VI. Der Soldat in der Transformation 2. Kompetenzen militärischer Führer Uwe Hartmann Hybride Kriegführung und die Relevanz der Inneren Führung Die Innere Führung ist ein unverzichtbares Element der Sicherheitspolitik Deutschlands. Auch das neue Weißbuch 2016 unterstreicht deren Bedeutung für eine zukunftsfähige Bundeswehr. Sie sei das Fundament für die Tugenden und Kompetenzen, die Soldatinnen und Soldaten erwerben müssten. Dazu gehörten Handlungssicherheit und Urteilsvermögen, Mut und Zuversicht, Bindung an die Werte des demokratischen Gemeinwesens, Bereitschaft zur Diskussion und Umgang mit Vielfalt. (Reader Sicherheitspolitik, Ausgabe Dezember 2016) Das Weißbuch 2016 beschreibt zudem die Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft. So habe die Bundeswehr ihren festen Platz in deren Mitte. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger vertrauten ihr und brächten ihr hohe Wertschätzung entgegen. Daraus könnten insbesondere die Soldatinnen und Soldaten den Rückhalt für ihren Auftrag ziehen. Auf diese Erfolgsgeschichte der Inneren Führung aufbauend komme es nun darauf an, sie für aktuelle und zukünftige Herausforderungen weiterzuentwickeln. Dabei nennt das Weißbuch an erster Stelle die Analyse neuer Konfliktformen, die den Charakter von Einsätzen der Bundeswehr änderten und die Soldatinnen und Soldaten vor veränderte Anforderungen stellten1 . Neues Verständnis für die Führungsphilosophie wecken Diese Aufgabenstellung signalisiert den Aufbruch zu einem neuen Verständnis der Führungsphilosophie der Bundeswehr. Ihre Fokussierung auf die Analyse der wandelbaren Erscheinungsformen von Krisen, Konflikten und Kriegen führt sie zu ihren Ursprüngen zurück. Vor über 60 Jahren stellten die Militärreformer um Wolf Graf von Baudissin das neue Kriegsbild in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zum Aufbau neuer deutscher Streitkräfte. Es war gewissermaßen das Gravitationszentrum, um das ihre Überlegungen kreisten und aus dem heraus sie wesentliche Folgerungen für Politik, Gesellschaft und Militär zogen. Konkret ging es um die Ausgestaltung der zivilmilitärischen Beziehungen, die Verankerung der Streitkräfte in der Gesellschaft sowie das Innere Gefüge mit den vielfältigen Fragen von Organisation, Führung, Ausbildung und Erziehung. Das Weißbuch 2016 markiert also den Aufbruch der Inneren Führung zu ihren Ursprüngen, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. 1 Die Bundesregierung: Weissbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2016, S. 111-114. 1 Was sind hybride Kriege? Eine neue, im Weißbuch 2016 auffallend häufig genannte Konfliktform sind die hybriden Kriege. Dieser Begriff bezeichne „den Einsatz militärischer Mittel unterhalb der Schwelle eines konventionellen Krieges. Hybrides Vorgehen zielt dabei auf die subversive Unterminierung eines anderen Staates ab. Der Ansatz verbinde verschiedenste zivile und militärische Mittel und Instrumente in einer Weise, dass die eigentlichen aggressiven und offensiven Zielsetzungen erst in der Gesamtschau der Elemente erkennbar werden“2. Mögliche Mittel hybrider Kriegführung seien Cyberangriffe und Informationsoperationen wie beispielsweise Propaganda, wirtschaftlicher und finanzieller Druck sowie Versuche zur politischen Destabilisierung, verdeckt operierende Spezialkräfte, Subversion oder reguläre Streitkräfte. Die neuen Erscheinungsformen der hybriden Kriege weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem Kriegsbild auf, das die Innere Führung in der Anfangsphase des Kalten Krieges in öffentlichen Diskursen begründete und als Messlatte ihrer konzeptionellen Arbeiten für den Aufbau neuer deutscher Streitkräfte anlegte. Ganz im Sinne ihres ursprünglichen Verständnisses kommt es auch heute darauf an, das gesamte Beziehungsgeflecht von Politik, Gesellschaft und Streitkräften in den Blick zu nehmen, kritisch deren Verwundbarkeiten zu analysieren und Maßnahmen zu treffen, die den Schutz