesellschaftlichen Systeme
zu berücksichtigen.
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Heutige Geisteswissenschaftler, vor allem Ökonomen, können komplexe Aspekte
gesellschaftlicher Systeme nicht mehr außer Acht lassen und verfügen über ausreichend
Computerkapazität, um Erkenntnisse mittels komplexer Computermodelle zu erreichen.
Eine zukünftige Orientierung?
Während der Geschichte der menschlichen Sozialisation wurden vielfältige Weltbilder
erdacht. Homo sapiens bestaunte anfangs die Wunder des Universums und die
unglaubliche Formenvielfalt der Natur. Es war einleuchtend, dass nur Götter bzw. ein
genialer Schöpfer diese wundersame Welt geschaffen haben konnte. Vorstellungen einer
allmächtigen ''transzendenten schöpferischen Instanz' legten nahe, dass Menschen sich in
Schicksale zu fügen haben, die durch 'höhere' Instanzen mehr oder weniger vorbestimmt
seien. 'Höhere' Instanzen besaßen die Weisheit, menschliche Denk- und
Verhaltensweisen zu empfehlen. Erst in jüngster Zeit der menschlichen Geschichte
gelangen Homo sapiens Einblicke in physikalische atomare Zustände, in kosmisches
Geschehen, in biologische molekulare Programme und neurologische Grundlagen des
menschlichen Geistes. Heute staunt Homo sapiens, was er alles über die Wunder des
Universum, die unvorhersehbare Evolution biologischer Wesen und die unglaubliche
Komplexität und Dynamik menschlicher Gehirne (des Geistes) herausfinden kann.
Es spricht Vieles dafür, dass Homo sapiens von Natur aus mehr oder weniger 'gezwungen'
ist, sich fortlaufend Wissen über seine natürliche Umwelt, sein geistiges Umfeld und sein
gesellschaftliches Umfeld zu erwerben. Homo sapiens hat jedoch von Natur aus auch ein
animalisches Wesen. Dieses bestimmt mehr oder weniger seine unbewussten
emotionalen Reaktionen und seine Möglichkeiten, sich emphatisch zu verhalten. Die
Geschichte der menschlichen Sozialisation zeigt, dass religiös orientierte Vorstellungen
und Regeln nichts ausrichten konnten, Menschen von radikalen Konfrontationen und
kriegerischen Auseinandersetzungen abzuhalten. Im Gegenteil drängt sich der Verdacht
auf, dass Menschen relativ leicht zu religiös orientierten Konfrontationen emotional
motiviert werden konnten. Vielleicht sind ideologisch neutrale Meditationstechniken eher
geeignet, emotionale Regungen unter bewusste Kontrolle zu halten.
Die Situation von Homo sapiens im 21. Jahrhundert spricht dafür, das er zukünftig
gefordert sein wird, sich weniger an Glaubensgrundsätzen als vielmehr an 'tragfähigem'
Wissen und mehr umfassenderen Erkenntnissen zu orientieren. Existierende
Geisteswissenschaften sind weit von Vorstellungen entfernt, wie Homo sapiens auf der
Basis existierender gesellschaftlicher Strukturen eine Orientierung hin zu mehr organisch
'funktionierenden' (möglicherweise selbstorganisierenden) Systemen erfolgreicher
Staatswesen finden kann.
In vielen Situationen ist schon gesunder Menschenverstand ein guter Ratgeber, um
verträglich, aber auch kritisch, zu handeln. Solange natürliche Emotionen helfen (wozu sie
da sind) Wahrnehmungen im Sinne eines gesunden Menschenverstandes sinnlich zu
bewerten, sind Emotionen gute Ratgeber. Emotionen, die Anlass für unverträglichen Denkund Verhaltensweisen geben, sind schlechte Ratgeber. Eins ist gewiss: Die Geschichte,
Wissen zu erwerben, wird niemals enden.
„Wir leben wie wir wissen“
(Inschrift auf dem Grabstein eines der Aufklärung verpflichteten Homo sapiens)
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