vertieftes lernen – kompetenzen für das 21. jahrhundert

Johannes Koch
VERTIEFTES LERNEN –
KOMPETENZEN FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT
Das Coucil for Education der National Academies, ein Netzwerk von US-Amerikanischen Wissenschaftlern, hat sich mit der Frage beschäftig, welche Kompetenzen Menschen im 21. Jahrhundert benötigen, und wie Schulen dazu beitragen können, diese zu erwerben. Die Ergebnisse sind in einer umfassenden Studie veröffentlicht: Education for Life and Work: Developing Transferable Knowledge
and Skills in the 21st Century.
Im Titel steckt bereits eine entscheidende Vorannahme, es geht um die Fähigkeit des Transfers von
Lernergebnissen auf die Lösung neuer Aufgaben. Argumentiert wird, im 21. Jh. werden durch Automatisierung und Computerisierung Routinearbeiten weitgehend von Maschinen übernommen, Menschen sind vor allem für das Lösen neuer Probleme gefragt. Gefordert ist dafür die Fähigkeit, vorhandene Fertigkeiten und Kenntnisse für die Lösung neuer Aufgaben einsetzen zu können.
Mittel der Wahl ist aus Sicht der Wissenschaftler „Vertieftes Lernen“ (Deeper Learning). Deeper Learning ist nicht zu verwechseln mit „Deep Learning“, das im Kontext von Big Data-Analysen zum Einsatz
kommt.
Um das Konstrukt des Deeper Learnings zu verstehen, hilft ein Blick auf die Rolle kognitiver Strukturen in der US-Amerikanischen Pädagogik.
Bis in die 1970er wurde Gedächtnis in Lernpsychologie und Pädagogik gleichermaßen als Wissensspeicher verstanden, in den man nicht hineinschauen kann. Das hat sich mit der sog. Kognitiven
Wende grundsätzlich geändert. Nicht nur können Neurophysiologen durch bildgebende Untersuchungsverfahren dem Gehirn beim Denken zusehen, auch Lernpsychologen haben Wege gefunden,
mit neuen Methoden mehr darüber zu erfahren, wie das Gedächtnis funktioniert. Ein Forschungsansatz, der die Pädagogik nachhaltig beeinflusst hat, ist die Kognitionsforschung. Eine erste umfassende
Darstellung von Ergebnissen erfolgte 1975 unter dem Titel: Explorations in Cognition, auf Deutsch:
Strukturen des Wissens (Norman/Rumelhart 1978). Seitdem wird das Bild des Gedächtnisses als Speicher durch das eines mehrdimensionalen Netzwerks abgelöst, mit der Folge für die Pädagogik: es
kommt nicht mehr darauf an, möglichst viel in die Köpfe hineinzustopfen, sondern das sinnvolle Ordnen und Verknüpfen von Wissen anzuleiten.
Ein Ergebnis dieser Forschungen ist, dass das menschliche Gehirn vereinfachte Abbilder der Zusammenhänge in seiner Umwelt herstellt, die sowohl die Wahrnehmung steuern, als auch das Wahrgenommene interpretieren. In der amerikanischen Psychologie werden diese Modellvorstellungen als
„Concepts“ bezeichnet. Für die Pädagogik entscheidend ist, dass jeder Mensch seine individuellen
Concepts entwickelt und von ihrer Qualität die kognitive Leistungsfähigkeit abhängt.
Im deutschen Sprachraum wurden Ergebnisse der Kognitionsforschung zuerst von Vertretern der
Handlungsregulationstheorie (Hacker, Aebli) aufgenommen, die den Zusammenhang zwischen kognitiver Struktur und Handlungskompetenz aufgezeigt haben. Die Erkenntnis, dass fachkompetentes
Handeln eine leistungsfähige kognitive Struktur voraussetzt, gilt heute als eine der Grundlagen der
Arbeitspädagogik. Dem Begriff des Concepts entspricht das des operativen Abbilds in der Handlungsregulationstheorie.
