Kulmbach Stadt Erst blitzte ein Mann bei einer 18-Jährigen ab, dann schlug er sie KULMBACH STADT, SEITE 12 So finden Flüchtlinge ihren Weg „Es geht um den sozialen Frieden“ Der Landkreis will die Hilfen für neu Zugewanderte optimieren. Ehrenamtliche Coaches sollen Asylbewerber unterstützen. Anton Steinl aus Burghaig und das Ehepaar Schoberth aus Kulmbach sind die Ersten. BETREUUNG VON UNSEREM REDAKTIONSMITGLIED PETER MÜLLER Kulmbach — Bei der Pressekonferenz im Landratsamt wird er als „Helfer der ersten Stunde“ und „alter Hase“ in Sachen Flüchtlingsbetreuung begrüßt: Anton Steinl aus Burghaig. Und in der Tat: Der 63-jährige gelernte Banker und spätere Versicherungsfachmann, der seit vier Jahren im vorgezogenen Ruhestand ist, kann bereits auf einen reichen Erfahrungsschatz in der Arbeit mit Asylbewerbern aufbauen. Neben Hosein Dyab (großes Foto) hat er unter anderen Nasrathullah P. aus Afghanistan (26, Ausbildung als Maurer), Idris H. aus Syrien (39, Fensterbauer), Aref A. aus Syrien (39, Anstellung im Trockenbau), Mahmoud D. aus Syrien (42, Fliesenleger), dessen Landsmänner Wijdan F. (17, Weiterbildung in der Altenpflegeschule) und seinen Bruder Mohammad (16, Berufspraktikum mit Deutschkurs beim BFZ) sowie Abdulghafoor G. aus Afghanistan (38, Minijob als Küchenhilfe) unterstützt. Sie alle begleitete der Burghaiger bei der Vermittlung und Suche nach einem Job, bei der Vertragsgestaltung, im Umgang mit dem Finanzamt und dem Jobcenter. Außerdem unterstützte er die Männer, die in der Mehrzahl verheiratet sind und Kinder ha- ben, auch bei der Wohnungssuche und beim Umzug. Doch jetzt hat Steinls ehrenamtliche Tätigkeit offiziellen Charakter: Er nimmt am Programm „Coaching für neu Zugewanderte im Landkreis Kulmbach“ teil. Seine Motivation für dieses Engagement bringt er ohne Umschweife auf den Punkt: „Es gibt viele, die nach dem Renteneintritt einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen wollen, weil sie sonst Mattscheibe kriegen. Bei mir war das nicht anders, mir war stinklangweilig.“ Anton Steinl aus Burghaig lässt sich von Hosein Dyab den Bart zurechtstutzen. Der 32-jährige Syrer ist verheiratet, hat drei Kinder und ist schon zweieinhalb Jahre in Deutschland. Seit August arbeitet er im Melkendorfer Barbershop von Frank Walther (Mitte), der diese Personalentscheidung nicht bereut hat. Hosein Dyab ist einer der ersten Schützlinge, die Steinl ehrenamtlich begleitet hat. Fotos: Peter Müller Überraschungen am Arbeitsplatz Davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Seine Arbeit nimmt er sehr ernst, denn: „Wer aus dem arabischen Raum kommt und in seiner Heimat keine Fremdsprache gelernt hat, beginnt in Deutschland als Analphabet. Es herrscht teilweise auch völlige Überraschung, dass man einerseits zur Arbeit pünktlich kommen muss, andererseits aber einen Anspruch auf bezahlten Urlaub hat.“ Neben Anton Steinl werden sich künftig auch Edgar Schoberth und seine Frau Margit als Coaches engagieren. Der 77Jährige („Ich bin im aktiven Ruhestand“) war als Geschäftsführer mittelständischer Unternehmen auch international tätig und längere Zeit nicht in seiner Ge- Kulmbach — „Wir müssen die Menschen, die zu uns kommen, vernünftig behandeln, was Unterbringung und Betreuung betrifft – das ist unser Anspruch“, sagt Landrat Klaus Peter Söllner. Diesbezüglich bezeichnet er die Situation der Flüchtlinge in Oberfranken, besonders in Kulmbach, als gut. Hauptgrund: „Weil wir auf die dezentrale Unterbringung gebaut haben und über Wohnraum und Helferkreise verfügen.“ In der zweiten Phase der Integration gehe es nun darum, ehrenamtliche Hilfe gezielt einzusetzen und zu versuchen, insbesondere die jungen Leute in Ausbildung zu bringen. Der Landrat hält dabei auch deutliche Worte nicht zurück: „Wir wollen fördern, müssen aber auch fordern. Dass jemand den Helfern die lange Nase zeigt, werden wir nicht dulden.