Totleben. Eine russische Insel, die es nicht gibt

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Totleben. Eine russische Insel, die es nicht gibt.
Feature von Paula Schneider
Produktion: DLF 2012
Redaktion: Ulrike Bajohr
Sendung: Freitag, 25.11.2016 , 20:10-21:00 Uhr
(Wiederholung vom 28.09.2016)
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Sprecher:
Monika Lennartz
Axel Wandtke
Stephan Baumecker
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt
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©
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ATMO Welle / Geläut einer russischen Kathedrale
MUSIK Einstürzende Neubauten „3 Thoughts“
O-TON Drees:
Da war ich in Lomonossow. Einem Hafen da bei Peterhof, Zarenpalast. Da kam - ein
Mann zu mir an Bord. Der sah ziemlich verwegen aus. Und hat mir ein kleines Heftchen
gegeben. Das sieht uralt aus. Offenbar noch ein Original aus der Zeit. Mit den
Originalplänen von diesen ganzen Forts, Inseln da. Und da hat er mir gesagt, fahr da mal
hin, da, guck dir das mal an. Die waren damals in keiner einzigen Landkarte verzeichnet.
MUSIK unter der Ansage und dann aus
ERZÄHLERIN
Totleben
Eine russische Insel, die es nicht gibt.
Feature von Paula Schneider.
Geräusch Kanonen Schuss
MUSIK Terem „Variations On Swan Lake“
O-TON Dahlhaus:
Wenn Sie in Petersburg leben, da haben Sie weiß Gott andere schöne Orte...
ERZÄHLERIN
St. Petersburg. Friedrich Dahlhaus ist Leiter des Goethe-Instituts. Vom Büro aus, fast auf
Möwenhöhe, kann er Dächer und die berühmten Stadtkanäle zählen.
O-TON Dahlhaus:
(Bürogebäude): Ja, das ist auch das beste Büro das ich hatte. Also wir sind hier an der
Moika. (Telefon klingelt) Die nächsten wären eben Gribojedova und Fontanka.
Sozusagen der Blick in das (Tel. klingelt) 19. Jahrhundert Petersburgs, sag ich immer.
ERZÄHLERIN
Moika, Gribojedova, Fontanka...
O-TON Dahlhaus:
Also wenn Sie hier losgehen ...kommen Sie Richtung Newski. In das 18. Jahrhundert, also
der Klassiker. (Tel. klingelt)
ERZÄHLERIN
Hohe schmale Stiegenhäuser. Um die Kanäle steinerne Eleganz. Der Newski Prospekt ist
nicht weit, mit Fassadenstuck und fernen Kuppeln.
Nur die Newa kann man nicht sehen von hier aus. Nicht ihr helles Ufer an der Admiralität,
nicht ihre breite Öffnung hin zur Ostseebucht.
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O-TON Dahlhaus:
Und hier hinten ist dann teilweise noch so - auch Industriearchitektur...
ERZÄHLERIN
Und erst recht nicht sieht man die steinerne Inselkette draußen vor der Stadt.
ATMO / MUSIK
O-TON Dahlhaus:
Ich glaube für die meisten Russen oder meisten Petersburger. - Die werden da
irgendwann mal gewesen sein, und dann ist es das auch ne. Das ist sicherlich kein Ort,
wo man dauernd hinfährt, um irgendwie historische Tiefenbohrung zu betreiben.
ATMO / MUSIK kurzer kleiner Akzent aus
O-TON Drees:
...welcher Zar; da waren ja so viele. Und die meisten waren ja schon ermordet. Und wenn
einer ermordet war, kam schon der nächste....
ERZÄHLERIN
Zar Peter I. wollte ein Bollwerk gegen die gefährlichen Schweden. Wollte verhindern, dass
die Region, das alte „Ingermannland“ am äußersten Ende der Ostsee, wieder an
Schweden fällt.
O-TON Drees:
Und dann hat dieser Zar eine Kette von Inseln gebaut. Und da waren gar keine Inseln. Es
gab nur eine einzelne Insel, Kotlin. Auf dieser Insel Kotlin ist die Stadt Kronstadt. Das war
die einzige natürliche Insel. Dann haben sie aber verschiedene Festungsinseln da gebaut.
ERZÄHLERIN
1703 war das, und aus den Plänen einer starken Festung wurde eine ganze Metropole.
Auf ursprünglich hundert Inseln in den Schlamm der Newamündung gestemmt.
Hunderttausende Arbeiter starben.
Musik Terem „The Legend Of The Old Mountain Man“
O-TON Dahlhaus:
Natürlich gibt es da, für Menschen, die sich dafür interessieren, historische Bezüge. Also
nicht bloß 18., 19. Jahrhundert. Natürlich auch die Revolutionsjahre, Kronstadt,
Matrosenaufstand, aber auch das sind
ERZÄHLERIN
Heute sind die Stadtinseln vergrößert und verbunden worden, die Stadt stützt sich noch
auf reichlich 40. Und schaut kaum auf ihre Vorhut in der Ostseebucht.
Dabei sind die Festungsinseln im Finnischen Meerbusen die steinerne Wachmannschaft,
die Zar Peter der Große sich für seine Planstadt wünschte. Die größte und natürliche
Wächterinsel, Kotlin mit der Festung Kronstadt, sollte sogar mal Petersburgs Zentrum
werden. Das ist über 300 Jahre her.
ATMO / MUSIK noch etwas weiter…
dann aus
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ATMO Wind
Historisches-Grammofon Musik Pjotr Leschenko „Wsje, Tschto Bylo“
ZITATOR 2
4.März 1917
Meine Liebe Lidotschka!
wie geht es bei euch? Bei uns ist richtiges Winterwetter, wir warten mit Ungeduld auf den
Frühling. Frostig, nachts bis minus 20 Grad... Ich mache mir Sorgen... Bitte schreib mir...
ATMO Historisches-Grammofon und Wind aus
ATMO Computeratmo
ERZÄHLERIN
Auf der Karte: Die Ostsee. Polen... Finnland, Estland.
Der Finnische Meerbusen: der Arm der Ostsee, der am weitesten in den Osten greift.
Russland beginnt an diesem Arm da, wo die Hand sich ballt.
Und der Zeigefinger tippt genau auf `Piter´, auf Petersburg.
(ATMO Drees am Computer )
O-TON Drees:
Das kann ich auch gleich zeigen auf der Seekarte...
(ATMO Tastur)
ERZÄHLERIN
Am Knick des Ostsee-Zeigefingers der Rayon „Kurort“. An seinem untersten Rand, wie ein
Fingerring mit Stein, der Flutschutzdamm mit der Insel Kotolin. Auf der anderen Seite der
Bucht - Peterhof zum Beispiel, der Zaren-Sommersitz.
