Porträt Dr. Sommer - research

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Bayer research 30 November 2016
Fotos: Dominik Butzmann/Bayer AG (5), Privat (1)
Kampf gegen Tumore: Die Biochemikerin Dr. Anette Sommer möchte neue Medikamente gegen aggressive Krebsarten finden. Ihren ­Optimismus
verliert die Biochemikerin dabei nie, obwohl die Wirkstoffforschung langwierig ist und es immer wieder Rückschläge gibt.
Dr. Anette Sommer PORTRÄT
PORTRÄT: DR. ANETTE SOMMER ENTWICKELT ANTIKÖRPER-WIRKSTOFF-KONJUGATE
Auf der Suche nach neuen
Krebsmedikamenten
Etwa jeder dritte Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens an einem Tumor, rund die Hälfte stirbt daran. Die Zahl wirk­
samer Krebsmedikamente ist noch immer sehr klein. Deshalb fahndet die Biochemikerin Dr. Anette Sommer nach Subs­
tanzen für neue Medikamente. Sogenannte Antikörper-Wirkstoff-Konjugate sind ein vielversprechender Ansatz.
Ein Tumor, der nicht behandelt werden
kann? Da wird Dr. Anette Sommer hellhörig. Die Biochemikerin ist Principal
­Scientist in der Onkologieforschung bei
der Bayer-Division Pharmaceuticals in
Berlin. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, „Krebsmedikamente zu entwickeln,
die gleichermaßen wirksam und verträglich“ sind. „Jeder Tumor ist anders – und
muss entsprechend anders behandelt
werden“, erklärt sie. Das spornt sie an,
und dafür arbeitet sie seit gut 20 Jahren
in der Krebsforschung. „Ich möchte nichts
Anderes machen“, sagt die 48-Jährige und
erläutert ihre Motivation: „Die meisten
Krebsmedikamente, die heute auf dem
Markt sind, wirken zwar und verlängern
das Leben von Patienten mit Krebs – doch
sie verbessern nur selten die Lebensqualität.“ Müdigkeit, schwere Verdauungsbeschwerden, Nervenschmerzen und
Haarausfall plagen die Patienten. Deshalb
möchte die Bayer-Forscherin Wirkstoffe
entwickeln, die möglichst wenige Nebenwirkungen haben und trotzdem am Tumor
eine hohe Wirksamkeit entfalten.
Ein optimaler Wirkstoff soll nur
den Tumor angreifen
Sommer hat vor allem diejenigen Tumore im Visier, bei denen besonderer
Handlungsbedarf besteht – aggressive
Krebsarten, gegen die es bislang noch
keine wirksamen Medikamente gibt, etwa
einige Arten von Brustkrebs, Magenkrebs
oder Bauchspeicheldrüsenkrebs. Gegen
Sportlicher Ausgleich: Dem stressigen Laboralltag begegnet Dr. Anette Sommer mit
Bewegung. Jeden Tag fährt sie mit dem Fahrrad zur Arbeit.
solche Krankheiten entwickelt die Biochemikerin Substanzen, die möglichst
nur den Tumor angreifen sollen, gesundes Gewebe aber verschonen. Um das
zu bewerkstelligen, bedienen sie und ihr
Team sich eines Tricks: „Wir koppeln die
hochwirksamen Wirkstoffe an einen Antikörper, der spezifisch bestimmte Proteine
auf den Tumorzellen erkennt, nur hier andockt und den Wirkstoff in die Krebszelle
transportiert“, erklärt sie. Sommer greift
zum Stift und beginnt zu zeichnen: Antikörper, Tumorzellen, Andockstellen. „Wissenschaftler nennen diese Hybridmoleküle Antikörper-Wirkstoff-Konjugate“,
erläutert sie, kurz ADC (vom englischen
Antibody-Drug Conjugate). „Sie sind vergleichbar mit einem Trojanischen Pferd.“
Das Grundgerüst ist ein Antikörper. Er ist
darauf ausgerichtet, an bestimmte Proteine auf der Tumorzelle zu binden. Solche
Tumormarker kommen entweder nur auf
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Gemeinsames Ziel: Teamarbeit im Labor
ist Dr. Anette Sommer wichtig. Zusammen
mit ihren Mitarbeitern und Kollegen wie
Rukiye Tamm (Foto rechts), Linda Caparusagi und Dr. Jörg Willuda (Foto unten)
sucht die Biochemikerin nach neuen Möglichkeiten, Tumore effektiv anzugreifen.
Dafür arbeitet sie im Büro am Computer
(Foto links) ebenso wie im Labor.
