"Sie machen alles falsch!"

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature
"Sie machen alles falsch!"
Die Pädagogisierung der Gesellschaft
Von Anja Kempe
Sendung: Mittwoch, 16. November 2016
Redaktion: Wolfram Wessels
Regie: Anja Kempe
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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ATMO DIDACTA
SPRECHERIN:
In Halle fünf laufen Männer in schicken Anzügen auf und ab. Sie preisen ihre
Dienstleistungen an. Einer der Männer verteilt bunte Flyer an das Publikum.
ATMO DIDACTA / PÄDAGOGE:
Ich bin von Haus aus Sozialpädagoge, und unsere Mitarbeiter sind alles Pädagogen.
Sozialarbeiter, Sonderpädagogen, Erzieher, wie auch immer, halt Pädagogen.
SPRECHERIN:
Die Leute greifen zu. Auf den Flyern steht in großer roter Schrift „Kannst du nicht war
gestern“.
MUSIK
ANSAGE:
„Sie machen alles falsch!“
Die Pädagogisierung der Gesellschaft
Ein Feature von Anja Kempe
ATMO
SPRECHERIN:
Die Didacta ist die größte Fachmesse für Bildungswirtschaft in Europa. Sie wird
jährlich von rund 100.000 Menschen besucht, hauptsächlich von Leuten, die an
Pädagogik, an pädagogischen Programmen, pädagogischen Trainings,
Weiterbildungen, Seminaren und Coachings interessiert sind. Die Zahl der Besucher
der Bildungsmesse ist in den letzten zehn Jahren um gut 30 Prozent gestiegen.
Der Sozialpädagoge mit den Flyern wirft einen zufriedenen Blick auf seinen
Messestand. Kurse, Coachings, und „außergewöhnliche Settings“ seien ausgebucht
wie nie, Lebenshilfe und Weiterbildungen aller Art begehrt ohne Ende. Lernen könne
man immer was, sagen die Leute, irgendwas mitnehmen könne man immer.
Ganz Deutschland scheint sich auf einen großen Marsch durch Seminarräume und
Trainingsstätten begeben zu haben. Ein Mann steckt einen Flyer in seinen Rucksack.
0-TON MESSEBESUCHER:
Ja da mach’ ich schon einiges. Für mein gutes Gefühl. Atemtherapie. Auch
Beziehungsgeschichten mit meiner Frau, und verschiedenste Sachen. Kann ich nicht
mehr zählen.
SPRECHERIN:
Zwei Frauen, beladen mit Info-Material, nicken.
0-TON MESSEBESUCHERIN
Ja! Weil ich das toll finde! Ich gehe zu vielen Trainings und Coachings!
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0-TON MESSEBESUCHERIN
Ja. Kann ich nicht mehr zählen. Das sind viele. Es gibt ja Leute, die machen das
nicht. Die sind dann in ihrer Welt und sind dann aber auch nicht mehr ganz ernst
genommen.
ATMO ENDE
SPRECHERIN:
Auch die Anzahl der Pädagogen und Sozialpädagogen ist explodiert. Sie stieg von
151.00 in den 90ern bis zur Jahrtausendwende auf 931.000. Seit 2000 stieg die Zahl
der Beschäftigten in sozialen Berufen auf 1,4 Millionen.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Also die Zahl der Tätigen wurde immer mehr. Sozialarbeiter, Sozialarbeiterinnen,
Sozialpädagogen und Diplompädagoginnen und Pädagogen. Und die allermeisten
sind ja staatlich bezahlt muss man sagen. Das sind ja keine Privatunternehmer, die
werden staatlich bezahlt, das heißt, die werden vom Staat finanziert und dann in der
Regel von Wohlfahrtsverbänden eingerichtet. Wie AWO, Caritas oder Diakonie.
Hinzu kommen dann noch diejenigen, die keine Stelle zum Beispiel bei
Wohlfahrtsverbänden finden und sich selbständig machen als Atemtherapeut, als
Coach, als Gestalttherapeut mit beraterischen Dienstleistungen. Atemtherapeut oder
Gestalttherapeut oder Coaches, das ist glaube ich im Augenblick ganz in.
Lebenscoach oder Berufscoach oder ähnliches. Leute, die frei an den Markt gehen
und ihre Dienste anbieten, ja, und hoffen, auf Klientel zu stoßen.