O-TON Drees:
Ich kann mich gut erinnern, ich war mit meinem Schiff. - Hier, mit dem kleinen roten. War
ich in Lomonossow.
ERZÄHLERIN
Der Friese Broder Drees hat ab 1987 in Leningrad, in Petersburg gewohnt. Hatte den
„Sperber“ dabei, sein privates Ausflugsschiff. Und immer zwei, drei Fässer Jever-Bier , aus
seiner Kneipe „Tschaika“.
Musik Leonid Soybelman „Nur Einmal Im Leben“
O-TON Drees:
Wodka war üblich, aber Bier war nicht so üblich. (Danach unter ERZÄHLERIN :) Da sagt
er, erst mal will ich fragen, was willst du eigentlich hier? Ja, hab ich ihm gesagt, hm! Weiß
ich eigentlich auch nicht, ich mach n Ausflug.
ERZÄHLERIN
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Und ein bärtiger Alter kam eines Tages an Bord, neugierig auf das deutsche Bier. - Und
gab ihm geheimnisvolle alte Pläne: Du hast doch ein Schiff. Fahr hin!
O-TON Drees:
Jaa, sagt er. Ich geb dir mal was. Und da hat er mir seine Unterlagen gegeben, von diesen
Inseln. Und da hatte ich sie. Wenn der nicht gewesen wäre ich gar nicht auf die Idee
gekommen
ERZÄHLERIN
Das, hat der Fremde gesagt, sind Inseln, die es gar nicht gibt!
O-TON Drees:
Die waren damals auf keiner einzigen Landkarte verzeichnet.
ERZÄHLERIN
Inseln, die es nicht gibt, in einem Gebiet mit Passierscheinzwang bis 1996.
ATMO / MUSIK (weiter)
ERZÄHLERIN
Eine Bucht voller Geheimnisse.
O-TON Drees:
Wie die Perlen an der Schnur sind diese Inseln. Das sind alles künstliche Inseln!
ERZÄHLERIN
Broder war sofort begeistert. Infiziert.
Von einer der Inseln besonders.
ATMO / MUSIK Ende
ATMO (Archiv) dazu Computer
ERZÄHLERIN
Eine Insel mit dem Namen Tot... .
Wo kann man sie finden?
Egal wie oft bei Google Maps die Maus Vergrößern und Vergrößern klickt, eine Insel
taucht zwischen Kronstadt und Repino einfach nicht auf.
ATMO / MUSIK Historisches-Grammofon Musik Pjotr Leschenko „Wsje, Tschto Bylo“
ZITATOR 2
Meine liebe Lidotschka!
Deinen letzten Brief vom 18. Februar 1917 habe ich am 22. oder 23. bekommen Schreibe
mir, bitte, wie es euch ergeht und ob ihr gesund seid. Hast Du das Geld erhalten, 250
Rubel, die ich Dir vor Tagen geschickt habe?
Geräusch Tür /ATMO (bei Tanja)
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ERZÄHLERIN
In Piter, wie die Leute sagen. Bei Tanja, Tatjana von Pinochi, einer Fernsehproduzentin,
kühlblond und elegant.
O-TON Ljuba: Tanja ist eine Baronin. Baronin von Pinochi. Ihr Mann, Ilja Iljitsch … war
guter Freund von Broder.
ERZÄHLERIN
Und Ljuba, Ljuba Hatschkurusowa, wärmer blond, mit weichen Schultern, ist
Dolmetscherin, viele Jahre schon.
O-TON Ljuba:
Damals habe ich übersetzt für Broder und so. Seitdem sind wir sehr, sehr befreundet. Mit
Tanja.
ERZÄHLERIN
20 Jahre sind die wilden Zeiten her mit Broder. Seit er wieder verschwunden ist, waren
Tanja und Ljuba kaum noch draußen in der Bucht.
ERZÄHLERIN
Aber sie wollen helfen.
O-TON Tanja: (russisch, am Telefon)
Ljuba: hm, schwierig...
Die Nummer stimmt nicht..
ERZÄHLERIN
Wie kommt man zu einer Insel, die kaum einer kennt?
Die Tourismusinformation? Kennt die Insel nicht. Ein Kulturbüro? Nichts. Das Internet?
Musikakzent Terem „Must Be Foxtrot“
O-TON Ljuba:
Der Mensch, der diese Reise organisiert, er hat Tanja gesagt, er hat einen guten
Bekannten, er ist Kommandant - Tkachenko, das ist seine Nachname. (wdh. russisch)
ERZÄHLERIN
Doch eine Führung über die Insel, die es nicht gibt...? Vielleicht, irgendwann...
O-Ton
T: I tak .. jest Kommandant totlebena. ....
Ljuba: Tanja hat erfahren, da gibt es ein -Vertreter, offiziell. Kommandant. Nicht dieser
Wladimir. … von diesem Fort. ...
T: on pischet knigu. .. Eto Tkachenko imia...
Ljuba: Tkachenko?
ERZÄHLERIN
Die wenigen, die den Inselnamen kennen, sagen: Wenn einer existiert, der mehr weiß,
dann er. „Der Kommandant“.
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Musik Terem „A slow one“
O-TON
Tanja: Konjeschno.
O, .. on rabotaet.
L: das ist ge- dieser wolodja (lacht ku)
(durchander etwas) .. on pischat knigu..
Autorin: Ist das auch dieser wolodja?
ja.
I: oh oh.
ATMO Kneipe Tschaika
ERZÄHLERIN
Wladimir heißt er, Wolodja. Maler soll er sein.
Nach vielen Versuchen schaffen sie es, ihn ans Telefon zu kriegen.
(russisch... dann deutsch:)
O-TON
Ljuba: Ich bin noch nie so lieb wie mit ihm da im Gespräch gewesen!
ERZÄHLERIN
Aber schwierig ist es, schwierig.
O-TON
Ljuba: .. Wladimir skasal, otschen.. Wladimir hat ganz negativ also, negativ das alles
geschildert. Es ist fast unmöglich, dort hinzufahren. (rascheln) Dort gibt’s jetzt
niemanden.
ERZÄHLERIN
Ist er bedrückt? Krank? Will er Geld?
O-TON
Und seine Frau hat mir ehrlich gesagt, Ljuba, vergiss das.
ERZÄHLERIN
Gibt es diesen Inselkommandanten überhaupt?
Musik Ende
ATMO / MUSIK Historisches-Grammofon Musik Pjotr Leschenko „Wsje, Tschto Bylo“
ZITATOR 2
Meine liebe Lidotschka,
Habe Deinen Brief gestern bekommen, er ist aber noch vor den großen Ereignissen
geschrieben worden, darin ist nichts über die neueste Lage zu finden. Bitte, schreibe öfter
und ausführlicher...
