Manuskript downloaden

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Verfluchte Heimkehr
Die Irrwege der Ellen Schernikau
Von Michael Sollorz
Sendung: 02.12.16 um 10.05 Uhr, Länge: 24 Min.
Redaktion: Nadja Odeh
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Service:
SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter
www.swr2.de oder als Podcast nachhören:
http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml
Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim
SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro.
Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030
Bestellungen per E-Mail: [email protected]
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
VERFLUCHTE HEIMKEHR
01 - Atmo Deutsches Theater: Zuschauer nehmen ihre Plätze ein.
02 - Ellen:
Wenn ich ihm erzählt hätte, mit sechs, dass der Vater eigentlich nichts von uns
wissen will, und uns aber trotzdem geholt hat – wie soll ich dem Kind das erklären?
Das hab ich ja kaum verstanden.
Erzähler:
Berlin, die Kammerspiele des Deutschen Theaters. Ausverkauftes Haus. Gegeben
wird „Die Schönheit von Ostberlin“, eine Collage aus Texten entlang der bewegten
Biografie des jungen Autors Ronald M. Schernikau. Ich habe ihn gekannt. Sein
Schicksal ist ein Jahrhundert-Stoff, die große Utopie, der Irrsinn der deutschen
Teilung, Tragödie und Farce. Er ist früh verglüht. - Und seine Mutter, habe ich mich
oft gefragt?
03 - Ellen:
Ohne das Kind wäre ich gar nicht weggegangen. Da hätte ich andere Männer
kennengelernt, und ich hatte tolle Bekanntschaften – ich wär nicht weggegangen.
Erzähler:
Die dreißigjährige Magdeburger Unterrichtsschwester will für ihren Sohn den Vater.
Der hat die Flucht in den Westen bezahlt, den Platz im Kofferraum eines Diplomaten.
Und jahrelang gelogen hat er. Nun verschweigt auch sie dem Kind die Wahrheit.
04 05 06 07 Ellen:
Was für n Schwachsinn! Was hab ich da gemacht? Anstatt zu sagen, du, der hat da
ne Familie, das hab ich auch nicht gewusst, und jetzt müssen wir mal sehen, wie wir
damit zurechtkommen, das wärs gewesen. Er hat es eben als Kind nicht verkraftet.
Das ist eben die Scheiße. Er hatte dann – er ist krank geworden. Und diesen
Prozess hab ich nicht erkannt. Erst als es zu spät war und er dann in der
Kinderheilanstalt, so nennt man das, in Hannover war, weil er aggressiv wurde und
ich das überhaupt nicht deuten konnte, und nicht mit ihm klarkam. Das hole ich mir
immer in Erinnerung. Und ich weiß, dass Ronald dann immer gesagt hat, zwei, drei
Mal, Mensch, nun lass das doch ruhen, ist doch was aus mir geworden.
Erzähler:
Inzwischen ist der Junge berühmt. In Berlin und Leipzig wurden an seinen
Wohnhäusern Gedenktafeln angeschraubt, auf Arte gab es eine Doku, bei Aufbau
eine dicke Biografie. Und Ellen, die Mutter, ist gerade 80 geworden. Eine auffällige
Erscheinung, hochgewachsen und schlank, tausend feine Falten, dabei ihr jugendlich
leichter Gang. Ihre Republikflucht, das war vor 50 Jahren. Eine Eselei, und sie hat
sich danach nicht zurück gewagt.
2
08 - Ellen:
Ich weiß, dass ich ihm gesagt habe, wir können nicht, weil dann komme ich ins
Gefängnis und du kommst ins Heim. Denn wir sind illegal weg und das geht nicht, da
können wir nicht mehr hin.
Erzähler:
Sie findet wieder Arbeit in ihrem Beruf, bildet Krankenschwestern aus, in Lehrte bei
Hannover, später in Hamburg. Am Anfang besteht sie noch darauf: Ich bin nicht aus
politischen Gründen weg! Keiner glaubt ihr. Wer lebt denn freiwillig in der Ostzone?