“ Koordinator Peter Müller („eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“) appelliert, nicht die Schienen zu bedienen, die auf die Ängste der Menschen abzielen, die in allen Asylbewerbern Terroristen sehen. Bei der Entwicklung von Lebensmodellen für diejenigen, die bildungswillig sind, gehe es auch um den sozialen Frieden. mü uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu Coaches gesucht Anton Steinl sowie Edgar und Margit Schoberth (von links) wurden im Landratsamt als erste offizielle Coaches für neu zugewanderte Menschen vorgestellt. Weiter nach rechts Landrat Klaus Peter Söllner und Peter Müller, der im Landratsamt die Stabsstelle zum Aufbau eines Netzwerks für Flüchtlinge innehat. burtsstadt Kulmbach. Er sieht die Gefahr einer Zwei-KlassenGesellschaft und will seine reiche berufliche Lebenserfahrung bei der Integration einbringen: „Die Flüchtlinge haben ihre eigenen Antriebe, und die muss man in die richtige Richtung lenken“, sagt Schoberth, der immer noch als selbstständiger Unternehmensberater arbeitet. Seine Frau wird ihm eine große Hilfe und Ergänzung sein. Margit Schoberth (73) war sowohl in der Familie als auch in den jeweiligen Firmen immer an der Seite ihres Mannes. Sie verfügt über Erfahrungen sowohl in der Seniorenarbeit als auch im Umgang mit Ausländern: „Mit Herz und Verstand“ „Mit früheren Mitarbeitern aus dem Libanon und aus Russland habe ich oft Gespräche geführt oder bin, wenn notwendig, mit uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu Persönlich erstellt für: Landratsamt Kulmbach (60000843) 9 FREITAG, 25. NOVEMBER 2016 Personenkreis Alle, die an der ehrenamtlichen Arbeit mit Flüchtlingen interessiert sind, können sich melden. Ansprechpartner Im Landratsamt stehen als Koordinatoren Peter Müller und Yvonne Bittermann zur Verfügung (Telefon 09221/707123). Angebot Der Landkreis führt ab 9. Januar eine Seminarreihe für alle am Ehrenamt interessierte Bürger durch. Es soll ein Netzwerk initiiert und die Betreuung von neu Zugewanderten optimiert werden. mü ihnen auch mal zur Bank. Ich möchte den Asylbewerbern mit Herz und Verstand bei der Integration helfen und Perspektiven bieten.“ Neben den drei offiziellen Coaches haben aktuell etwa zehn Personen ihre Bereitschaft signalisiert, mitzuarbeiten. Anton Steinls Wunschziel: „Man sollte ein Betreuungsverhältnis von 1:1 oder 1:2 anstreben, sonst wird’s für den Einzelnen zu stressig.“ Bildungsstand und Berufe der Asylbewerber: „Die Bandbreite ist groß“ in den Arbeits- oder Fachkräftemarkt überführt werden könnKulmbach — Knapp 500 Flücht- ten, sei fehl am Platz. „Die linge beziehungsweise Asylbe- Kammern setzen hierfür realiswerber sind im Landkreises un- tisch bis zu sechs Jahre an.“ tergebracht. Diese Zahl ist in der 184 anerkannte Asylbewerber Öffentlichkeit einigermaßen bekannt, allerdings wissen die we- Im Landkreis Kulmbach leben nigsten Bürger, aus welchen (Stand 15. Oktober) 476 PersoLändern diese Menschen kom- nen im Anerkennungsverfahren, men und welchen (Aus-)Bil- davon sind 199 dezentral unterdungsstand sie haben. Sind es in gebracht, 48 sind als unbegleiteder Mehrzahl Analphabeten te Jugendliche registriert. Die oder vielleicht überwiegend bisher anerkannten Asylbewer Handwerker? Sind unter ihnen ber gliedern sich wie folgt auf: eventuell sogar viele Ärzte, Leh- 184 Personen mit Fahrerlaubnis rer oder Ingenieure? Welche (FE) und 58 mit subsidiärem sprachlichen Kompetenzen ha- Schutz aus Syrien; 17 mit FE ben sie? Und können sie die in und neun mit subsidiärem Wirtschaftskreisen geäußerte Schutz aus dem Irak; sechs aus Hoffnung erfüllen, den Fach- Afghanistan; eine Person mit subsidärem Schutz aus Eritrea. kräftemangel zu lindern? Aus Datenschutzgründen gePeter Müller, der sich am Landratsamt Kulmbach um den ben die Jobcenter keine Details Aufbau eines Netzwerks für die weiter, es existieren aber bereits Flüchtlingsarbeit kümmert und bei 80 Flüchtlingen genaue Erein Coaching für Neuzugewan- hebungen über Alter, Ausbilderte organisiert (siehe oben ste- dungsstand und erlernten oder henden Artikel), stellt generell ausgeübten Berufen. Peter Mülfest: „Die Bandbreite der Berufe ler verweist dazu auf die neueste, ist groß.