ATMO / MUSIK aus
Musik Terem „Homless Walz“
ATMO Wasser, Boot fährt an
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ERZÄHLERIN
Dann steuert ein Motorboot aus einem schattengrünen Hafen. Weit östlich im Finnischen
Meerbusen. Ein kleines Boot - Frachtklappe, dünnes Stoffdach, und, windgebeugt mit
weißer Mütze, ein alter Jachtkapitän.
ATMO Bootsmotor
ERZÄHLERIN
Sestroretsk heißt der Ort in seinem Rücken, nach dem früheren Grenzflüsschen Sestra.
Vor dem Bug Wasser, Himmel, viel zu viel Blau für diese Bucht. Steuerbord schmal der
Petersburger Flutschutzdamm und sonnenblinkend die Kuppel des Meeresdoms von
Kotlin. Sonst nichts. Oder doch?
ATMO Boot, leises Gespräch auf der Fahrt zur Insel
ERZÄHLERIN
(eher nebenbei) Eine Insel. Fata Morgana?
ATMO Motorboot
Musik Ende
ERZÄHLERIN
Nicht groß. Auf Luftbildern nur ein Komma im Wasser. Ein bisschen gekrümmt hin nach
Piter. Mit kaum 20 Meter schmaler Taille, und reichlich 700 Meter lang.
Im Näherkommen flach gewölbt und junigrün.
ATMO Gewölbe
ZITATOR 1
Es schien mir eine geheimnisvolle Insel zu sein, die im schimmernden Dunst der
Geschichte schwebte. Sie zog mich an und schreckte mich gleichzeitig ab.
Musik Einstürzende Neubauten „Wüste“
ERZÄHLERIN
Schwer zu greifen. Vor 1905 stand sie auf keiner Seekarte. Verschwand wieder von den
Karten ab 1918. Gewann und verlor und gewann einen Namen...
ATMO
ERZÄHLERIN
Wehrwasserburg, 3 Kilometer weit weg von andern Inseln oder vom Festland.
Postkartenidylle im Sommer, Schneekönigs Eisfestung im Winter.
ATMO Eisberg
Musik Ende
ATMO Historisch-Morsen.
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ZITATOR 2
Telegrafenamt des Kriegsministeriums… . An den Leiter der Ingenieurverwaltung
Kronstadt, 25. Januar 1897:
Der Kriegsminister lässt befehlen, dass man mit dem Bau der Forts „A“ und „B“ im
laufenden Jahr beginnen soll. Gebaut wird im nördlichen Fahrwasser.
Musik Einstürzende Neubauten „Wüste“
O-TON: Drees:
Allein dass diese Inseln aufgeschüttet wurden. (Kind vor Fenster) Und zwar mit Pferd und
Wagen. Das kann sich ja überhaupt keiner vorstellen.
ERZÄHLERIN
Eine künstliche Insel. Unter dem letzten Zaren erst der Bucht abgetrotzt, viel später als die
anderen Inseln. Und nicht gegen die Schweden, sondern gegen die Finnen.
O-TON: Drees:
Und die Inseln hat man damals auf sehr interessante Weise gebaut. Die hat man über das
Eis gebaut. Weil alles im Winter ja zugefroren war. Und bis heute auch zugefroren ist.
Hat man Löcher ins Eis geschlagen. Übers Eis Steine ohne Ende dort hin gebracht und die
Steine immer in die Löcher reingekippt. So entstanden diese Inseln da.
Geräusch Klatsch
ZITATOR 1
Den ganzen Sommer 1896 hindurch wurden Vorbereitungen getroffen. Holz wurde
geschlagen, Stahl gegossen, Stein gebrochen.
ATMO
Historisches-Signal Morsen
ZITATOR 2
Telegrafenamt des Kriegsministeriums.
An den Leiter der Bauarbeiten der Neuen Befestigungen Kronstadt, St. Petersburg.
Bitte über den Verlauf der Bauarbeiten an Steinkisten der neuen Forts und über die
Maßnahmen bezüglich des Eisganges umgehend zu berichten.
Empfangen am 23. März 1897
ERZÄHLERIN
Löcher wurden ins feste Eis der Bucht geschlagen, gerade groß genug für Kisten aus
groben Kiefernholzbalken.
ZITATOR 1
Alte russische Technologie.
ERZÄHLERIN
Mit Granitbrocken beschwert, ließ man die Kisten zum Meeresgrund hinab. Viele, dicht an
dicht.
ATMO (im Boot, Geräusche von Wasser und Motor,
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O-TON
Alexej (russisch)
Lena: Also diese Hozlkisten wiederholt die Form der Insel. Und man hat sie wirklich auf
den Grund gelegt, aufeinander gestapelt und mit Pfählen befestigt, im Inneren...
ERZÄHLERIN
Und an die Oberfläche kam Sand, Granit und Beton.
O-Ton (bei Motorbootsfahrt)
Lena: Es ist so, es ist dieser Kalziumsand verwendet worden. Es ist kein echter Sand. Und
das dient zur Wasserdichte, also Wasserabdichtung....(Boot)
ERZÄHLERIN
So wurde die Insel gebaut wie eine Bühne.
ATMO Wasser
ZITATOR 1
Mitte Februar 1897 waren beim Bau des Forts bereits 650 Männer tätig. Die Arbeiten an
der Festung wurden gut bezahlt. Ein Vorarbeiter erhielt seine 50 bis 70 Rubel. Zum
Vergleich: ein Leutnant bei der Festungsartillerie hatte ein Gehalt von 35 Rubel pro Monat.
ERZÄHLERIN
Natürlich war die Arbeit schwer. 10 Stunden in der Kälte, und dann 4 Meilen auf dem Eis
zu den Baracken des Lagers in Sestroretsk.
ZITATOR 1
1912 waren die Bauarbeiten am Fort beendet. In Betrieb genommen werden sollte es erst
im Jahr darauf zur 300-Jahr-Feier der Romanows. Ein strategisch gut durchdachtes Fort,
aber die militärische Festungsarchitektur war zum Zeitpunkt der Fertigstellung fast wieder
veraltet.
ATMO Motorboot Anlegen
Alexej (russisch)
Musik Ende
O-TON
Lena (Dolmetscherin): Diese Mole steht genauso auf diesen Holzkisten, wie das
Fundament der Bauten hier...
ERZÄHLERIN
Der alte Bootsmann bleibt an der kurzen Hafenmole. Lena und Alexej steigen aus. Jelena
Smolonogina, die junge Dolmetscherin. Alex Goss, Webmaster und Fotograf der einzigen
kleinen Firma, die Führungen auf Totleben anbietet.
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O-TON
(draußen) Alexej: (russisch)
Lena: Zu den Friedenszeiten waren hier ungefähr 300 bis 400 Soldaten. Und zu Zeiten
des Krieges bis 1000 Menschen konnten hier Platz finden auf dem Fort.