Bald spricht sie nicht mehr darüber. Aber sie sehnt sich nach Hause. Und so erzieht
sie ihr Kind.
08 b – Musik-Einspiel Pionierlied: Unsre Heimat
09 - Ellen:
Wenn ich von einer Sache überzeugt bin, dann steh ich dazu – egal was kommt und
egal, was jemand dagegen redet, dann verleugne ich mich nicht. Und er hat an mir
erlebt, dass ich überzeugt war, dass die DDR eine sehr gute Alternative zu dem
kapitalistischen System ist, trotz aller Kritik, Ich hab ihm genau gesagt, was mir nicht
gefällt, Er hat mich erlebt, dass ich an die Tageszeitung der DKP in der ehemaligen
BRD kritische Briefe geschickt habe, also ihr dürft die DDR nicht glorifizieren, das
geht nicht, den Brief haben sie natürlich nicht abgedruckt, aber er hat mich erlebt. Er
wusste, dass ich mal aus der SED austreten wollte, weil mir die Doppelzüngigkeit
meiner Kollegen nicht gefallen hat, und ich zu meinem Parteisekretär gegangen bin,
Das hab ich ihm alles erzählt, und ich hab gesagt, wenn du einen Standpunkt hast,
und du bist überzeugt, dass der richtig ist, dann sieh auch zu, dass du dabei bleibst.
Und du wirst erleben, du wirst Gegner haben, es wird nicht leicht.
Tagesschau z. Grundlagenvertrag:
www.tagesschau.de/jahresrueckblick/meldung220630.html
10 - Ellen:
Und als dann in der Tagesschau diese Meldung kam, Reiseerleichterungen und
Amnestie aller bisher Geflüchteten, die sind jetzt straffrei, sind offiziell ausgebürgert,
1972, da war ich einer der ersten, der durch meine Schwester hat einen Antrag
stellen lassen und vier Wochen später war ich in der DDR zu Besuch! Und habe
zwischen Weihnachten und Neujahr – ich hab das mal durchgezählt, mit dem
inzwischen 12-jährigen Kind 63 Personen wiedergesehen in einer Woche! Und der
arme Kerl musste sich andauernd anhören, du bist aber groß geworden! Hinterher
hat er mir erzählt, das war aber nervig. Bist du aber groß geworden! Na klar, in sechs
Jahren!
Erzähler:
Der sogenannte "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" wird am
21. Dezember 1972 in Ostberlin unterzeichnet. Ein Weihnachtsgeschenk, das
geteilte Volk freut sich. SPD-Unterhändler Egon Bahr warnt jedoch: "Bisher hatten
wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben - und das ist der
Fortschritt."
3
Tagesschau-Sprecher (am Ende): … Normalisierung ist die Formel der Zeit.
11 12 13 14 15 - Ellen:
Ich habe natürlich darüber nachgedacht, jetzt könnten wir zurück. Jetzt werde ich
nicht mehr bestraft, wir könnten jetzt zurück. Aber ich hab mich geschämt, es war mir
unangenehm, den Leuten unter die Augen zu kommen. Ich hab meine Schüler im
Stich gelassen, ich hab meinen – heute würde man sagen Arbeitgeber – also ich hab
meinen Chef enttäuscht, ich hab die Partei enttäuscht, ich haben meine Freunde
enttäuscht, ich hab meine Mutter enttäuscht - ich hab ja niemandem was gesagt –
und es war mir einfach unangenehm. Und das andere war, ich hätte Ronald ja noch
mal im Kindesalter aus einer Welt raus reißen müssen, wo er sich gerade mal
zurechtgefunden hat, und er ging in die 6. Klasse mit 12, und das wollte ich nicht.
Und dann wuchs immer mehr der Gedanke in mir, wenn der mal nicht mehr finanziell
abhängig ist von mir, denn geh ich zurück.