Eine praktische Anwendung ist „Kognitiv Apprenticeship“, ein pädagogischer Ansatz, der von Collins
(2006) u.a. entwickelt wurde. Apprenticeship meint hier nicht nur die Meisterlehre wie im deutschen
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Dualen System, sondern jedes angeleitete praktische Lernen wie das der Kinder von ihren Eltern. Mit
Kognitiv Apprenticeship sollen diese Formen des praktischen Lernens auf das Denken übertragen
werden.
Grundlage des Kognitiv Apprenticeship sind Studien, nach denen Experten anders an die Lösung von
Problemen herangehen als Anfänger. Die Hypothese ist, dass sie dafür über andere kognitive Strukturen (Concepts) verfügen. Sie suchen z. B. von Anfang an nach für die Lösung relevanteren Informationen als Anfänger. Ziel ist, durch geeignete Hilfen Schülerinnen und Schülern anzuleiten, wie erfahrene Experten zu denken. Vorgeschlagen werden sechs methodische Hilfen: Modeling, Lernen am
Modell, Coaching, beobachten und korrigieren, Scaffolding, Hinweise und Hilfen, Articulation, begleitendes Sprechen, Exploration, angeleitetes endeckendes Lernen.
Die Konzepte des Vertieften Lernens sehen vor, insbesondere problemlösendes Denken anzuleiten.
In der Studie lassen sich drei Ansätze für das Vertiefte Lernen unterscheiden, ein methodischer und
zwei didaktische, und für die didaktischen ein induktiver und ein deduktiver.
In den methodischen Ansätzen findet man alles, was in einer zeitgemäßen Pädagogik empfohlen
wird. Am Beispiel des Mathematikunterrichts an einer Schule mit hohem Migrantenanteil wird eine
vertiefende Vorgehensweise beschrieben (a.a.O. S. 87ff).
Die Lehrer dieser Schule haben ein gemeinsames Curriculum für Algebra und Geometrie erstellt,
nach Themen gegliedert, z. B. „Was ist eine Funktion?“ und dafür komplexe problemorientierte Aufgaben entwickelt. Die Schüler wurden in kleine Gruppen mit heterogenen Leistungsvoraussetzungen
eingeteilt. Die Gruppen waren für den Lernerfolg aller Mitglieder verantwortlich. Dazu wurden unterschiedliche Rollen vergeben, wie Moderator, Gruppenleiter, Protokollant oder Ressourcen-Manager.
Für die Bewertung der Leistung kam es nicht nur auf die Ergebnisse an, sondern auch auf die gewählten Lernwege, die Diskussionen in der Gruppe und die Qualität der Fragen an die Lehrpersonen.
Nach zwei Schuljahren zeigten die Schüler deutlich bessere Leistungsergebnisse als die aus zwei Vergleichsschulen mit herkömmlichem Unterricht.
Weil diese Methode ausschließt, den Schülerinnen und Schülern Rechenwege vorzugegeben, sondern sie sich diese selbst erarbeiten müssen, wird davon ausgegangen, dass damit kognitive Strukturen erworben werden, die auch zukünftig zum Lösen neuer Aufgaben befähigen, wie es für das Vertiefte Lernen gefordert wird.
Als didaktisch lassen sich Ansätze bezeichnen, mit denen bestimmte mentale Modelle (Concepts)
vermittelt werden. Die Idee ist, wenn man die mentalen Modelle der Experten kennt, kann man Anfänger gezielt anleiten, wie ein Experte zu denken. Hierfür gibt es sowohl induktive als auch deduktive Vermittlungsformen.
Bei der induktiven Vorgehensweise erhalten die Lernenden zusammen mit Aufgaben Hinweise auf
Lösungswege, die denen von Experten entsprechen. Auch hier ein Beispiel aus der Mathematik
(S.124f): Es wird u.a. vorgeschlagen, Schülern Aufgaben zu geben, die unterschiedliche Rechenarten
erforderlich machen, und sie in einem ersten Schritt die geeignete Rechenart auswählen, und die
Wahl begründen zu lassen. Die Erklärung ist, im herkömmlichen Unterricht würde jeweils nur eine
Rechenart vermittelt und geübt. Bei neuen Aufgaben besteht die Schwierigkeit hingegen vor allem
darin, überhaupt erst das geeignete Rechenverfahren auszuwählen.