sowie die Abschreckung gegenüber alten und neuen Bedrohungen verbessern. Dies unterstreicht die Relevanz der Inneren Führung nicht nur für die Zukunft der Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Sicherheitspolitik insgesamt. Graf Wolf von Baudissin, Jahrgang 1907, († 5. Juni 1993) war General der Bundeswehr, Militärtheoretiker und Friedensforscher. Er war maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr und an der Entwicklung der Inneren Führung beteiligt. Foto: Bundeswehr/Munker Das Kriegsbild der Inneren Führung in der Entstehungsphase der Bundeswehr Wolf Graf von Baudissin beschrieb das ursprüngliche Kriegsbild der Inneren Führung mit eindringlichen Worten: „Die Bedrohung der Menschheit durch ein Lebensprinzip, das alle personalen Werte leugnet und vom einzelnen bedingungslose Unterwerfung fordert, ist zu einer Auseinandersetzung ohne Grenzen in Raum und Zeit geworden, die den einzelnen zur Entscheidung fordert und in der geistige Neutralität bereits zur 2 Weissbuch 2016: a.a.O., S. 38. 2 Unterstützung der Gegenseite wird. Der Feind richtet seinen Angriff auf den einzelnen. Mit meisterhafter Beherrschung der Propaganda, im Spiel aller Register von der frechen Drohung bis zu einschläfernder Beruhigung, von der sozialen Zersetzung bis zum Appell an das Nationalgefühl, durch Verkehrung aller Begriffe versucht er den einzelnen in die Unterwerfung zu zwingen, lange bevor er daran denkt, Gewalt anzuwenden. Erst wenn ihm die gegnerische Front genügend geschwächt und unterminiert erscheint, wird er bereit sein, bei gegebenen Umständen auch zu den Waffen zu greifen“. Er betonte damit den zeitlich und regional entgrenzten politisch-ideologischen Charakter moderner Konflikte, die gleichwohl ihre Ziele in Herz und Verstand der Soldaten fänden. Kampf und Gefecht seien „nur noch ein Teil einer auf allen Gebieten angreifenden geistigen Kampfführung, die keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Krieg und Frieden kennt“. Die politische Absicht sei die Schwächung der Demokratien des Westens, ihrer Staaten, Gesellschaften und Streitkräfte. Diese Strategie sei indirekt, da es darum ginge, „den Gegner auch ohne direkten Waffengebrauch zum Nachgeben und schließlich in die Unterwerfung zu zwingen“3. Um das im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg Neue zu unterstreichen, nutzte Baudissin den Begriff des permanenten Welt-Bürgerkriegs. Der Kalte Krieg war schon hybrid Diese Charakterisierung des Kalten Krieges verdeutlicht, dass er seinem ganzen Wesen nach hybrid war. Während an den Frontlinien der geteilten Welt und insbesondere an der innerdeutschen Grenze moderne Streitkräfte ein bisher nicht dagewesenes Bedrohungspotential aufbauten, fand der entscheidende Wettlauf auf dem Gebiet der „geistigen Rüstung“ der Menschen statt. Gräben und Brüche zwischen und innerhalb von Politik, Gesellschaft und Militär stellten genauso wie die Gleichgültigkeit der Staatsbürger einen Wettbewerbsnachteil dar. An diese Schwachstellen setzten die gegnerischen Angriffe an. Entscheidend für deren erfolgreiche Abwehr waren auf dem gemeinsamen Wertefundament des Grundgesetzes basierende Geschlossenheit und Handlungsstärke. Folgerichtig durfte die Bundeswehr kein Staat im Staate sein. Das Primat der Politik musste sichergestellt werden, ohne auf die Beratung durch militärische Führer und die Beteiligung von Soldaten an öffentlichen Debatten zu verzichten. Die Gesellschaft musste von der Verteidigungswürdigkeit ihres Staates überzeugt sein und die Soldaten in ihre Mitte integrieren. Und der Soldat sollte die Freiheiten und Grundrechte so weit wie möglich auch im militärischen Dienst erleben. Nur durch eine auf demokratischen Prinzipien beruhende „geistige Rüstung“ konnten die Staatsbürger mit und ohne Uniform dafür gewappnet werden, den ideologischen Versuchungen und propagandistischen Angriffen des Warschauer Paktes zu widerstehen. 