Erzähler:
Ronald ist gerade erst 19, da sorgt sein erstes Buch für einiges Aufsehen:
„Kleinstadtnovelle“. Die Geschichte eines schwulen Gymnasiasten, streng in der
Form, im Anspruch kühn. „erst wenn ich nicht die umarmung verhindern will sondern
die welt ändern, werde ich leben können und arbeiten.“ Der fotogene Jungautor zieht
zum Studium nach Westberlin, entdeckt das Nachtleben – und schreibt.
16 - Ellen:
Oder am Telefon hat er mir vorgelesen, das war auch immer schön. Was er gerade
geschrieben hat – ich les dir was vor! Und das ist manchmal ne Stunde gewesen.
Und denn rief er mich wieder an und sagt, ich hab da was geändert, und hast du
gerade Zeit? Ich hatte immer Zeit.
17 - Atmo: Zug.
Erzähler:
Jetzt, wo der Junge flügge ist, fährt die Mutter erst recht alle Vierteljahre zu Besuch
in den Osten. 1985 laden ehemalige Krankenpflegeschülerinnen des
Examensjahrgangs 65 ihre Unterrichtsschwester Ellen zu einem Klassentreffen nach
Magdeburg ein.
18 - Ellen:
Ich habe eine Atmosphäre erlebt, die so war, wir haben zwar wenig Material, hieß es
immer, ihr habt da drüben alles Einmal-Material, so was haben wir hier nicht, wir
müssen die Spritzen noch auskochen und sterilisieren, und wir haben Mangel an
manchen Dingen und Medikamente sind teilweise schwer zu besorgen, die kriegen
wir aus dem Westen, aber das kriegen wir alles irgendwie hin. Das wird schon
werden.
Erzähler:
Im selben Jahr gibt es auch in Lehrte bei Hannover ein Klassentreffen.
4
19 20 21 - Ellen:
Und da war eine völlig andere Stimmung. Da war nur noch ne Handvoll im Beruf, die
meisten hatten die Nase so voll, dass sie sich anderweitig orientiert haben, studiert
haben oder irgendwie ausgestiegen sind aus dem Beruf, weil sie die Situation nicht
ausgehalten haben, Personalknappheit, die waren irgendwie alle fertig, und der
Tenor war, Ja, ich wohne jetzt hier, in der kleinen Stadt, und hab jetzt den Beruf und
der ist ja auch schön, aber irgendwie, ach Mensch, man freut sich irgendwie schon
aufs Rentenalter, ach, es ist, ach, hör auf …
Erzähler:
„Ich bin die Milva der deutschen Literatur, es weiß nur noch keiner!“, verkündet der
Sohn nach seinem Erfolg mit „Kleinstadtnovelle“. Er hockt in einem nasskalten
Westberliner Parterre, ringt um Texte, die kein Verlag druckt, und träumt von einem
sinnvollen Leben. - 1987 gelingt ihm ein unerhörter Coup: Als erster Westberliner
wird er am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ zugelassen: in Leipzig. Jetzt
erlebt er Tag für Tag die Wirklichkeit der DDR, ihre Fehler. Und hält sie unbeirrt für
den besseren Ort.
22 23 24 25 26 - Ellen:
Da hat er mich von Leipzig aus in Hamburg besucht, wo ich damals gearbeitet hab,
und da hat er gesagt, du, ich muss dir sagen, ich hab die Staatsbürgerschaft DDR
beantragt. Hab ich gesagt: Du, ich muss dir sagen, ich auch (lacht). Meine Kollegen,
als ich denen sagte, dass ich in die DDR zurückgehe, die haben mich groß
angeguckt. Was, jetzt, wo alles im Umbruch ist? Da war schon Ungarn, da war schon
Prag die waren völlig, was willst du da jetzt, das geht doch alles den Bach runter! Ich
hab nicht dran geglaubt, hab gesagt, nee, ich möchte gern dabei sein, Ich hab an die
sozialistische Idee geglaubt und war eben der Meinung, man kann da noch was
retten. Und ich hab mich überall verabschiedet, in meinen Klassen und auch vom
Lehrerkollegium, mit dem Satz: Ich habe 23 Jahre versucht, eine BRD-Bürgerin zu
werden. Es ist mir nicht gelungen. Ich gehe nach Hause. Es gab Leute, die sich nicht
am Abschiedsgeschenk beteiligt haben. Logisch. Aber ich weiß, in der einen Klasse,
da haben alle geklatscht, als ich das gesagt hab.