Krebszellen vor oder sind viel stärker auf
Tumorzellen als auf gesunden Körperzellen vorhanden. „Und hier zeigt sich die
Genialität des ADC-Konzepts“, schwärmt
Sommer. Das ADC hat einen für die Tumorzelle tödlichen Wirkstoff im Gepäck,
über einen sogenannten Linker sind beide
miteinander verbunden. Sobald das Konjugat angedockt hat und aufgenommen
wurde, entlädt es seine Fracht in die
Krebszelle. Das Medikament beginnt zu
wirken und die Krebszelle stirbt. „Theoretisch zumindest – ganz so einfach ist es
leider nicht“, sagt Sommer.
Was die Arbeit mit den Hybridmolekülen so schwierig macht? „Die ADCs kombi-
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nieren Moleküle aus zwei Welten“, erklärt
Sommer. „Der Wirkstoff ist der chemische
Anteil. Der Antikörper ist als Protein der
biologische Anteil.“ Um die Wirkung des
ADCs zu überprüfen, sind zahlreiche Labortests daher essenziell.
Die Wissenschaftlerin ist
beharrlich im besten Sinne
„Die Suche nach einem neuen Wirkstoff
ist eine experimentelle Wissenschaft“,
sagt Sommer. Gerade das mache sie so
spannend, aber manchmal auch extrem
mühselig. Ihre Motivation: „Ich möchte
Substanzkandidaten entwickeln, die die
Chance haben, in der Klinik geprüft zu
werden und später eine Marktzulassung
zu erreichen.“
Wer die Bayer-Forscherin trifft, ist
schnell überzeugt, dass sie das eines Tages auch schaffen wird. Sommer ist beharrlich im besten Sinne. „Wenn man sich
in der Forschung für etwas entscheidet,
muss man auch dranbleiben“, findet sie.
Mit dieser Ausdauer geht sie auch ihrem
Hobby, dem Laufen, nach: Sie trainiert für
5- und 10-Kilometer-Läufe und nimmt regelmäßig an Wettbewerben teil, einzeln
und im Team. Seit 2005 ist sie fast jedes
Jahr mit Kollegen bei der 5x5-KilometerStaffel im Berliner Tiergarten dabei. Dieses
Dr. Anette Sommer PORTRÄT
Jahr nannte sich die Truppe – wie könnte
es anders sein – „The Flying Antibodies“.
„Unser Maskottchen war natürlich ein
geflügelter Antikörper“, berichtet Sommer. Mit dem Training verbringt sie einen
Großteil ihrer Freizeit: „Es macht mir viel
Spaß, mir auf diese Weise einen bewegten
Ausgleich zur Arbeit zu schaffen.“ Ähnliche Hartnäckigkeit hat sie während ihrer
gesamten Forschungslaufbahn bewiesen,
obwohl es immer wieder Rückschläge
gibt. Sommers beruflicher Werdegang
folgt erstaunlich genau den Etappen der
Pharmaforschung in der Wirkstoffentwicklung.
Sie entschied sich schon im
Studium für die Onkologie
Jede Arzneimittelentwicklung beginnt mit
der Target-Identifizierung. Sie beschreibt
die Suche nach einem Angriffspunkt im
Körper, auf den ein neuer Wirkstoff abzielen könnte: „Sobald wir wissen, gegen
welchen Krebs ein geeignetes Medikament fehlt, schauen wir uns den Tumor
genauer an“, erklärt Sommer. „Wir suchen zum Beispiel nach Rezeptoren, die
auf den Tumorzellen besonders häufig
vorkommen und an denen ein Arzneistoff angreifen könnte.“ Direkt nach i­hrer
Doktorarbeit an der Medizinischen Hoch­­
schule Hannover arbeitete Sommer auf
diesem Gebiet. Sie befasste sich vor allem
mit hormonresistentem Brust- und Prostatakrebs.
Der zweite Schritt auf dem Weg zu
einem neuen Medikament ist die TargetValidierung. Mit ihr beschäftigt sich Sommer schwerpunktmäßig, seit sie im Jahr
2004 in den Bereich Enabling Technologies wechselte. Die Forscher prüfen zum
Beispiel an Tumorschnitten, ob der vorher
festgelegte Angriffspunkt tatsächlich eine Behandlungschance eröffnet. Bestätigt
sich das Target, so kann die Herstellung
eines spezifischen Wirkstoffs starten, der
genau daran andockt. Diese sogenannte
Leitstruktur, den Lead-Antikörper, nehmen
die Forscher dann genauer unter die Lupe.