“ Er relativiert diese detaillierte Befragung des InstiAussage aber sofort: Die Erwar- tuts für Arbeitsmarkt und Betungshaltung, dass es sich um rufsforschung, deren erste Welle Leute handelt, die relativ zügig mit gut 2300 Personen abge- VON UNSEREM REDAKTIONSMITGLIED PETER MÜLLER schlossen ist. Die Ergebnisse könnten in Bezug auf die Ausbildung in etwa auch auf den Landkreis übertragen werden (siehe Infografik rechts). Bei der Einordnung beziehungsweise dem Status der zugewanderten Menschen muss laut Müller grundsätzlich differenziert werden: * Flüchtling gemäß der Genfer Konvention; * Asylsuchender nach Paragraf 16a des Grundgesetzes; * subsidiärer Schutz (Herkunft aus einem Kriegsgebiet, in dem das Weiterleben nicht möglich ist); * Herkunftsland, für das ein Abschiebehindernis vorliegt. Von der Situation des Einzelnen sei dessen Zugang zum Arbeitsmarkt abhängig, erläutert Müller. Je höher der Schutzstatus, desto höher sei die Bleibeperspektive. Fluchtländer mit guter Bleibeperspektive seien Iran, Irak, Syrien, Eritrea und Somalia. Wenn eine Entscheidung getroffen worden sei, gelangten die Flüchtlinge entweder in die Zuständigkeit der Agentur für Arbeit oder in die Jobcenter, wo dann eine Kompe- tenzfeststellung erfolge. Im Boot seien dann auch der Verband der bayerischen Wirtschaft, IHK, HWK, AGABY (Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns) und IDA (Initiative Deutschunterricht für Asylbewerber/innen). Als wichtigstes Kriterium für gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt nennt Müller die Erlangung der Sprachkompetenz. „Sie können aber einen Asylbewerber nicht zwei Jahre in einer Schule mit Deutsch zutexten, sondern er muss mit Praktika an den Beruf herangeführt werden.“ Zudem müsse klar sein, dass jemand, der in Syrien als Maurer gearbeitet hat oder Lkw gefahren ist, diese Tätigkeiten ohne Zusatzqualifikationen in Deutschland nicht ohne weiteres gewerblich ausüben dürfe. Oft verklärtes Bild der Zukunft Müller macht auch keinen Hehl daraus, dass bei zugewanderten Analphabeten oft ein sehr verklärtes Bild ihrer Zukunft vorherrscht – etwa nach dem Motto: „If I can stay in Germany, I will study engineering“ (Wenn ich in Deutschland bleiben kann, werde ich Ingenieurwissenschaften studieren). Dies werde wohl nicht funktionieren. Möglicherweise seien solche Menschen aber geeignet für andere Berufe. Mit Blick auf eine Erhebung, wonach bis zum Jahr 2030 weitere 750 000 Pflegekräfte benötigt werden, gehe es auch um die Frage, welches Bild in den Köpfen der Flüchtlinge aufgebaut werden muss. Grundsätzlich gelte: „Wer die entsprechenden sprachlichen Kompetenzen erwirbt und durch Integration zur dauerhaften Sicherstellung seines Lebensunterhalts beiträgt, der hat die größeren Chancen.“ Die Flüchtlinge und ihre Ausbildung Anteile an den 18-Jährigen und Älteren in Prozent und durchschnittliche Jahre in Berufs- und Hochschulbildung * Nur Teilnahme/Abschluss im Ausland. ** Teilnahme/Abschluss in Deutschland. Anteil an 18-Jährigen und Älteren in % mit Teilnahme Abschluss* durchschnittliche Zahl der Bildungsjahre Personen mit alle Teilnehmer Abschluss betriebliche Ausbildung/ berufliche Schule (früher)* 9 6 betriebliche Ausbildung/ berufliche Schule (derzeit)** 3 - Universitäten/ Fachhochschulen 19 13 4 5 keine Ausbildung 69 - - - 1 - - - 100 19 4 4 keine Angaben Insgesamt Quelle: IAB-BAMF-SOEP-Befagung von rund 2 300 Geflüchteten 2016; gewichtet. 3 3 -
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