27 a + b - Atmo: Balkon Magdeburg.
28 - Ellen (auf Balkon):
Ja, Luftlinie von hier, vielleicht 500, 600 Meter ist das Krankenhaus, in dem ich
damals gearbeitet habe, und dies hier, wo wir jetzt sind, waren alles Gärten.
Erzähler:
Magdeburg, ein schlichter Plattenbau aus den 80ern. Ellen liebt ihren kleinen Balkon.
Wie oft hat sie sich hier verkrochen, während draußen ihre Welt in Stücke fiel.
29 - Ellen (auf Balkon):
Meine Rückkehr wurde ja ein Jahr vorher vorbereitet durch mich und durch die
Ausländerbehörde, und denn haben sie mir natürlich auch eine Wohnung
zugewiesen. Und ich krieg den Schein in die Hand und komme hier rein in die
Wohnung, in der ich auch jetzt noch wohne, und sehe, ich hab zwei Zimmer! Ich
wusste doch aber, dass mir nur ne Einraumwohnung zusteht, als DDR-Bürgerin, als
5
alleinlebende Person. Und war völlig überrascht! Und denn sitzen da auch noch in
einer ziemlich kahlen Wohnung Leute auf gepackten Koffern und denn stellt sich
raus, die hatten einen Ausreiseantrag gestellt, und als die hörten, dass ich aus
Hamburg komme, also es war eine Situation, wir haben einander nicht verstanden
(lacht), die wollten ausreisen, ich komme da an.
Tagesschau 10. November 89: https://www.youtube.com/watch?v=7dlfPeeY8mM
30 31 32 33 - Ellen:
Also eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse in meinem Leben ist, wahrscheinlich ist
es so, dass der Mensch immer erst alles haben muss, um dagegen sein zu können.
Um zu begreifen, brauch ich eigentlich nicht. Und als die Grenze aufging und ich 4
Wochen vorher zurückgekommen bin – da konnten die Leute nichts mit anfangen.
Und denn hab ich mich zurückgezogen. Ich hab ja fast n Nervenzusammenbruch
immer wieder gehabt. Ich war so kaputt, dass man mich zur Kur geschickt hat. Ich
war völlig fertig. Dieses Durcheinander, dieses Plötzliche und diese unterschiedlichen
Reaktionen auf diese Grenzöffnung hat uns alle unterschiedlich betroffen und alle
unterschiedlich reagieren lassen, von Jubel bis Selbstmord, das war – da konntest du
dich nicht auseinandersetzen. Da musste jeder klarkommen mit, irgendwie.
Erzähler:
Sie macht sich nicht beliebt, wenn sie ausspricht, was sie kommen sieht. Hohe
Mieten? Entlassungen? Kassandra nervt.
34 35 36 37 - Ellen:
Ich musste schweigen lernen, als ich zurückkam. Ist doch klar, dass die das nicht
geglaubt haben, die haben jahrelang da gearbeitet, das konnten die sich gar nicht
vorstellen! Es ist mir zum Beispiel passiert, dass ich morgens zum Dienst komme,
und die Kollegen sind – es ist niemand da. Und denn hörte ich Stimmen aus einem
Raum, mache die Tür auf, da haben die ne Besprechung ohne mich. Und ich hab
dann aber sofort gespürt, sie fühlten sich wie ertappt, und ich wusste, die sprechen
darüber, wie es drüben war, in Braunschweig war, wie es in Hannover war, und sie
wussten ja, woher ich komme, und was ich für ne Einstellung habe, - Ich war ziemlich
verletzt, dass ich so außen vor war. Aber ich habs auch parallel sofort verstanden,
dass die unter sich sein müssen. Aber ich muss dazusagen, einige von denen, die
ich Jahre später auf der Straße wiedergetroffen habe, haben mir gesagt, Ellen, jetzt
weiß ich, was du damals gemeint hast.
