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DER WOLF
R o l a n d
R e c k
Rotkäppchen, fürchte dich - nicht!
Ja, er könne noch ruhig schlafen, erklärt Sven de Vries. Man mache sich
freilich Gedanken, „was uns da erwartet“, sagt der Schäfer vom Finkhof
in Arnach. Der 35-Jährige ist Herr von über 1500 Schafen. Das ist
eine Menge, insbesondere wenn man Wolf ist und Schafe zum Fressen
gern hat. Und auch die Entfernung zwischen Arnach bei Bad Wurzach
und dem Unterallgäu südlich von Memmingen, wo am 8. November
ein Isegrim in eine Fotofalle tappte, ist für einen hungrigen Wolf ein
Spaziergang. Der Wolf ist zurück. Potzblitz!
Ja gut, es ist inzwischen ja nicht mehr die Nachricht vom weißen Einhorn, dass es in Deutschland
wieder Wölfe gibt. 40 Rudel sollen es inzwischen
sein, die hauptsächlich im menschenarmen Ostdeutschland und im Norden der Republik rumstreunen. Aber selbst im dicht bevölkerten Baden-Württemberg, wo es über 160 Jahre her ist,
dass der letzte Wolf seine Fährte zog, gibt es den
grauen Jäger wieder.
Einst wurde das letzte „Untier“, wie der Wolfstein im Wald von Cleebronn bei Heilbronn verrät, am 10. März 1847 vom „Waldschütz Sorg“ in
die ewigen Jagdgründe befördert. 50 Schafe in
einem Jahr standen auf seinem Sündenregister,
verkündet der Gedenkstein. Inzwischen sind es
nicht mehr die Flinten der Jäger, die dem unter
Naturschutz stehenden Raubtier gefährlich werden, sondern der rasende Verkehr, der bereits zwei
jungen Rüden das Leben gekostet hat.
Es waren Brüder aus der Schweiz, die ihrer Natur
folgend getrennte Wege gingen. Der eine starb im
Juni letzten Jahres auf der A 5 bei Lahr, Orten-
aukreis, der andere wenig später auf der A 8 bei
Merklingen im Alb-Donau-Kreis. Die Ironie des
Schicksals wollte es, dass dieser Wolf neben einer
im Bau befindlichen Grünbrücke unter die Räder kam. Doch damit nicht genug. Im Mai diesen
Jahres wurde der erste lebende Wolf auf der Baar
zwischen Alb und Schwarzwald mehrfach gesichtet. Die Experten der Forstlichen Versuchs- und
Forschungsanstalt in Freiburg bestätigten zweifelsfrei, dass es sich bei dem auf einem Video zu
sehenden Tier um einen Wolf handelt, womöglich
einem verletzten.
Und nun also ein weiterer Isegrim südlich von
Memmingen im Landkreis Unterallgäu. Das ist
zwar jenseits der Iller im Bayerischen, aber doch
vor unserer oberschwäbischen Haustüre. Vor allen
Dingen wenn man weiß, dass Wölfe äußerst konditionsstarke Langstreckenläufer sind, die auch
100 Kilometer in einer Nacht problemlos runterschnüren. Junge Rüden auf der Suche nach neuen Jagdgründen zur Familiengründung sind die
Pioniere, so dass ein Wolf zwar noch kein Rudel
ist, aber es letztlich immer um die Fortpflanzung
geht.
Bisher gibt es noch kein Rudel in Baden-Württemberg, erst dann gelten sie als heimisch. Ein
solcher Familienverbund besteht aus den Elterntieren und wechselnden Mitgliedern der Nachkommen. Vier bis sechs Junge wirft eine Wölfin
im April/Mai. Wenn die Jungwölfe geschlechtsreif
werden, verlassen sie das Rudel und machen sich
auf den Weg. Und dort, wo es genug zu fressen
gibt und eine Rückzugsmöglichkeit, dort schaut
sich der Wandergeselle genauer um. Sollte es passen und er die Liebe seines Lebens finden, dann
müssen sich die Beutetiere in Acht nehmen. Nicht
umsonst spricht man vom „Wolfshunger“. Doch
der Speiseplan von Wölfen ist vielfältig, wie deren
Territorium weitläufig ist. 200 bis 300 Quadratkilometer (was einem Kreisdurchmesser von rund
16 bis 20 Kilometern entspricht) beansprucht ein
Wolfsrudel. Lieblingsspeisen sind Huftiere wie
Rehe, Wildschweine und Rotwild (Hirsche) und
folglich auch Schafe und Ziegen, aber Wölfe verschmähen auch Aas und Kleintiere nicht.