ERZÄHLERIN
Er zeigt zur Westseite dem mit acht Metern höchsten Festungsteil, wo ein ganzer
Bunkerquader von den Wellen nach unten gerissen wurde.
ATMO Fort
Alexej: a oktjabrja....
O-TON
Lena (Dolmetscherin): Im Oktober ist hier schreckliches Wetter, und die Wellen reichen
praktisch bis hierher. Und dann auch auf die andere Seite rüber geht das. Und hier war ein
Teil der Bauten, das ist jetzt komplett ins Meer gegangen.
ATMO Fort
(AT Alexej: Vod, ... (russisch; Lena drauf)
Lena: Wie verfahren wir weiter. Wir laufen der Fassade entlang...
A: ..na pramui flank forta...
L: ...bis zum rechten Flank, also bis zur rechten Seite des Forts. Dann steigen wir hoch,
und laufen ganz behutsam auf dem Dach oben. Kommen dann wieder zurück....
ERZÄHLERIN
700 Meter, über die ganze Insellänge, zieht sich die Fassade. Niedrig zur Entstehungszeit
vor hundert Jahren. Im Erdgeschoss reihen sich noch die alten Eingangsbögen. Anfang
der 40er Jahre veränderte der Winterkrieg gegen die Finnen das flache Kanonendach…
O-TON
Einfach ein Feuerpunkt.
A: is correct term. Firepost.
ERZÄHLERIN
...Und machte eine moderne ´Kampfstraße´ daraus.
O-TON
A: wod. Ulitza Bojewara.
L: Das ist ein Straßenschild, Straße Bojwara. Also Kriegsstraße.
A: (leicht lachend) Njet. Eto spezifetschki artileriski termui. .. terrassa...
L: also zu dieser Straße gehen praktisch Fenster.. obwohl das keine richtige Straße ist,
oder Promenade.
ERZÄHLERIN
Heute dominieren die 40er Jahre das Gesicht des Forts: Geschütz-Terrassen, klotzige
Erker, schmale Fensteraugen in dickem Beton.
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Musik Schostakowitsch(als ATMO )
Alexej russisch.. .
Lena: Der Scheinwerfer stand auf einer drei Meter hohen Plattform. Und da sind die
Gegengewichte.
Lena: Das Hauptportikus wurde 1950 umgebaut. Und oben war wahrscheinlich ein Bildnis
von dem Zaren. ..Danach der rote Stern der Sowjetzeit. Und im Moment nichts.
ERZÄHLERIN
Unzählig viele Schattierungen von bröckelndem Grau in der Sonne. Und hinter den dicken
Wänden ist Nacht.
Atmo Schritte im Fort
ZITATOR 1
Im Winter stand in den Ecken Eis. Und im Sommer lief Wasser an den Wänden herunter.
ATMO
Gehen, knirschiger Grund in der Festung
ERZÄHLERIN
Parallel zur Kampfstraße auf dem Dach ziehen sich auch Inneren Gänge über die ganze
Länge des Forts.
ATMO
ERZÄHLERIN
Eine rostige Treppe führt zum alten Munitionsfahrstuhl.
Lena: Die Hebevorrichtung für die Geschosse... der Mechanismus befindet sich oben.
Und wir versuchen da hochzusteigen. Ob es uns gelingt, ist eine Frage.
(Lena, Alexej
russisch)
ATMO
(Treppe hoch)
L: Nur an den Seiten!...
ERZÄHLERIN
Und dann kurbelt Alexej - der offene Fahrstuhlkorb bewegt sich. So ist vor 7, 8, 9
Jahrzehnten die schwere Munition hoch gehievt worden, zu den Großkalibern auf der
Kampfstraße.
ATMO
klack – klack
O Ton
L: Da bewegt sich die Plattform nach oben. Man sieht also das funktioniert bis heute noch.
A. kurbelt metallisch, schnell! - puh! ..
Geräusch Kanonenschuss
O Ton
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Lena: Wladimir hat hier neue Türen aufgestellt.
ERZÄHLERIN
Wladimir, der mysteriöse Inselkommandant. 20 Winter soll er im Fort gewohnt ... und
Erscheinungen gehabt haben.
ATMO
Lena: Das ist die Geistergalerie. Also der Raum, der sich ganz weit unten befindet. Und
hier bekommt man die meisten Visionen. Und die Legende von diesem Ort ist eigentlich,
dass man, also man sieht ja die Geister ganz schnell, nach einem Monat, wenn man hier
gelebt hat, einen Monat lang. Aber die Geister beginnen auch in zwei Monaten, Dich zu
sehen.
Musik Terem „Two-Step Nadya“
ATMO Fort, draußen wieder (m. Vögeln)
ERZÄHLERIN
Um einen kleinen Friedhofsobelisken stehen ein paar Inselbäume am Granitkai. Sonst
wuchert das Grün strauchig und niedrig.
O-TON
Alexej (russisch)...
Lena: Anfang des 20. Jahrhunderts, war hier alles kahl. Das erste Gras kam erst 1914...
Und davor war hier Stein und Beton. Und der eigentliche Boden, den die Soldaten
mitgebracht haben, der kommt aus Sestroretsk. Also die Offiziere haben das gemacht,
nicht die Soldaten. Denn die Soldaten hatten hier zu schuften.
Musik Ende
O-TON
Und die Offiziere hatten Zeit für Gemüsegärten. Das Leben war natürlich sehr schwer,
(Möwe ruft dahinter) im Moment sieht es hier ein bisschen wie ein Kurort aus, aber es war
natürlich nicht so.
Lena: In den 50er Jahren gab es viele Geschichten über Selbstmord, und Alexej stand im
Briefwechsel mit einem Mann, der hier mal Militärdienst abgeleistet hat. Im Moment ist er
ausgewandert nach Israel. Und er schrieb, dass er sich sogar aufhängen wollte. Aber jetzt
erinnert sich, also im Nachhinein, an diese Zeit als die schönste Zeit seines Lebens.
ATMO / MUSIK Historisches-Grammofon Musik Pjotr Leschenko „Wsje, Tschto Bylo“
ZITATOR 2
Meine liebe Lidotschka! Wie sieht es mit der Wohnung und anderem aus? Pass auf Dich
und auf die Kinder auf. Mein ehemaliger Chef warnt vor einer unabwendbaren Gefahr, und
bevor ich Dein Telegramm bekommen habe, bekam ich viele graue Haare, weil ich mir so
große Sorgen um euch gemacht habe...
Geräusch Kanonenschüsse
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ERZÄHLERIN
Als nicht mehr mit ihm zu rechnen ist - gibt es ihn doch. Den Hüter der Liebesbriefe an
Lidotschka, den Sammler der Inseldokumente, Wladimir Tkatschenko.