3 Wolf Graf von Baudissin: Grundwert Frieden in Politik – Strategie – Führung von Streitkräften, herausgegeben von Claus von Rosen, Berlin 2014, S. 155ff., 170, 269. 3 Entstehen der Inneren Führung Am Anfang der Inneren Führung standen also weder die Demokratieverträglichkeit der neuen deutschen Streitkräfte, um die in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts intensiv gerungen wurde, noch ihre Sozialverträglichkeit durch attraktive Arbeitsplätze, die heute im Mittelpunkt steht. Ihr strategischer Kern war die kontinuierliche Analyse des wandelbaren Kriegsbildes mit den daraus zu ziehenden Folgerungen für das Beziehungsgeflecht von Politik, Gesellschaft und Militär, das Carl von Clausewitz als „wunderliche Dreifaltigkeit des Krieges“ bezeichnet hatte. Ihr übergeordneter politischer Zweck lautete: In dem ideologischen Konflikt zwischen Ost und West die eigene Lebensform und deren Werte zu behaupten, einen Krieg durch Verteidigungsbereitschaft zu verhindern und dadurch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Handlungsoptionen und Freiräume für die weitere Demokratisierung und Prosperität zu schaffen – nicht zuletzt auch deshalb, um die Überlegenheit der eigenen Lebensform in der Weltöffentlichkeit nachzuweisen. Das „scharfe Schwert“ des Westens waren auch die Werte, nicht nur die Waffen. Carl von Clausewitz (1780–1831) nach einem Gemälde von Karl Wilhelm Wach. Originalausgabe des Buches Vom Kriege aus dem Jahr 1832. Foto: wikipedia.org Dieses erweiterte Verständnis von Krieg und Kampf leitete auch die Überlegungen der Militärreformer zur Schlagkraft der Truppe. Dass Schlagkraft der zentrale Orientierungspunkt für alle Reformkonzepte sein musste, formulierte das erstmalig 1957 herausgegebene Handbuch Innere Führung in Form einer „einzig legitime[n] Frage: „Wie kann die deutsche Bundeswehr in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Instrument von höchster Schlagkraft gestaltet werden?“4 „Schlagkraft“ bezog sich jedoch nicht nur auf das konventionelle Gefecht unter atomaren Bedingungen. Der Begriff umfasste auch den ideologischen Kampf. Bedrohung von Freiheit und Frieden Die Leitfrage unterstreicht das damals stark ausgeprägte Bewusstsein für den umfassenden Charakter der Bedrohungen von Freiheit und Frieden. Die vor allem 4 Bundesministerium der Verteidigung: Handbuch Innere Führung, Bonn 1957, S. 17. 4 innenpolitisch begründete Wende im Verständnis der Inneren Führung in den 70er Jahren war Ausdruck dafür, dass die Gefahren eines möglichen heißen Krieges als auch die Bedrohungen des stattfindenden Kalten Krieges deutlich an Relevanz verloren hatten. Diese Sorglosigkeit ist vorbei. Die gegenwärtige Gleichzeitigkeit unterschiedlichster und untereinander vernetzter Krisen, Konflikte und Kriege stellt die Politik vor größte Herausforderungen. Bereits die Analyse dessen, was nah und fern passiert, bereitet Schwierigkeiten. Bei Politikern stellt sich der Eindruck ein, die Welt gerate aus den Fugen. Die Bürgerinnen und Bürger reagieren darauf mit einem gesteigerten Sicherheitsbewusstsein. Die Befähigung der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung wird stärker betont, und die Anforderungen an die Soldatinnen und Soldaten wachsen erneut. Hybride Kriegführung In dieser Situation der allgemeinen sicherheitspolitischen Verunsicherung stößt der Begriff der hybriden Kriegführung auf große Resonanz. Er tauchte vor kaum mehr als zehn Jahren im strategischen Diskurs in den USA auf und schaffte im Zuge des russischen Vorgehens in der Ukraine schnell den Sprung in die deutsche sicherheitspolitische Diskussion. Weißbuch Das Weißbuch 2016 bietet die Möglichkeit, Regierungshandeln auf dem Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik national wie international transparent zu machen. Foto: Bundeswehr/Trutschel In einer Rede im Deutschen Bundestag im Oktober 2014 ordnete die Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen, diesem Begriff folgende Aktivitäten zu: „verdeckte