Sven de Vries, der Schäfer vom Finkhof, gibt sich
cool. Er war mit seinen Schafen auf der Sommerweide auf der Alb, als nur 25 Kilometer entfernt
davon der Wolf bei Merklingen zu Tode kam. Vielleicht hatte der Räuber sogar bei ihm im Schäferkarren vorbeigeschaut, ohne seinen Schafen
an die Wolle zu gehen. Wer weiß. Aber als Hirte
macht er sich natürlich Gedanken über den Schutz
seiner Herde vor Wölfen, die das nächste Mal womöglich hungrig sind. In Frage kommen Zäune
mit Flatterbändern, was arbeitsaufwändig wäre,
Ausreichend Beutetiere und Rückzugsmöglichkeiten sind die beiden wichtigsten Voraussetzungen, damit Wölfe in einer Region
heimisch werden. Foto: hkuchera - Fotolia
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Herdenschutzhunde oder Esel. Wie bitte Esel? Ja,
erklärt der Schäfer, Esel seien im Unterschied zu
Schafen keine Fluchttiere und äußerst wachsam.
Mit ihrem markdurchdringenden Geschrei, ihrem
Dickschädel und ihren harten Hufschlägen würden sie sich auch Wölfen in den Weg stellen. Das
klingt famos!
Noch hat Sven de Vries weder einen Schutzhund,
nicht zu verwechseln mit seinen Hütehunden,
noch einen Esel, sollte es tatsächlich zu einer
Wolfsattacke kommen, dann könnte er darauf
hoffen, dass er den erlittenen Schaden aus einem
speziellen Fonds ersetzt bekäme. Einen rechtlichen Anspruch hätte er darauf allerdings nicht.
Aber da die Rückkehr des Großraubtieres nicht
unproblematisch und damit politisch heikel ist, ist
man von offizieller Seite bemüht, die Akzeptanz
in der Öffentlichkeit zu erhalten. Des Schäfers
Haltung ist deshalb wichtig: „Der Wolf soll seine
Chance bei uns kriegen. Und für Probleme muss
man Lösungen finden.“
Der Schäfer Sven de Vries mit Hütehund und Schafen ist gelassen.
Foto: Reck
„Begegnung mit einem Wolf ist sehr unwahrscheinlich“
FREIBURG. Zentrale Informationsstelle des Landes über Wölfe in BadenWürttemberg ist die Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt
(FVA) in Freiburg. Dr. Micha Herdtfelder, zuständig auch für den
Arbeitsbereich Wildtierökologie hat BLIX Auskunft gegeben.
Bietet Oberschwaben Wölfen einen geeigneten Lebensraum?
Wölfe sind hinsichtlich diverser Umweltbedingungen Opportunisten und können sich somit verschiedenen Situationen anpassen. Voraussetzungen für den
dauerhaften Aufenthalt für Wölfe in einem Gebiet sind Gebietsteile, in die
sie sich zeitweise ungestört zurückziehen können. Eine zweite Voraussetzung
ist eine ausreichende Beuteverfügbarkeit. Beide Kriterien sind in den meisten
Gegenden Baden-Württembergs grundsätzlich gegeben und somit auch
in Oberschwaben. Allerdings ist das Straßennetz für Wildtiere mit großem
Raumanspruch, wie den Wolf, bei der Durchwanderung der Landschaft nicht
unproblematisch. Und die für die Landschaft Oberschwabens charakteristische Siedlungsstruktur der Vereinödung bietet nur wenige störungsarme
Landschaftsbereiche.
Der Wolf als Großraubwild hat keine natürlichen Feinde. Wie reguliert sich
der Bestand?
Auch wenn der Wolf nicht bejagt wird, gibt es mehrere Mortalitätsfaktoren.