Sie optimieren ihn in allen Eigenschaften
und feilen zum Beispiel an den Bindungseigenschaften des Antikörpers. „Die ADCEntwicklung ist eine Zusammenarbeit von
Experten unterschiedlicher Fachrichtungen, etwa Anti­körperspezialisten, Medizi-
nalchemikern, Pharmakokinetik-Experten,
Toxikologen und Pharmakologen“, erklärt
Sommer. „Zahlreiche Experimente führen
uns so zum eigentlichen Wirkstoffkandidaten.“ Die Ergebnisse aller Tests laufen
bei ihr zusammen. Seit Januar 2015 ist
Sommer „Koordinatorin für das ADC-Portfolio in der frühen Wirkstoffforschung“.
Neben der Projektarbeit ist sie zuständig
für internationale Kooperationen mit akademischen Partnern, aktuell zum Beispiel
mit Cancer Research UK und verschiedenen Einrichtungen in Singapur.
Rückblickend ist Sommer sehr froh,
„an der Basis der Wirkstoffforschung“
angefangen zu haben. Das habe ihr ein
Verständnis für die Relevanz der TargetIdentifizierung und -Validierung für die
darauf aufbauenden Wirkstofffindungsprogramme gelehrt – und auch für den
Stress, der in den darin forschenden
Abteilungen herrscht. Ihrem eigenen
Stress begegnet sie mit Bewegung: Mit
dem Fahrrad fährt Sommer jeden Morgen durch Berlin, vom Prenzlauer Berg in
den Wedding, und abends wieder zurück.
„Ich brauche den Sport, um abzuschalten.“ Wenn Radfahren und Laufen nicht
genügen, geht sie in das Fitness-Studio
auf dem Bayer-Gelände oder macht Yoga. „Das ist ein guter Ausgleich für den
Trubel, der manchmal im Labor herrscht.“
Die Arbeit im Team und über Grenzen
hinweg gefällt ihr. „Hier arbeiten viele
Menschen aus unterschiedlichen Ländern
zusammen – alle mit dem gleichen Ziel:
Tumorpatienten zu helfen.“
Sommer fand in ihrem Vater
ein berufliches Vorbild
Ihre Sorge um Patienten, ihre Empathie
hat Sommer von ihrem Vater geerbt. Er
war als Internist und Gerontologe tätig,
spezialisiert auf Herzschrittmacher, und
ein echtes Vorbild für sie. „Ich dachte
damals, was er im Umgang mit Patienten alles kann, das ist schon etwas Besonderes.“ Deshalb hat Sommer nicht wie
er Medizin studiert, sondern Biochemie.
Ihre Begeisterung für Genetik und biochemische Moleküle entdeckte sie schon
in der Schule. Wie ihr Vater will sie damit
Patienten helfen – aber nicht als Klinikerin
am Krankenbett, sondern als Forscherin in
der Medikamentenentwicklung.
Faible für die Wissenschaft: Während ihrer Doktorarbeit 1997
an der Medizinischen Hochschule Hannover saß Sommer häufig am Mikroskop. Schon damals forschte sie in der Onkologie.
Von Hunderten potenziellen Wirkstoffkandidaten lässt ihr Team nur die effektivsten in der Praxis überprüfen. „Hier
geht es vor allem darum, die Interaktionen der Wirkstoffe im Organismus zu
analysieren und zu verstehen“, erklärt
Sommer. „Ausschließlich die beste Substanz wird an Tumorpatienten auf Verträglichkeit und Wirksamkeit getestet.“
Frühestens dann wissen die Forscher, ob
der Wirkstoff Potenzial hat. „Egal was wir
machen – es darf dem Patienten nicht
schaden“, stellt Sommer klar.
Einen Wirkstoffkandidaten hat Sommer bereits bis in die erste klinische Phase
bringen können. „Dann mussten wir die
Entwicklung aber stoppen, weil die Substanz nicht so funktioniert hat, wie wir
erwartet hatten.“ Solche Wendepunkte
gibt es im Forscherleben immer wieder.
„Es war eine Enttäuschung, aber ohne
Frage die richtige Entscheidung“, sagt
Sommer. „Denn wir möchten ja Medikamente entwickeln, die sicher und wirksam
sind.“ Die Wissenschaftlerin weiß: Über 90
Prozent aller neuen Ansätze scheitern irgendwann, etwa, weil der Wirkstoff nicht
optimal wirkt oder inakzeptable Nebenwirkungen verursacht. „Doch wenn mit
den restlichen Medikamenten Leben gerettet werden können, dann lohnt sich
die Mühe.“
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