Operationen und offener Einsatz von Mitteln, Einsickern von Geheimdienstpersonal, Militärpersonal ohne Hoheitsabzeichen, Desinformationen, sehr gezielte Propaganda, Schüren von sozialen Disparitäten oder Spannungen in einer bestimmten Region, massiver Aufwuchs von Truppen in Grenzregionen, auch als psychologisches Druckmittel – und das Ganze zum Teil kombiniert mit wirtschaftlichem Druck“5. „Fundamental neu“, so sagte sie wenige Monate später auf der Münchner Sicherheitskonferenz, sei „die Kombination und die Orchestrierung dieses unerklärten 5 Rede der Bundesministerin der Verteidigung anlässlich der ersten Lesung des Haushalts 2015. 5 Krieges, bei dem erst die Gesamtbetrachtung der einzelnen Mosaikstücke den aggressiven Charakter des Plans entlarvt“6. Auch im akademischen Diskurs findet der Begriff zunehmend Verwendung7. Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler weist darauf hin, dass die hybride Kriegführung gezielt die bestehenden politisch-rechtlichen und ethischen (Welt-) Ordnungs- und Denksysteme unterlaufe. Die begrifflichen Alternativen Krieg oder Frieden, Staatenkrieg oder Bürgerkrieg, symmetrische oder asymmetrische Kriegführung sowie Kombattanten oder Nicht-Kombattanten seien kaum mehr hilfreich, um die neuen Konfliktrealitäten zu kategorisieren8. Hybrid agierende Akteure vermeiden also nicht nur die Zurechenbarkeit ihres Handelns (deniability), sondern erschweren auch die Verständigung über dessen Analyse und über das legitimierte Gegenhandeln. Wenn nicht klar ist, ob noch Frieden herrscht oder bereits Krieg stattfindet; wenn Konflikte Staatenkrieg und Bürgerkrieg zugleich sein können; wenn potenzielle Gegner noch unberechenbarer werden, weil sie sowohl symmetrisch als auch irregulär kämpfen und nicht-militärische Mittel einsetzen; wenn die Frage offen bleibt, ob ein Gegner Kombattant oder Nicht-Kombattant oder etwas noch nicht definiertes Drittes ist, dann führt dies zu Verständigungsproblemen und Uneinigkeit in allen Bereichen der wunderlichen Dreifaltigkeit: bei der Politik, in der Gesellschaft, in den Streitkräften. Münchner Sicherheitskonferenz 2015 Deutschland ist bereit, international eine sicherheitspolitische Führungsrolle zu übernehmen, bekräftigte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der 51. Münchner Sicherheitskonferenz. Foto: msc/Müller Mit der Hybridisierung von Mitteln und Wegen der Kriegführung zeichnet sich auch ein Wandel bei den übergeordneten politischen Zielen ab. Kriegführung zielt nicht vorrangig auf die Zerschlagung gegnerischer Streitkräfte, sondern auf die Destabilisierung von Bündnissen und Staaten. Dazu eignen sich vor allem Propaganda, Unruhen, Aufstände, eingefrorene und immer wieder entfachbare Konflikte und schließlich Terrorismus und Bürgerkriege. Manchmal reicht es aus, bestehende interne Herausforderungen von Bündnissen und Staaten auszunutzen. Es geht also darum, 6 Rede der Bundesministerin der Verteidigung anlässlich der 51. Münchner Sicherheitskonferenz am 6. Februar 2015, "Führung aus der Mitte". 7 Siehe dazu u.a. die Beiträge in der Zeitschrift S&F. Sicherheit und Frieden, 34. Jg. (2016), H. 2. 8 Vgl. Herfried Münkler: Kriegssplitter, Berlin 2015, S. 208ff. 6 politische Konflikte zu verschärfen und innere Frontlinien zu vertiefen, um die Gestaltungsfähigkeit von Politik und Gesellschaft zu überfordern und die Einsatzbereitschaft von Streitkräften zu untergraben. Angriffsziele Angriffsziele sind allerdings nicht nur schwache Staaten in Krisenregionen, sondern auch gefestigte Demokratien in den bisherigen Wohlstandszonen. Hauptstädte bleiben weiterhin Hauptangriffsziele. Es geht jedoch nicht darum, diese zu erobern, sondern die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen und Parlamenten einzuschränken. Ziele könnten beispielsweise darin bestehen, die Bereitschaft westlicher Staaten zur humanitären Intervention oder zur Verhängung von Sanktionen zu untergraben oder ganz einfach deren