Erzähler:
Auch der Sohn haut ab aus dem Westen. Im Spätsommer 89, auf dem Höhepunkt
der Ausreisewelle, zieht er nach Ostberlin. Erstaunt notiert die spätere LiteraturNobelpreisträgerin Elfriede Jelinek:
37 b - Sprecherin:
Eine seltsame Vorstellung, wie dieser entschlossene junge Mann, einem Tier gleich,
dass seine Instinkte verkehrt herum eingebaut hat, hartnäckig in eine Richtung strebt,
während ringsumher die anderen Tiere wie die Irren vor einem imaginären
Buschbrand in die entgegengesetzte Richtung flüchten.
6
Erzähler:
Der Übersiedler bekommt Arbeit als Lektor und eine Neubauwohnung am Stadtrand.
Er beendet „Legende“, ein Mammutwerk, das all sein Ungedrucktes aufnimmt. Er
ahnt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Und diesmal ist er es, der die Wahrheit
verschweigt.
38 - Ellen:
Ja. Und ich habe später nach seinem Tod „Legende“ gelesen, was er vier Wochen
vor seinem Tod fertig gemacht hat, und da hab ich einen Satz gefunden, von dem ich
glaube oder mir einfach einbilde, dass er den für mich geschrieben hat. Und der Satz
heißt: Man soll den Schmerz nicht teilen. Mitgeteilter Schmerz schmerzt um so mehr.
Und das beruhigt mich einfach. Weil ich war natürlich auch wütend und traurig und
enttäuscht, dass ich von nichts was wusste, und am Telefon erfahren hab, dass er
gestorben ist.
39 40 - Atmo Friedhof: Friedhof Wasser prasselt in eine Gießkanne
41 42 - Ellen:
Ja, ich hatte ein bestimmtes Medikament im Auge, im Sinn und hab das einem
befreundeten Arzt erzählt, wenn ich das hätte, das und das, würde ichs tun. Und da
hat er gesagt, das besorg ich dir. Und in dem Moment hab ich gestutzt und wusste,
dass ich eigentlich gar nicht will. Ich war nur manchmal so am Ende. Ich verliere erst
meinen Sohn und dann noch mein Land, also das war in Zeiten für mich nicht
aushaltbar, was soll ich da noch?
Erzähler:
Ein Friedhof in Berlin. 1960 bis 91, steht auf dem Grabstein. Die Nachbarn sind alle
so viel älter. Ellen trifft sich mit Thomas, dem Lebensgefährten ihres Sohnes.
43 - Ellen:
Tja, und irgendwie hab ich mich ja dann gefreut, dass es Menschen gibt, die dafür
sorgen, dass seine Bücher veröffentlicht werden, und die Suche nach einem Platz in
der Akademie der Künste – das warn alles so Sachen, wo ich dachte, das will ich
alles noch erleben!
44 a + b + c + d - Atmo Friedhof: Ellen und Thomas.
Erzähler:
Thomas. Beharrlich arbeitet er an der Unsterblichkeit seines Freundes. Bringt den
Nachlass in der Akademie der Künste unter. Betreut als Herausgeber die
Werkausgabe. Er ist der Spiritus Rector der Schernikau-Namenspflege, während
Mutter Ellen die meisten öffentlichen Auftritte absolviert.
45 - Atmo Lesung: Zuhörer treffen ein.
7
Erzähler:
Bandito Rosso, eine letzte Kneipe mit Hausbesetzer-Charme in der durchsanierten
Mitte Ostberlins. Schernikaus Blick auf die DDR, heißt der Abend. Die meisten
Zuhörer sind kaum 30 und haben die Teilung nicht mehr erlebt.
46 - Ellen:
Diese Reduzierung der DDR auf Stasi, Plattenbau, gab ja nischt, nicht reisen
können, das sind so die Sachen, die immer kommen, die lass ich mir nicht gefallen.
Wir haben ein Leben gehabt, mit Einschränkungen, aber wir haben gelebt.
