Hilfe in einem gescheiterten Staat

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THEMEN DER ZEIT
LIBYEN
Hilfe in einem gescheiterten Staat
Der Bürgerkrieg in Libyen hat das Gesundheitssystem hart getroffen.
Fast alle ausländischen Pflegekräfte haben das Land verlassen. Seit August ist
die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vor Ort. Ein Bericht aus Bengasi
Bengasi: In der
Hafenstadt im
Nordosten Libyens
kommt es auch
jetzt immer noch zu
Kämpfen. Sie konzentrieren sich auf
Gebiete im Norden
und Südwesten der
Stadt.
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ir wissen wenig von Libyen,
und die wenigen Nachrichten von dort stimmen selten optimistisch. Dabei war das Land noch
bis vor kurzem durch seinen Ölreichtum recht wohlhabend. Zwar
sprudeln die Ölvorkommen weiter,
aber geringer und der Preisverfall
zeigt dramatische Konsequenzen.
Mit dem Fall des ehemaligen
Machthabers Muammar al-Gaddafi
im Jahr 2011 stürzte das Land in einen intensiv-gewalttätigen Konflikt, bei dem es innerhalb von zehn
Monaten rund 50 000 Tote zu beklagen gab. Seit 2014 lässt sich der
Konflikt mit 5 000 Toten in zwei
Jahren als niedrig-gewalttätig beschreiben. Die spannende Frage
lautet: Bleibt das Land im Ganzen
W
erhalten oder spaltet es sich in einen
östlichen und westlichen Teil auf?
Seit Juli wird es sicherer
Die Kampfhandlungen in Bengasi
zählen zu den intensiveren Auseinandersetzungen und verlaufen
zwischen zwei verfeindeten Gruppen – sie konzentrieren sich derzeit
auf die Gebiete im Norden und
Südwesten der Stadt. Seit Juli wird
es etwas sicherer. Akustisch klingt
das anders. Den fast permanenten
Schießereien, Bombendetonationen
und dem ohrenbetäubenden Lärm
der Düsenjäger folgen verlässlich
die Sirenen der Krankenwagen, die
Kriegsverletzte transportieren.
Der Fokus unserer Arbeit liegt auf
der Unterstützung des größten Kran-
kenhauses der Stadt, des Bengasi
Medical Center (BMC). Ein imposanter Komplex von drei siebenstöckigen Hochhäusern mit einer Kapazität für 1 200 Betten. Als Krankenhaus der Maximalversorgung beherbergt es alle Fachabteilungen der
modernen Medizin. Täglich werden
hier bis zu 50 Kinder entbunden, die
Neonatologie kann Frühgeborene
ab der 26. Schwangerschaftswoche
durchbringen. Die Kardiologie hatte
im vergangenen Jahr mit 2 000 Herzkatheterinterventionen die höchste
Aktivität im ganzen Land und ist die
einzige invasive Kardiologie im Osten Libyens. Täglich kommen etwa
sechs Patienten mit akutem Herzinfarkt. Die Liste der medizinischen
Leistungen ließe sich fortsetzen.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 48 | 2. Dezember 2016
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den medizinischen Ausrüstung und
am Personalmangel, aber auch an
den unzureichend ausgebildeten
medizinischen Mitarbeitern, sowohl Ärzten als auch Pflegenden.
Seit Jahren haben sie keine Fortbildungen erhalten und die gut ausgebildeten ausländischen Pflegekräfte
wurden bisher nicht durch libysche
Kollegen ersetzt.
Zudem hat die Klinik ein Sicherheitsproblem. Soldaten weigern
sich, ihre Waffen abzulegen, immer
wieder kommt es zu Schießereien
und viele Sitzungen mit dem Sicherheitschef waren nötig, um für
dieses Thema ein Verständnis zu
Das Problem: Die Krankenversorgung in der Stadt hat sich dramatisch verschlechtert, von den zwölf
öffentlichen Krankenhäusern vor
dem Konflikt existieren nur noch
drei. Im BMC fehlen medizinische
Materialien, Geräte wie Dialysemaschinen, Inkubatoren und Medikamente. Das Herzkatheterlabor hat
keine Katheter und Stents mehr und
ohne entsprechendes Material kann
derzeit kein Patient mit akutem Koronarsyndrom angemessen behandelt werden, auch die Alternative
(Thrombolyse) fehlt. Mit viel
Glück können Angehörige von Patienten in einer Apotheke Streptokinase zum Preis von 300 US-Dollar
besorgen. Das führt aber zu relevanten und oft tödlichen Therapieverzögerungen.
men Personalbedarf zu kompensieren. Was wir versuchen, ist die medizinische Qualität durch Lehre und
Training zu verbessern. So haben
wir in den vergangenen Wochen
mehr als 100 Pflegende und Ärzte
weitergebildet, zweimal wöchentlich hielt ich Vorlesungen und praktische Übungen in der Notfallversorgung.