Attraktivität im weltweiten Systemwettbewerb zu mindern. Bündnisse, Regierungen, Gesellschaften und Streitkräfte stehen damit vor der gemeinsamen Aufgabe, ihre Widerstandskraft (Resilienz) und Abschreckung gegenüber hybrider Kriegführung als Voraussetzung für außen- und innenpolitische Handlungsfähigkeit zu vergrößern. In hybriden Szenarien spielen Streitkräfte weiterhin eine wichtige Rolle. Militärische Abschreckung bleibt unverzichtbar, wenn Gegner ihre Truppen grenznah aufmarschieren lassen, um Nachbarn einzuschüchtern. Dazu müssen die im Rahmen der Bündnisverteidigung eingesetzten Verbände nicht nur Solidarität zum Ausdruck bringen, sondern auch reaktionsschnell sowie durchsetzungs- und durchhaltefältig sein. Die Hybridisierung der Kriegführung mit dem zumindest zeitlichen Primat von irregulären Mitteln und Wegen darf allerdings keinesfalls beruhigen, solange ein Gegner die grundsätzliche Möglichkeit hat, überlegene konventionelle Kräfte einzusetzen. Es ist unklug, einem Gegner, wie Clausewitz einst formulierte, mit einem "Galanteriedegen" entgegenzutreten, wenn dieser „zum scharfen Schwerte greift“9. Neues Paradigma Die oben beschriebenen Bedrohungen sind keine Anomalien des bisherigen Kriegsbildes einer industrialisierten Kriegführung. Sie stellen vielmehr Indikatoren für sich deutlich abzeichnende revolutionäre Veränderungen dar. Der britische General Sir Rupert Smith diagnostizierte schon vor zehn Jahren einen Paradigmenwechsel, den er als War among the people beschreibt10. Militärische Einsätze fänden immer unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Die Menschen verfolgten das Konfliktgeschehen und engagierten sich politisch, auch gewaltsam. Hybrid agierende Akteure setzen hier an und verleiten einzelne Personen oder bestimmte gesellschaftliche Gruppen gezielt zu bestimmten Verhaltensweisen. Abhängig von ihren jeweiligen politischen Zielen versuchen sie, Menschen zu 9 Carl von Clausewitz: Vom Kriege, Bonn 1991, S. 230. Vgl. Sir Rupert Smith: The Utility of Force, New York 2007. 10 7 veranlassen, in andere Länder zu flüchten und dortige Regierungen unter Druck zu setzen oder ganz einfach nur militärische Marschbewegungen zu blockieren. Oder bestimmte politische Meinungen in Umfragen zu äußern und damit die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen zu beschränken. Oder in eingefrorenen Konflikten kämpferisch aktiv zu werden, damit diese wieder hoch kochen, Regierungen destabilisieren, die Staatenwelt beschäftigen und eine Brandschneise schlagen, die das Durchqueren unerwünschter Waren und Werte verhindert. Flüchtlinge in Ungarn Die meisten Flüchtlinge kommen nach Deutschland, weil sie sich eine Verbesserung ihrer menschenrechtlichen Lage erhoffen, so eine Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Foto: GémesSándor/SzomSzed/wikipedia commons Dabei nutzt die hybride Kriegführung aus, dass die Regierungen demokratischer Staaten den Einsatz militärischer Gewaltmittel weitaus intensiver legitimieren müssen als beispielsweise in autoritären Systemen. Dieses Scharnier zwischen Staat und Bürgern wird verstärkt attackiert. Durch medial vermittelte Behauptungen werden vermeintliche Fakten geschaffen, welche die eigene Seite in ein schlechtes Licht rücken. Ob diese stimmen oder nicht, ist dabei völlig irrelevant, wie das Beispiel der angeblichen Vergewaltigung eines russlanddeutschen 13-jährigen Mädchens exemplarisch zeigte. Durch die Verbreitung von widersprüchlichen Informationen, die wie eine Nebelwand wirken, wird die Wahrheit verdeckt, die Interpretation der Geschehnisse erschwert und so abgestimmtes, von den Bürgern getragenes Regierungshandeln behindert. Ideen und Informationen werden also weitaus intensiver als geistige Waffen eingesetzt. Zur Zukunft der Inneren Führung Die Innere Führung selbst steht gegenwärtig auf keinem festen Fundament. Neuere empirische Untersuchungen belegen, dass der Kenntnisstand vor allem bei den Mannschaften und Unteroffizieren niedrig ist. Junge Offiziere werfen ihr vor, sie böte zu wenig Orientierung für Gefechte und beruhe auf Voraussetzungen, die weder Politik noch Gesellschaft erfüllen könnten. In den von Soldatinnen und Soldaten verfassten Veröffentlichungen über ihre Einsätze taucht der Begriff der Inneren Führung nur selten auf, auch wenn viele der dargestellten Erfahrungen etwas mit ihren Grundsätzen und Handlungsfeldern zu tun haben. Wie das Zivilpersonal darüber denkt, ist weitgehend unklar. 