Methodisch entspricht diese Methode dem Scaffolding, d.h. durch Fragen oder Hinweise Lernenden
die Vorgehensweise von Experten zu vermitteln. In der deutschen Berufsausbildung entspricht die
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Leittextmethode diesem Ansatz. Durch Leitfragen werden Auszubildende z. B. angeleitet, eine technische Zeichnung so zu lesen, wie ein erfahrener Facharbeiter.
Deduktiv ist, den Lernenden eine Vorgehensweise vorzugeben, die der von Experten entspricht, und
sie die Anwendung üben zu lassen. Ein Beispiel ist das Modell der vier Ressourcen (deutsch würde
man besser Dimensionen sagen) für das Lesen eines Textes (S. 106f):
1.
2.
3.
4.
Der Text selbst, welche Informationen enthält er?
Das eigene Interesse, warum lese ich diesen Text?
Der Verfasser, warum hat er den Text geschrieben?
Der Kontext, in welchen Zusammenhängen steht der Text?
In Schulexperimenten konnte die Wirksamkeit aller drei Vorgehensweisen nachgewiesen werden. Die
didaktischen Ansätze setzen im Gegensatz zu den methodischen voraus, dass zuvor die mentalen
Modelle, bzw. eine Hypothese über sie, ermittelt worden sind.
Die Notwendigkeit, Transferkompetenzen zu vermitteln, wird durch eine Studie des ifo-Instituts bestätigt (Hampf/Wössner 2016). Danach ist die frühe Spezialisierung in einer Dualen Ausbildung zunächst ein Vorteil für den Eintritt ins Berufsleben, der sich jedoch später zu einem Nachteil umkehrt.
Es wird das Alter von 44 Jahren genannt, ab dem dieser Nachteil eintritt. Als Mittel gegen dieses Risiko wird mehr Allgemeinbildung empfohlen.
Verfolgt man die gegenwärtigen Diskussionen zur Digitalisierung der Arbeitswelt, dürften die mit einer Ausbildung jetzt erworbenen Qualifikationen in Zukunft schon sehr viel früher veralten. Skepsis
ist vor allem bei der Forderung nach mehr Allgemeinbildung angebracht, es sei denn man versteht
darunter die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, die Mertens 1974 in die Diskussion eingebracht hat. Eine Alternative kann das hier vorgestellte Vertiefte Lernen sein, dass sich sehr gut mit
einer beruflichen Bildung verbinden lässt.
Literatur:
Aebli, Hans (1980): Denken: Das Ordnen des Tuns. Bd. 1. Bd. 2 1981. Stuttgart.
Collins, Allan (2006): Cognitive Apprenticeship. In: Sawyer, R. Keith: The Cambridge Handbook of The
Learning Sciences. New York. S. 47 – 60.
Hacker, Winfried (1973): Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie. Psychische Struktur und Regulation von Arbeitstätigkeiten. Berlin.
Hampf, Franziska / Wössmann, Ludger (2016): Vocational vs. General Education and Employment
over the Life-Cycle: New Evidence from PIAAC. CESIFO WORKING PAPER NO. 6116. München.
Mertens, Dieter (1974): Schlüsselqualifikationen. Sonderdruck: Mitteilungen aus der Arbeitsmarktund Berufsforschung, Nürnberg.
Nationel Research Council (2012): Education for Life and Work. Developing Transferable Knowledge
and Skills in the 21st Century. Washington. https://www.nap.edu/catalog/13398/education-for-lifeand-work-developing-transferable-knowledge-and-skills.
Norman, Donald A. /Rumelhart, David E. (Hrsg.) (1978): Strukturen des Wissens. Wege der Kognitionsforschung. Stuttgart.
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