Erzähler:
Um die Interpretation der Vergangenheit wird hart gekämpft. Sozialismus auf
deutschem Boden - muss eine Wiederkehr verhindert werden oder taugt sie als
Option für die Zukunft? Ellen Schernikau liest aus einem frechen Essay ihres
Sohnes, entstanden während des Studiums in Leipzig: „Die Tage in L. - Darüber,
dass die DDR und die BRD sich niemals verständigen können, geschweige mittels
ihrer Literatur“.
47 - Atmo Lesung:
Ellen:
Meine 200 Jahre alte Nachbarin in Leipzig klingelt, ich soll ihren Fernseher neu
einstellen, sie hat alle Knöpfe verdreht und in einer Viertelstunde fängt doch die
Schwarzwaldklinik an. (Das ist das, was heute die Arztserien sind.) Ich hocke mich
vor den Apparat, ich drehe, es erscheinen die Westnachrichten. Politiker sprechen,
Bilder erscheinen von unvorstellbaren Katastrophen, Grundsatzurteile über den
Stillstand, wieder sprechen Politiker, und meine 200 Jahre alte Nachbarin legt ihre
Hand auf meinen Arm und flüstert: Alles Verrückte! (Lachen)
Erzähler:
Dass einer als Schwuler und Autor anscheinend jede Freiheit genießt und trotzdem
rüber will in die DDR, dieses sonderbare Land, das sie nur vom Hörensagen kennen,
fesselt die Zuhörer.
48 - Atmo Lesung:
Ellen:
Und er wusste genau, dass er nicht veröffentlicht wird. Das muss man sich mal
vorstellen. Er will Schreiber sein, will Schriftsteller sein und weiß genau, er wird da
nicht veröffentlicht. Peter Hacks hat mal son tolles Wort gesagt, er hat gesagt: Ich
beiße doch lieber in einen sauren Apfel als in einen faulen.
49 - Atmo Fotokarton, Ellen:
Der Karton war voll, das hat alles die Akademie mitgenommen, 180 Fotos haben die
mitgenommen. Tja, also wenn du davon was haben willst...
Erzähler:
Magdeburg, ein Karton mit alten Fotos. Mit ihren 80 Jahren hat Ellen angefangen,
Sachen wegzugeben. Fotos, Bücher, CDs.
8
50 - Atmo Fotokarton:
Ellen:
Das ist sein Vater. Total! Das Profil ist … Unglaublich …
Erzähler:
Der Vater. Wegen einer Bafög-Auskunft schreibt der Junge ihn an. Die Antwort
bekommt die Mutter: „Ist deine Saat also aufgegangen! Ein kommunistischer
Schmierfink! Ich habe keinen Sohn dieses Namens. Belästigt er mich noch mal, gebe
ich meinen Freunden in Berlin einen Tipp!“
51 52 - Atmo Fotokarton, Ellen:
Das war damals 81 im Spiegel, da war Ronald sehr stolz drauf, dass er im Spiegel
vorkommt! Mit ner Rezension, überraschend gut, zur Kleinstadtnovelle. Dieses Foto
ist vier Wochen vor seinem Tod entstanden. Da war er mit Thomas, ich glaub in die
Dolomiten. Und … Dieses Foto geht noch.
Erzähler:
Der Tote hat es weit gebracht. Seine Gegenläufigkeit ist attraktiv. Die
Schwulenbewegung, die Linke – alle brauchen Ikonen. Und auch literarische Kreise
werden wieder aufmerksam, Symposien beugen sich über sein Werk, Schauspieler
treten mit Texten auf. Wie seine Mutter, schon so viele Male - sie zählt es nicht
mehr.
53 54 55 56 - Ellen:
Also ich hab ja Seiten an ihm kennengelernt, von denen ich ja keine Ahnung hatte.
Ich hab nicht gewusst, was er da alles im Kopf hatte. Manche Sachen habe ich
vielfach gelesen und ich hab soviel gelernt dabei. Das hat mich ihm sehr nahe
gebracht, ja. So nahe, dass es schon manchmal wehtut, dass ich ihm das nicht
sagen kann.