8 Die geringe Wertschätzung der Inneren Führung ist ein Indiz dafür, dass diese sich weit von ihrem ursprünglichen Gravitationszentrum entfernt hat. Die neue Bedrohung durch hybride Kriege rückt die Bedeutung einer kontinuierlichen Analyse des Kriegsbildes als Grundlage für die Schlagkraft der Streitkräfte und die Ausgestaltung der wunderlichen Dreifaltigkeit erneut in den Mittelpunkt. Für die Innere Führung ist dies eine Chance, ihre Relevanz gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, aber auch für Politik und Gesellschaft überzeugend unter Beweis zu stellen. Dazu kommt es darauf an, sie wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Bei der Analyse des Kriegsbildes kann die Innere Führung einen über das Militärische Nachrichtenwesen hinausgehenden Mehrwert leisten, indem sie die Ideologien sowie politischen Absichten und Abhängigkeiten hybrid agierender Akteure versteht und verständlich macht. Dabei kann sie ihr Netzwerk mit Wissenschaft und Wirtschaft gewinnbringend nutzen. Ihre Expertise im Einsatzrecht ist hilfreich für Initiativen zur Anpassung des Völkerrechts oder von Rules of Engagement an neue Realitäten. Widerstandskraft der Streitkräfte Die Innere Führung sollte sich auf Mittel und Wege konzentrieren, die die Widerstandskraft der Streitkräfte insgesamt wie auch jedes einzelnen Soldaten gegen hybride Kriegsführungen stärken. Dazu zählt die individuelle Selbstvergewisserung über Werte genauso wie der öffentliche Diskurs über Bedrohungen. Für die Förderung der Urteilskraft in hochkomplexen Konflikten ist die politische Bildung über Bedrohungen von Frieden und Freiheit genauso wichtig wie die Verbesserung der Praxis des Führens mit Auftrag. Die auch im Weißbuch 2016 geforderte Wahrheits-, Streit- und Fehlerkultur11 ist unverzichtbar, damit Soldatinnen und Soldaten in einem durch Friktion geprägten Umfeld selbständig Verantwortung übernehmen. Scharfschützen Scharfschützen vom Objektschutzregiment der Luftwaffe üben den infanteristischen Kampf im bewaldeten und urbanen Gelände auf dem Truppenübungsplatz Lehnin. Foto: Bundeswehr/Johannes Heyn 11 Vgl. Weißbuch 2016: a.a.O., S. 128 9 Hybrid agierende Akteure bereiten Mittel und Wege im Verborgenen vor, aktivieren diese zu einem bestimmten Zeitpunkt und kombinieren sie kreativ und flexibel mit weiteren, auch nicht legalen Maßnahmen. Eigene Reaktionen und Gegenmaßnahmen kommen dann in der Regel zu spät. Die Initiative geht verloren. Diesen strategischen Nachteil können Staaten, die Angriffsziele für hybrid agierende Akteure sind, durch Verbesserung der Widerstandskraft (Resilienz) ihrer Institutionen, Infrastruktur und Zivilgesellschaft nur teilweise kompensieren. Erforderlich bleibt eine glaubhafte, für einen Gegner nicht kalkulierbare Abschreckung, die auch reaktionsschnelle und flexibel einsetzbare Streitkräfte einschließt. Präventive Maßnahmen von der strategischen Vorausschau auf mögliche Krisen, Konflikte und Kriege über deren frühzeitige Aufklärung bis zu vorbereiteten Gegenmaßnahmen gegen hybrid agierende Akteure sind unverzichtbar. Auch die Innere Führung trägt in vielfacher Weise dazu bei. Sie ist das Fundament für eine militärische Führungskultur und ein soldatisches Selbstverständnis, das die multinationale Kooperation sowie die Zusammenarbeit mit zivilen Partnern im Rahmen der Vernetzten Sicherheit erleichtert12. Durch Wertebindung erhöht sie die Widerstandskraft der Streitkräfte sowie jedes einzelnen