O Ton
Wladimir...
Lena: Am 8. Juli sind es 23 Jahre, solange bin ich auf dem Fort ...
..
ERZÄHLERIN
Minuten nach dem siebten oder achten Telefongespräch steht er unter der Fliegerstatue
einer zentralen Metrostation, und lächelt in seinen noch fast schwarzen Malervollbart.
Einen schlechten Blutdruck hat er, sagt er Lena, die auch für ihn übersetzt. Acht
Auftragsinselbilder muss er malen, und hat höchstens Zeit für ein Gespräch im Park ganz
in der Nähe.
O-TON
Wladimir (russisch)
Lena: Ich hatte Glück, einen Menschen kennenzulernen, der hier in Petersburg lebt. Und
sein Name ist Weber. Wie wird Weber übersetzt? Katch. Ja, wir sind praktisch - haben
einen gleichen Namen, genau. Sein Großvater im Jahre 1916 war der Kommandant von
Totleben. Vielleicht wegen dem Namen, weiß ich nicht (leicht lachend): Totleben Weber...Wer soll da rumkommandieren also.
ERZÄHLERIN
Mit jedem Herbst, wenn keine Jachten mehr die Stille stören, zieht der „Inselkommandant“
auf die Insel zurück.
O-TON
W: Papal - w cem let ja papal...
(Stadtatmo hinter ihm)
Lena: Als ich 7 Jahre alt war, war ich das erste Mal auf Totleben. Mein Großvater hat mich
dort hingebracht. Ich stammte ja aus Sestroretsk. Und da lebten meine Großeltern. Und
hab ich vom Strand beobachtet immer die Insel. Und hab mir gedacht, was für eine Insel
ist das.
ERZÄHLERIN
Atombombensicher ist die Festungsinsel nicht, deshalb wurde sie 1960 aufgegeben. Aber
Sperrgebiet blieb sie, so nah an der Grenze zu Finnland, zum Westen.
O-TON
Wladimir russ
Mit Sieben hatte ich ihn überredet, und er hat mich hingebracht. Das war 1965.
ERZÄHLERIN
Ein Sperrgebiet mit einer mächtigen Aura. Ende der 80er Jahre: Wladimir, neugierig, mit
Hammer und Pinsel, weckte das Fort aus den Dämmerträumen von Metalldieben und
Anglern. Er wurde der einzige Bewohner, in der einzigen Kasematte mit Fensterglas, hatte
den einzigen Arbeitsplatz.
O-TON
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Wladimir (russisch)
L: Auf dem Fort. Von 1988 – 1993. Jetzt ist es viel komplizierter geworden.
ERZÄHLERIN
Jetzt Inselführungen, Artikel in der Zeitschrift „Zitadelle“. Bilder malen, am liebsten vom
Fort.
O-TON
W: (russ.)
Lena: 1989 hab ich ein Schreiben geschrieben, an die Verwaltung von Kronstadt. Dass
man dem Fort den ursprünglichen Namen zurückgeben sollte. Bis 1922 hieß es Todtleben.
Dann wurde es umbenannt, perwoj maiski, nach dem ersten Mai. Und dann habe ich, den
Namen zurückgeben.
ERZÄHLERIN
Tot-leben. Wie altklug und dunkel.
O-TON Dahlhaus:
Da haben se mich ja gerade auf ne philosophische Spur gebracht. Die hab ich (lachend)
gar nicht gesehen!
ERZÄHLERIN
Alles steckt drin, von Anfang bis Ende.
Wie kommt die Insel zu so einem Namen?
ATMO Historische Funkatmo
ZITATOR 2
Kronstadt am 21. Februar 1913. An Graf Nikolaj Eduardowitsch Totleben, Flügeladjutant
Seiner Kaiserlichen Majestät.
Mein gnädiger Herr…,
Gemäß Verordnung Nr. 1/ 1912, des Kriegsministeriums trägt eines der neuen Forts der
Festung Kronstadt den Namen „Graf Totleben“. Da die Benennung nach hervorragenden
Persönlichkeiten nicht nur zur deren Verehrung beiträgt, sondern auch einen riesigen
erzieherischen Wert für die Verteidiger der Befestigungen hat, möchte man auf dem Fort
ein Bildnis Ihres verstorbenen Vaters, worum ich Sie auch bitte. In höchster Verehrung,
Stabschef der Festung Kronstadt und Generalmajor Danilow.
ATMO / MUSIK Terem „Tatamka“
ERZÄHLERIN
Totleben. Nach einem Graf Totleben also...?
O-TON
Wladimir (russ...)
Lena: Es gab da eine Legende: Dass der auf einem solchen Wege nach Russland
gekommen ist. Er hat sich in ein Mädchen verliebt. Aus dem niedrigen sozialen Stand, eine
Bäuerin wahrscheinlich. Und die Familie war gegen eine Heirat. Und er hat sie
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mitgenommen nach Russland. Sie hatten ein Familienwappen.
ZITATOR 1
Treu auf Tod und Leben
O-TON Drees:
Jaja und diese eine Insel heißt eben zu Ehren dieses Generals „Fort Totleben“. Das ist ein
deutschstämmiger General, der dem Zaren damals geholfen hat, ne.
Musik Ende
ZITATOR 1
Eduard Totleben, 1818 – 1884, Baltendeutscher aus Riga. Baute nach Studium, u.a.
in Petersburg, mit großem Erfolg Festungen. Vor allem an der Schwarzmeerküste,
von Sewastopol bis nach Bulgarien. Nach Kriegsverletzung Gouverneur in Odessa.
Wirkte an Weiterbau und Ausgestaltung der Festung Kronstadt mit.
ERZÄHLERIN
Der Maler Wladimir hat nicht nur Briefe gesammelt. Er hat die Fortgeschichte
aufgeschrieben.
O-TON
Wladimir: (russ).
Lena: Und es sind 340 Seiten. Sehr viele Bilder. ...Angefangen von 1895 bis zu unserer
Zeit. Wladimir (russ.)
Lena: Stellt sich die Frage. Warum sind so viele Deutsche nach Russland gekommen,
wozu denn. Katherina die Große, unsere Zarin, sie war doch deutscher Abstammung.
Russland ist in dieser Hinsicht ein merkwürdiges Land. Es verdaut alles, was hier landet.
Diese Stadt zum Beispiel. Von wem ist diese Stadt gebaut? Von Russen, von Deutschen.
Von Schotten, von Engländern, von Italienern. Alle sind da. Und Russland verdaut alle.
Gottlob Totleben war in dieser Hinsicht wirklich ein unikaler Mensch, ein einzigartiger ...
ERZÄHLERIN
Wer? Nicht Eduard, Gottlob?