Dazu gehören natürliche Krankheiten, Unfälle (beispielsweise im
Straßenverkehr) und illegaler Abschuss. Allgemein ist die Sterblichkeit bei
Wildtieren vor allem im ersten Lebensjahr sehr hoch. Ein weiterer limitierender Faktor ist die Territorialität der Wölfe. Ein bestimmtes Gebiet wird
nur von den Wölfen einer Familie besetzt. Die Jungtiere wandern nach
zwei Jahren ab um sich eigene Reviere zu suchen. Durch diese natürlichen
Mechanismen vergrößert sich zwar das Gebiet, in dem Wölfe vorkommen.
Die Dichte der Wölfe verändert sich jedoch nicht maßgeblich.
Welchen Einfluss nehmen Wölfe auf ihren Lebensraum und ihre Beutetiere?
Die Dynamik in Räuber-Beute-Beziehungen ist eine sehr komplexe
Forschungsfrage, die Ergebnisse sind nur sehr bedingt übertragbar, die
Auswirkung regional sehr unterschiedlich. Daher ist diese Frage pauschal nicht zu beantworten. Bisherige Studien lassen vermuten, dass
auf Landschaftsebene der Einfluss des Wolfes auf die Bestandeszahlen
seiner Beutetiere wahrscheinlich als nicht erheblich einzuschätzen ist. In
Teilregionen, beispielsweise in einzelnen Jagdrevieren, kann der Wolf zu
bestimmten Zeiten einen messbaren Einfluss haben, der aber wahrscheinlich
nicht dauerhaft gegeben ist. Das Verhalten des Wildes kann sich in manchen
Regionen, in denen der Wolf im Ökosystem wieder eine Rolle, spielt ändern.
Allgemein werden die Lebensräume und Beutetierbestände von einer Vielzahl
an Faktoren stärker beeinflusst als durch Beutegreifer.
Wer kommt für mögliche Schäden auf?
Da es keine allgemeine, unmittelbar aus Rechtsvorschriften abzuleitende Verpflichtung des Staates zu Entschädigungszahlungen für von wild
lebenden Tieren verursachte Schäden gibt, wurde in Baden-Württemberg
ein Ausgleichsfonds Wolf eingerichtet, der von verschiedenen beteiligten
Verbänden getragen wird. Sollte es zu Nutztierrissen kommen, werden diese
über den Ausgleichsfonds beglichen. Voraussetzung ist hierfür, dass der Wolf
als Verursacher von der FVA offiziell bestätigt wird.
Welche Gefahr geht von Wölfen für Hunde aus? Zum Beispiel auch für frei
laufende (Jagd-)Hunde?
Generell reagieren Wölfe neugierig auf Hunde und werden sich diesen
nähern. Ist der Hund allerdings in Begleitung eines Menschen, wird der Wolf
von einer Annäherung absehen und es kommt zu keiner kritischen Situation.
Es ist daher wichtig, Hunde im Wolfsgebiet nahe beim Menschen zu halten
und am besten anzuleinen. In Deutschland ist mit etwas Vorkenntnis und
Aufmerksamkeit nach wie vor möglich, mit freilaufenden Jagdhunden zu
arbeiten. Eine Ausnahme stellt hier das Nachsuchen eines angeschossenen
Stückes dar. Für den Fall, dass sich bereits Wölfe am Kadaver befinden, sollte
hier stets mit Leine gearbeitet werden.
Wie soll man sich bei einer zufälligen Begegnung mit einem Wolf verhalten?
Die Begegnung mit einem Wolf ist sehr
unwahrscheinlich. Sollte sie dennoch
stattfinden, wird sie sehr kurz ausfallen.
Wildtiere im Allgemeinen meiden den
Menschen und suchen möglichst schnell
eine nahgelegene Deckung auf. Daher
hat der Mensch eigentlich keine Zeit zu
reagieren, weil das Tier gleich wieder
verschwunden sein wird. Sollte sich das
Tier anders verhalten, beispielsweise mit
Neugier reagieren, wäre das ein auffälliges Verhalten, was umgehend der mit
dem Wolfsmonitoring beauftragten FVA
oder der Naturschutzbehörde gemeldet
werden sollte. In solch einem Fall Ruhe
bewahren und sich langsam und leisen
entfernen. Potentielle Wolfssichtungen
können immer gerne der FVA gemeldet
werden.
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