Angehörigen der Bundeswehr vor allem gegenüber Propaganda und gezielter Desinformation. Präventiv wirkt sie auch gegen die „Faschismuskeule“, die hybrid agierende Akteure schwingen, um den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland zu diskreditieren. Die politisch-historische Bildung der Soldatinnen und Soldaten, welche die Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg nicht ausklammerte, hat wesentlich zu dieser „geistigen Rüstung“ beigetragen. Deutlich arbeitet sie die Chancen und Risiken von Vielfalt in den Streitkräften heraus und hilft den Angehörigen der Bundeswehr, damit richtig umzugehen13 . Alle Institutionen und Personen, die sich in Politik, Gesellschaft und Streitkräften mit Fragen der Inneren Führung beschäftigen, können jedoch deutlich mehr leisten, um Widerstandskraft zu erhöhen. Grundlage dafür ist eine ehrliche und transparente Analyse des Beziehungsgeflechts der „wunderlichen Dreifaltigkeit“, um die Voraussetzungen für eine vertrauensvolle strategische Kultur in Deutschland zu schaffen. Strategischer Kern der Inneren Führung Die Innere Führung hat viel für die Bundeswehr als Armee im Einsatz geleistet. Künftig kommt es darauf an, ihren ursprünglichen strategischen Kern in den Mittelpunkt zu rücken. Die kontinuierliche Analyse von Kriegs- und Konfliktbildern in Verbindung mit einer möglichst gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber sowie eine darauf abgestimmte Führung und Ausbildung bereiten die Soldatinnen und Soldaten sowie alle anderen Sicherheitskräfte auf den Umgang mit wandelbaren und komplexen Einsatzszenarien vor. Sie stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt und tragen so zur Handlungsfähigkeit der Politik bei. Auf dieser Grundlage kann die Innere Führung wesentliche Beiträge zur Steigerung der Widerstandskraft („geistige Rüstung“) der Soldatinnen und Soldaten und darüber hinaus auch für Politik und Gesellschaft leisten. Die 12 Siehe dazu Uwe Hartmann: Die Innere Führung in der Krise? Thesen zur Weiterentwicklung der Führungsphilosophie für die Bundeswehr. In: Jahrbuch Innere Führung 2011, Berlin 2011, S. 306. 13 Phil C. Langer/ Gerhard Kümmel (Hrsg.): "Wir sind Bundeswehr." Wie viel Vielfalt benötigen/vertragen die Streitkräfte?, Berlin 2015. 10 Innere Führung stünde dann auf einem belastbaren Fundament mit zweifelsfreier Relevanz für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands sowie die Einsatzbereitschaft der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Autor Dr. Uwe Hartmann, Oberst i.G., Jahrgang 1962, ist Referatsleiter im Kommando Heer in Strausberg. Er ist Mitherausgeber des seit 2009 erscheinenden Jahrbuchs Innere Führung. Literatur Bundesministerium der Verteidigung, Handbuch Innere Führung, Bonn 1957 (5. Auflage, 1972). Wolf Graf von Baudissin, Grundwert Frieden in Politik – Strategie – Führung von Streitkräften, herausgegeben von Claus von Rosen, Berlin 2014. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 1991. Angelika Dörfler-Dierken/Robert Kramer, Innere Führung in Zahlen. Streitkräftebefragung 2013, Berlin 2014. Uwe Hartmann, Innere Führung. Erfolge und Defizite der Führungsphilosophie für die Bundeswehr, Berlin 2007. Uwe Hartmann, Hybrider Krieg als neue Bedrohung von Freiheit und Frieden. Zur Relevanz der Inneren Führung in Politik, Gesellschaft und Streitkräften, Berlin 2015. Uwe Hartmann und Claus von Rosen (Hrsg.), Jahrbuch Innere Führung 2016. Innere Führung als kritische Instanz, Berlin 2016. Phil C. Langer/Gerhard Kümmel (Hrsg.), „Wir sind Bundeswehr“. Wie viel Vielfalt benötigen/ vertragen die Streitkräfte?, Berlin 2015. Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015. Links www.innerefuehrung.bundeswehr.de Zentrum Innere Führung Koblenz http://akuf.de ArbeitsgemeinschaftKriegsursachenforschung(AKUF) www.stratcomcoe.org/ NATO Strategic Communications Centre of Excellence, Riga, Lettland 11
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