O-TON
Wladimir: bolschoi interesny tschelowek.
L: das war ein sehr interessanter Mensch. Das war eigentlich ein verdeckter Spion.
ZITATOR 1
Gottlob Curt Heinrich Graf von Totleben...
Musik Locke - Preußens Gloria von Bekannte Märsche auf der Kirmesorgel
ERZÄHLERIN
Eduard ist eine Art russischer Nationalheld, wenigstens bei den Älteren. Aber ein „unikaler
Mensch“, ein Unikum war sein Vorfahre Gottlob, hundert Jahre früher.
Musik Ende
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ERZÄHLERIN
Vom Rittergut Tottleben in Mitteldeutschland... eine echte Berühmtheit des 18.
Jahrhunderts. Adliger Abenteurer und hitziger Lebemann, Hoch-Stapler, Hochverräter.
Entführer einer blutjungen Millionärstochter. Als General in russischen Diensten im
siebenjährigen Krieg gegen die Preußen bei der Eroberung Berlins dabei. Danach
trotzdem in Russland zum Tode verurteilt. Von der Anhaltiner Zarin Katharina II. begnadigt
und in die nächsten Kriege geschickt.
MUSIK Terem „Sounds Like A Twist“
ZITATOR 1
„Dieser irrende Ritter hat auf vielen Schaubühnen eine so große Rolle gespielt…daß man
Mühe haben würde, einen zu finden, dessen Staatsstreiche …so viel Lärmen gemacht
hätten.“
ZITATOR 2
Tractat: Aufweckung und Rettung des Grafen von Totleben, aus dem Holländischen 1763.
ZITATOR 1
Und weil ihn die Russen für einen Mann von vornehmer Herkunft hielten, so meynten
sie, er sey in der Kriegskunst ungemein bewandert.“
ERZÄHLERIN
Ein Romanheld!
ZITATOR 1
„Als der Graf in St. Petersburg anlangte, miethete er ein Zimmer bey einem
französischen Gastwirthe, wo die Fremden einzulogiren gewohnt waren. Sein
Kammerdiener nahm die Freyheit, ihm eine Ermahnung zu geben: Herr Graf, wir sind
hier in einer neuen Welt; was für eine Rolle wollen wir spielen? Denn hier werden wir
weder Juweliere zu betrügen, noch Mädchen zu entführen finden...“
Musik Ende
ATMO Kanonenfeuer
O-TON
Tanja: Broder buil sponsor naschi programmi...
Ljuba: Tanja hat zu diesem Zeitpunkt eigene Musikprogramm im Petersburger Fernsehen.
Heißt „Private party“. Und Broder war Sponsor von diesem Programm.
T: pivo mnogo...
L: es hat immer Bier gegeben... Und einige Programme wurden dort aufgenommen, in
Tschaika. Damals war dieses Programm sehr populär, in Petersburg und, nicht nur.
darauf
ERZÄHLERIN
Tanja, die TV-Produzentin, und Ljuba, die Dolmetscherin, sitzen im Restaurant „Tschaika“,
wo Tanja in den 90er Jahren die Musiksendung „Private Party“ produzierte, 10 Folgen
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lang.
Atmo Fernsehshow
ERZÄHLERIN
Damals brummte hier Broders Lokal: eine Art russischer Geisha-Business-Club mit
deutschem Essen und deutschem Bier, westeuropäischen Geschäftskunden und
sowjetischen, später russischen Mädchen. Heute ist die Wirtschaft fast leer.
O-TON
Ljuba: Ja, gute Zeiten. Broder war hier (klopft auf Tisch) Pionier auf diesem Gebiet,
sozusagen. Das war der erste Joint Venture Lokal in St. Petersburg – in Russland
überhaupt.
Fernseh-O-TON Drees
Und die Produzenten erhalten...
(Tanja russisch)
ERZÄHLERIN
Und überbordend war Drees, keineswegs unangefochten.
O-TON Drees:
Ich hatte auch schon Spionagevorwurf, und war schon im Gefängnis da. Und das hat mich
alles gar nicht mehr interessiert. Ich wusste ganz genau, ich komme wieder raus. Mich
kann ja keiner killen. Mal gucken, das wird ja interessant. Nach diesem Muster hab ich
immer gearbeitet, das wird ja interessant. ..
O-TON
Ljuba: ... so wie ein Held also. Vom Ruhm. (lacht) Kennt persönlich Putin, Broder. Und
Sobtschak, unseren verstorbenen Bürgermeister.
L: Allein diese Besetzung, Einfrierung von Totleben. Kennt ihr diese Geschichte? Ja, ja.
ATMO / Einfriereffekt
MUSIK Private Party ...abrupt sehr eisig
O-TON Drees:
Mir hatten se damals das Geld eingefroren - in Besitz genommen. Das waren 1.8 Millionen
deutsche Mark, damals.
ERZÄHLERIN
Der Staatlichen Außenhandelsbank war das Geld ausgegangen. Und ein Erlass von
Präsident Jelzin erklärte: Ausländervermögen sollen helfen. Nicht enteignet, nur geborgt.
Und dabei drastisch abgewertet.
ATMO Einfriereffekt
O-TON Drees:
Ich hab gesagt, diese Insel sieht gut aus, die schnapp ich mir jetzt. Und dann hab ich da
130 Journalisten aus der ganzen Welt eingeladen. Und 8 Tonnen Trockeneis mir besorgt.
Und die Insel eingefroren. Genauso, wie die mein Geld eingefroren hatten, nicht. Und das
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war ne sehr gesellige Nummer da. Nen Biertresen hingestellt da, und dann ab die Post.
ATMO Einfriereffekt
Musik Einstürzende Neubauten Wüste
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Ein Tresen auf einer Insel, die es nicht gibt.
O-TON Drees:
Ach, als ich da ankam, mit meinem Trockeneis und mit den Schiffen. Da war ein einziger
Mann, der da auf der Insel wohnte. Dieser Wolodja. Ja, er sei der Kommandant von
Todtleben. - Ja, ich bin Kommandant von Tschaika, hab ich gesagt. So, deswegen bin ich
ja hier. - So geht das nicht!, sagt er gleich. Und dann hat er gesagt: meine Begleiterin ist
die Urnichte oder sowas, von Totleben. Und sie möchte sich auch entschuldigen, über das,
für das, was die Sowjets mit Ihnen machen da. Und ich übergebe Ihnen die Urkunden für
diese Insel. Das find ich sehr anständig von Ihnen (ha!), hab ich gesagt.
ERZÄHLERIN
Gekapert hat Drees die Insel wie Gottlob von Totleben seine junge Braut. Und dann
druckt Drees auch eine Briefmarke. Auch zwei, drei Adelstitel vom „Fürstentum Todtleben“.
Dem russischen Staat ist das bis heute egal.