Unsere Hilfe wird geschätzt. Zudem haben wir in Zusammenarbeit
mit einer lokalen Nicht-Regierungsorganisation in einer ambulanten
Klinik seit Februar 1 300 Kinder und
600 schwangere Frauen behandelt.
Als einzige internationale Organisa-
Täglich sterben Kinder
Qualitätsverbesserung durch Lehre:
Tankred Stöbe bei
praktischen Übungen
in der Notfallversorgung mit Ärzten und
Pflegekräften des
Bengasi Medical
Center
Foto: Tankred Stöbe
Das größte Problem am BMC sind
jedoch nicht die fehlenden Maschinen, Monitore, Material oder Medikamente. Das größte Problem ist
der Verlust von gut ausgebildeten
Pflegekräften. Von den rund 1 000
ausländischen Pflegenden aus den
Philippinen, Indien, Bangladesch
und der Ukraine, die bis 2014 die
pflegerische Arbeit verrichteten,
verließen 90 Prozent wegen ausbleibender Bezahlung und Unsicherheit das Land. Ganze Abteilungen mussten deshalb geschlossen
werden, inklusive einiger Intensivstationen. In der Internistischen Abteilung kann von 230 Betten nicht
einmal die Hälfte belegt werden,
weil von den ehemals 70 Pflegenden nur noch zehn geblieben sind.
Nach meiner Zählung gibt es im
BMC aktuell nur 330 Krankenbetten, die doppelte Anzahl wird aber
benötigt.
Am späten Nachmittag nehmen
die Kampfhandlungen zu, dann
kommen bis zu 20 Schwerverletzte
in die Notaufnahme, von denen die
Hälfte bei Ankunft bereits verstorben ist oder später ihren Verletzungen erliegt.
Am dramatischsten sind die Auswirkungen der bewaffneten Auseinandersetzungen aber in der Kinderheilkunde. Starb dort früher ein
Kind pro Monat, gibt es nun täglich
Todesfälle. Das liegt an der fehlen-
entwickeln und die Waffen zumindest in der Rettungsstelle zu reduzieren. Noch nie habe ich in einem
Kontext gearbeitet, in dem ein so
hoch entwickeltes Gesundheitssystem so tief abgestürzt ist.
Auch hier ist Hilfe möglich
Wir sind das erste Team von Ärzte
ohne Grenzen, das wieder dauerhaft
in Bengasi arbeitet. Bisher gab es
keinen schweren Sicherheitszwischenfall. Seit Mitte August können
wir uns in der Stadt relativ frei bewegen, unter Aussparung der Konfliktregionen. Unser Haus liegt nahe des BMC in einem ruhigeren
Stadtteil.
Was aber sollen wir mit einem
kleinen Team in dieser großen Klinik ausrichten? Wir unterstützen
das Krankenhaus mit medizinischem Material und Medikamenten
sowie zehn Pflegekräften in der chirurgischen Rettungsstelle. Aber es
ist nicht unser Anspruch, den enor-
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 48 | 2. Dezember 2016
tion in der Millionenstadt zeigen wir,
dass hier Hilfe möglich ist.
Neben den täglichen Visiten im
BMC versuchten wir zu klären,
welche weiteren humanitären Herausforderungen sich in Bengasi
stellen: Wie geht es den im eigenen
Land vertriebenen Menschen? Wie
den psychisch Kranken? Und was
ist mit den unzähligen Flüchtenden,
die vom Westen des Landes aus die
tödliche Seefahrt auf den Schlauchbooten riskieren?
Auch wenn das Jahr 2016 noch
nicht abgeschlossen ist, so sind mit
3 793 Menschen (Stand: 15. November) im dritten Jahr in Folge
wieder mehr Menschen auf der zentralen Route vor Libyen ertrunken.
Das macht sie zum weltweit tödlichsten Fluchtweg und das Mittelmeer zu einem wachsenden Massengrab. Und es zeigt das politische
Versagen Europas, diese furchtbare
▄
Entwicklung zu stoppen.
Dr. med. Tankred Stöbe, Ärzte ohne Grenzen
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