Erzähler:
Sechs Wochen vor seinem Tod gibt Ronald M. Schernikau der Dokumentaristin Erika
Runge ein langes Radio-Interview.
56 b - O-Ton Ronald M. Schernikau:
Der Zusammenbruch der DDR, so schmerzhaft er war, er ist für mich das
schmerzhafteste Ereignis in meinem bewussten Erwachsenenleben, er hat nichts an
meiner Haltung ändern können. Nur weil jemand verliert, muss ich mich nicht von ihm
lösen. Für mich hat der Zusammenbruch der DDR nichts daran geändert, dass ich
die DDR liebe. Man kann auch etwas lieben, das es nicht gibt.
wie 27 a + b - Atmo Balkon Magdeburg
9
Erzähler:
Verfluchte Heimkehr. Am Anfang schien der Titel zu passen. Aber stimmt er noch?
57 58 - Ellen:
Nein, niemals! Ich habe nur verflucht, dass ich es nicht eher gemacht hab, ich hab
verflucht die Situation, dass das passiert ist, dass wir es einfach vergeigt haben, dass
wir es nicht geschafft haben, diese Möglichkeit richtig auszuschöpfen. Dass wir
versagt haben, das verfluche ich heute noch. Nu ist genug.
Erzähler:
Am Ende unseres langen Magdeburger Tages sitzen wir noch mal auf dem Balkon.
Ellen hat frische Brötchen geschmiert.
59 60 - Atmo Balkon, Ellen:
Es ist so schade, wenn ich mich mit Gleichaltrigen treffe, die nur an ihre Rezepte
denken und an ihre Krankheiten. Das ist so erbärmlich … (Abbeißen & Kauen.) Ja,
ich kann sagen, mein kleines Leben ist wieder in Ordnung. (Beißt knisternd vom
Brötchen ab.)
61 - Atmo Deutsches Theater, Ellen:
Ich hab gesagt, der Papi, der ist in einem ganz anderen Land, und da ist eine
Grenze, und da können wir nicht hin. Warum nicht?
Erzähler:
Berlin, Kammerspiele des Deutschen Theaters. Die Schönheit von Ostberlin. Nur vier
oder fünf Aufführungen waren vorgesehen, doch es lief so gut, da wurden es 24. Und
diese letzte hat es in sich.
62 - Atmo Deutsches Theater, Ellen:
Lieber Gott, sag mir, was ich getan hab, ich muss zurück, ich bin Irene Binz, ich
muss nach Haus, zurück …
Erzähler:
Die Darstellerin der Mutter ist erkrankt - da hat das Theater Ellen gefragt. Jetzt spielt
sie sich selbst. In dieser Revue. Eines kurzen Lebens.
63 - Atmo Deutsches Theater, Ellen:
Du saßt auf meinem Schoß, und ich hab versucht, es dir zu erklären. Der
Sozialismus, das ist ein Leben, das wir haben wollen, da gibt es keine Armen, jeder
hat zu Essen, jeder kann viel lernen, und keiner da, der einen quält. Und Sozialismus
fandest du dann auch gut.
10
64 - Atmo DT, Stück Ende
… Thomas, ich liebe dich! Die Umarmung der Welt blieb nicht aus … Ich werde nicht
mehr versuchen, den Umarmungen zu entfliehen … Schlussmusik die tiefste Stille
der Applaus – schließlich frenetisch.
Erzähler:
Der tote Held wird nach hinten geschafft. Ellen Schernikau bleibt allein auf der
Bühne. Sie richtet das verlassene Sterbebett ihres Sohnes. Der Saal hält den Atem
an. Alle sind jetzt bei der Mutter. - Das war kein Spaziergang.
65 66 67 - Ellen:
Ich hab Ronald mal beobachtet, da war er in der Krippe, das heißt, er muss so
zwischen zwei und drei gewesen sein, und er hilft einem Kind hoch, was hingefallen
ist. Das war so schön. Beugt sich runter und klopft es ab und streichelt ihn – das war
so ein schönes Bild. Das werd ich nie vergessen.
11