ATMO Einfriereffekt
MUSIK Ende
ZITATOR 1
Treu auf Tod und Leben...
Der Tod - für den Ritter eine Alltäglichkeit.
ATMO Einfriereffekt
(in Kneipe Tschaika)
Tanja: Skaschi Paula interesnaja istoria …
Ljuba: Tanja hat gesagt, in ihrem Leben hat sie auch so eine zwar traurige Geschichte, die
mit diesem Fort Totleben verbunden ist. Tanja war verheiratet. Er war sehr sportlich.
Konnte sehr gut schwimmen. Und er hat eine Jacht gekauft. (Tanja u. Ljuba drunter weiter
laufen lassen)
ERZÄHLERIN
Tanja hatte vor 20 Jahren ihre eine eigene Totleben-Geschichte.
ATMO (Kneipe)
O-TON
Tanja (russisch)...
Ljuba: Mit zwei Booten sind sie gefahren zum Fort Totleben. Und wollten sie weiter
fahren, nach Meerbusen. Und als sie schon bei Totleben vorüber waren, war ein großer
Sturm... Und das hat tragisches Ende gehabt.
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Ihr erster Mann war in die Ostseebucht gefahren, die neue Freiheit ansegeln: mit einem
Freund, in zwei kleinen Booten. Gerade auf der Höhe der Insel änderte das Wetter seine
Laune. So stürmisch, dass - nur sein Freund konnte an Land paddeln irgendwie, mit
seinem gekenterten Boot.
O-TON
Ljuba: Sein Freund hat diesen Mast so genommen und ist nach Repino geschwommen.
Und Tanjas Mann - gestorben.
ERZÄHLERIN
Aber es ist eben eine Geschichte von der Insel Totleben. Und nach diesem Schlag ging
Tanjas Leben neu an den Start.
O-TON
Tanja (russ), Ljuba: Danach hat sie diese Baron von Pinochi kennengelernt, und danach
Broder. Und danach ganz anderes Leben. Das ist so, Tod und Leben Totleben.
ATMO Historisches-Grammofon Musik Pjotr Leschenko „Wsje, Tschto Bylo“
ZITATOR 2
Meine liebe Lidotschka,
Jetzt gibt es in der Verwaltung so viel zu tun wegen der Benachrichtigung der Offiziere und
Soldaten über die gegenwärtigen Ereignisse, dass ich heute erst, nachdem ich dem neuen
„Regime“ Treue geschworen habe, Zeit finde, Dir zu schreiben.
Die ersten Tage waren für uns sehr schwer, weil wir nicht verstehen konnten, was passiert.
Die letzte Zeitung, die wir bekommen haben, berichtete von der Auflösung der
Staatsduma, und danach waren 5 Tage Stille...
MUSIK Terem „Pas D'Espagne“
O-TON
Wladimir: Broder … ras
Lena: Wo Broder zum ersten mal kam, habe ich ihn verjagt.
Wladimir ... na Schnapski..
Lena: Ich hab gesagt, aha, du bist gekommen, um Schnaps zu trinlen.
Wladimir bisnes pa russki! Bisnes pa russki! (lacht)
-L: Und er hat die ganze Zeit rumgeschrien: russisches Geschäft. Russisches bisnes.
Wladimir: (russ.)
Und er fand es verwunderlich, dass ich kein Bier trinke.
W: ...i Wodka ne pivo…
Und keinen Wodka trinke. Also ich bin ein falscher Russe. Er ist ein falscher Deutscher,
und ich bin kein echter Russe.
Wladimir: (russisch)
Lena: Das war 1992 bis 1996 war er dort. Ist immer gekommen mit seinem Dampfer.
ERZÄHLERIN
Mit Lebensmitteln und Gästen hat Broder Wladimir in diesen Jahren versorgt. Inzwischen
ist er Seebestatter geworden; weit weg von Russland und der Insel Totleben.
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O-TON
W.: kak Produktui po nemetzki?
Lena: Leben eto schisn... Lebensmittel. ...Das waren so große Dosen mit Schinken. Das
war ein Viereck, eine Viereckdose. Und dann ging sein Geschäft pleite, ging etwas falsch.
Und dann langweilte er sich und ging dann weg.
ATMO Stille / vages Kriegsgrollen
ZITATOR 1
Im sowjetischen Winterkrieg gegen Finnland, 1939 bis 1940, haben die Russen vom Fort
aus finnische Positionen nördlich von Leningrad beschossen.
O-TON
Alexej: (leise russisch, drunter)...
Lena: Also von hier aus können wir die ehemalige finnische Küste sehen, Sestroretsk. Da
wo das quadrate weiße Gebäude steht, da verlief die Frontlinie. Am 9. Juni 44 war eine
große Operation hier auf der Karelischen Front. Das war am besten vorbereitet und
wahrscheinlich am meisten geschossen war hier überhaupt im Laufe des Krieges. Die
Schlacht dauerte fast, mehr als 24 stunden lang. Und das war wahrscheinlich wirklich eine
Aussicht, die keines gleichen kennt sozusagen.
ZITATOR 1
Im Großen Vaterländischen Krieg dann schützte das Fort „Totleben“ die linke Flanke des
23. Armeekorps, das Leningrad im Norden verteidigte. In der schwarzen Zeit der
Leningrader Blockade spielte die Insel also noch einmal eine wichtige Rolle.
Geräusch Kanonenschuss
ERZÄHLERIN
In den Stalinjahren, als auch Frauen auf der Festung dienten, war das Regiment strenger,
weniger familiär, als in der erste Festungsepoche ab 1913.
O-TON
Das waren 150 Mädchen. Aber sie waren da nicht an den Flak-Geschützen, sondern auch
Funker. 41 sind sie gekommen, dann wurden sie verteilt. Und wenn man die Wäsche
aufgehängt hat, war das natürlich auch eine erotische Show. Und alle haben zugeschaut,
oh, so ein großer BH.
ATMO Gewölbe im Bunker / Kellergang
O-TON
Lena: Schenzina... (russisch)
Alexej russisch... … (knirschen dazu vom Gehen innen)
L: Natürlich gab es wahrscheinlich auch so heikle Geschichten, aber diese Geschichten
wurden nicht unterstützt. Vor allem aus politischen Gründen. Denn (kurz abgewandt) zu
der Sowjetzeit war ja eigentlich Politik die Religion und der Glaube. Und man hat dann den
Offizieren zugetragen, und solche Geschichten haben sich dann nicht weiter entwickelt.
(leise)
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ERZÄHLERIN
Aber halten sich junge Menschen an solche Verbote?
O-TON
Wld kasematje..) In einem Raum 13 Menschen. Zu Zeiten des Krieges. wenn man noch
das obere Geschoss mitzählt, sind es 26 Menschen. Also man hatte da nicht den Raum Es war nicht der Ort zum sich umarmen oder küssen.
Wld: A ljuboi konjeschno...
Lena: Und Liebe gab es aber. Man hat Briefe geschrieben, Zettel geschrieben einander.
Autorin: haben Sie noch so etwas?
Wld...
Lena: Aus den älteren Zeiten...
ATMO / MUSIK Historisches-Grammofon Musik Pjotr Leschenko „Wsje, Tschto Bylo“
ZITATOR 2
11.März 1917
An Ihre Hoheit Lidia Prokofjewna Latmanisowa,
Meine liebe Lidotschka,
Sei von mir mehrmals und zärtlich geküsst. Küsse bitte auch die Kinder. Zuletzt erreichte
uns so Schreckliches über Morde in Petrograd usw. Beunruhigende Gerüchte...
ERZÄHLERIN
Briefe des Festungskommandanten der Insel Totleben an seine Frau.
Viele Briefe, aus dem Revolutionsjahr 1917. Wladimir hat sie gesammelt.
ZITATOR 2
Ob alle Parteien sich vereinigen, um den äußeren Feind zu besiegen und das Land zur
inneren Ruhe zu bringen?
Geräusch Schellackende
ATMO / MUSIK Terem Tatamka
ERZÄHLERIN
Vor anderthalb Jahrzehnten kam ein seltsames Schiff zur Insel. Altmodisch, und doch voll
junger Leute.
O-TON
W: fata morgana.
L: Und dann haben sie es gesehen, ah, Fatamorgana, eine Vision! Haben es nicht
geglaubt, dass das so aussieht.
ERZÄHLERIN
„Atlantic Challenge“ organisiert Bootsbau-, und Ruder- und Segelwettkämpfe von
Jugendlichen. Die Boote passen gut an den verwunschenen Granitkai von Totleben:
Hölzerne Langboote aus der Gründerzeit Sankt Petersburgs. Ein paar Tage in jedem
Sommer blühen seitdem bunte Zelte auf dem Beton der „Kampfstraße“.
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O-TON
Wladimir (russisch)
Lena: 2 Stunden paddeln. 2 Stunden segeln.
W: i 2 rabot na fortu
L: rabota po?
W: Po fortu.
L: Aha, und 2 Stunden Fortarbeit einfach. Räumen, aufräumen, und solche Sachen.
ERZÄHLERIN
Auch andere sollen manchmal aus Sestroretsk kommen und auf dem Fort aufräumen,
anpacken. Wo gibt es das sonst, hier? Fort Obruchev, die Partnerinsel zwei Kilometer
westlich, ist eine verwahrloste Schwester.
Musikakzent Terem Must Be Foxtrot
ERZÄHLERIN
Slata Bregowa ist eine Organisatorin von Atlantic Challenge Russia.
O-TON
Zlata: I feel this -not like a painting-. Like a window. Like a window to the forest. ..the
mistery of this picture... When its twilight, it looks like twilight forest. When its night, it looks
like night forest.
ERZÄHLERIN
In ihrem Flur hängt eins von Wladimirs Bildern. - Ein Fenster in den Herbst.
O-TON
Zlata: ...You see this round pond. This is not a pond. This is there, where the bomb was
explosed. ... very typical for St. Petersburg area...
ERZÄHLERIN
In den Videos auf Slatas Computer segeln junge Russen und Briten und Indonesier durch
die Welt...
O-TON
Zlata (am surrenden PC): And the fortress itself brings so deep impressions to young
people. And if they have been there, they are changed!
ERZÄHLERIN
Aber das Fort verändert die Jugendlichen wie kein anderer Ort.
MUSIK Ende
ATMO
Vögelkrächzen (Fort)
ERZÄHLERIN
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Wladimirs Bilder: Bögen der Windfang-Eingänge, Schrägen der Rampen zur Kampfstraße
hoch... weiß wie in einem griechischen Dorf. Himmel dahinter, und vorn Trampelpfadgras.
Dutzende Inselansichten hat Wladimir verkauft. Hier in Petersburg; und viele Jahre lang
nach Hamburg. Aber im winzigen Museum auf Totleben stellt er nicht seine Bilder aus.
Sein Traum für die Insel ist ein anderer. Noch mehr als Malerei liebt er Geschichte.
O-TON
Wladimir: (russisch)...
Und ih hab mit meiner Bürgermeisterin gesprochen. 5 Minuten hat sie mir nur gegeben.
W: uiui, tolko ne musee...
L: Kein Museum, kein Museum bitte. Dieses Museum bringt doch keinen Gewinn.
ERZÄHLERIN
Und hat er auf der Insel nicht auch schon nach anderem als Zwiebeln und
Museumsstücken gegraben?
O-TON Drees:
Ich hab ihn dabei erwischt. Sag, was ist das denn? Das ist mein Grab, sagt er. So n Loch,
nicht. -Was soll das denn? Ja, hier will ich eines Tages landen, ich will hier nicht weg.
Musik Neubauten „3 Thoughts“
ERZÄHLERIN
Eine Anzeige geistert im russischen Immobilienhaifischbecken:
ZITATOR 2
„25 km vor St. Petersburg, 17 künstliche Inseln aus Granit.
Ein führendes Architektur-Büro, Gewinner des Entwurf- Wettbewerbs, sucht nach
Investoren.“
ERZÄHLERIN
Wie lange ist noch Raum hier für tagträumende Geschichte und bröckelnden Granit? Muss
sich eine Insel irgendwann wieder abschaffen, wenn sie Totleben heißt?
ATMO Im Fort mit Glucksen und Wasser
ZITATOR 1
Mein alter Freund – Fort „Totleben“. 25 Jahre haben wir zusammen verbracht, aber du
hast mich immer noch nicht in alle deine Geheimnisse eingeweiht.
O-TON
Wladimir (russ)
Lena: Auf dem Fort gibt es einen sehr merkwürdigen Ort. Ich nenne ihn ein verzauberter
Ort. Ich hatte einmal Zahnschmerzen. Da gibt es natürlich keine Zahnärzte auf der Insel.
Und in der Nacht bin ich zu diesem Platz gegangen. Das war im Oktober. Ich hab mich
hingelegt auf das Gras. Und in einer halben Stunde sind die Schmerzen vergangen
MUSIK
Terem „Tatamka“
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ERZÄHLERIN
Totleben. Eine russische Insel, die es nicht gibt.
Sie hörten ein Feature von Paula Schneider.
Es sprachen: Monika Lennartz, Axel Wandtke und Stephan Baumecker
Ton: Hermann Leppich
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Redaktion: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2012
Musik Ende
Die Recherchen für diese Sendung wurden ermöglicht durch das Grenzgänger-Stipendium
der Robert- Bosch-Stiftung
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