SPRECHERIN:
Der Dortmunder Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers hat die rapide Vermehrung der
Pädagogen und Pädagoginnen untersucht.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Im Grunde kann man sagen, dass fast alle Bereiche des Lebens und alle
Bevölkerungsgruppen inzwischen eine spezielle Pädagogik haben. Für die eine
spezielle Pädagogik gemacht wird. Verkehrspädagogik, Museumspädagogik,
Familienpädagogik, Sexualpädagogik, Vorschulpädagogik, Altenpädagogik,
Freizeitpädagogik.
ANJA KEMPE:
Welche Bereiche sind nicht betroffen?
PETER RÜTTGERS:
Fällt mir jetzt keiner ein! Würd’ mir jetzt nichts einfallen.
ATMO FLÜCHTLINGE LERNEN DEUTSCH / BUCHSTABIEREN
SPRECHERIN:
Integrationsleistungen in gigantischem Ausmaß sind zu bewältigen. Allein mit der
Massenflucht aus den Kriegsgebieten kamen 2015 1,2 Millionen Menschen nach
Deutschland. Bis 2017 wird eine Verdreifachung der Zahl prognostiziert.
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Damit all die Flüchtlinge sich zurechtfinden in unserer Gesellschaft und die deutsche
Sprache lernen können, sind in Integrationskursen für jeden Flüchtling 600 bis 900
Stunden vorgesehen. Der Integrationskurs besteht aus einem Sprach- und einem
Orientierungskurs. In dem Orientierungskurs werden die deutsche Rechtsordnung,
deutsche Geschichte und Kultur, Rechte und Pflichten in Deutschland, Formen des
Zusammenlebens in der Gesellschaft und Werte, die in Deutschland wichtig sind,
vermittelt, zum Beispiel Religionsfreiheit, Toleranz und Gleichberechtigung. Um das
gewaltige Erziehungspensum bewältigen zu können, rufen die zuständigen
Institutionen die Pädagogen in ganz Deutschland auf.
SPRECHER:
„Wir suchen ab sofort Menschen aus pädagogischen Berufen, die gerne mit
Flüchtlingen arbeiten möchten. Die Bundesagentur für Arbeit stellt finanzielle Mittel
für achtwöchige Einstiegskurse zur Verfügung. Kursstart ist voraussichtlich Anfang
November.“
ATMO BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT
0-TON BERATER / ARBEITSAGENTUR:
Aus meiner Sicht als Arbeitsvermittler ist der pädagogische Arbeitsmarkt insgesamt
aufnahmefähig. Sie brauchen sehr viele Kräfte, und die Beschäftigungsbedingungen
sind nicht immer sehr attraktiv. Ich sehe allerdings auch, es sind zunehmend mehr
Pädagogen auch in der Privatwirtschaft tätig, dass Pädagogen vermehrt auch in der
Privatwirtschaft gebraucht und eingesetzt werden, das heißt, die Pädagogen haben
Sie als Bildungsreferenten, Bildungsmanager, Personalentwickler, teilweise auch als
Trainer. Dann gibt es noch diese häufig befristeten Projekttätigkeiten, ein großer
Anteil im sozialpädagogischen Bereich ganz unterschiedlicher Tätigkeitsfelder wie
zum Beispiel jegliche Arten von sozialer Betreuung und Unterstützung, Familienhilfe,
Integrationsbegleitung, Betreuungseinrichtungen, Beratungsstellen, aufsuchende
Familienhilfe, der Bedarf ist sehr groß, die Beschäftigungsbedingungen sind oft nicht
ganz so hervorragend, Thema Beschäftigungsbefristung, niedriges Gehalt. Aber
aufnahmefähiger Arbeitsmarkt. Das heißt, sehr gutes Stellenangebot. Nicht umsonst
wird das Thema Sozialpädagogik auch als ein Beruf mit entsprechendem
Fachkräftemangel gesehen.
ATMO ENDE
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Das Leben hat ja funktioniert. Das hat alles geklappt. Auch ohne Pädagogen.
SPRECHERIN:
Ist die Pädagogisierung der Gesellschaft positiv, fragt der Sozialwissenschaftler
Peter Rüttgers.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Ja wie ist der Mechanismus eigentlich? Es ist ja im Grunde so, man hat plötzlich ein
ganzes Heer ausgebildeter Fachkräfte für Pädagogik. Und das kann man auf zwei
Seiten sehen. Man kann sehen, die Menschen werden hier nicht alleine gelassen, es
ist egal, welches Problem die haben, die werden von Sucht- über
Beziehungsprobleme, allgemeine Lebensprobleme ein Angebot finden. Andererseits
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gibt es natürlich eine ganze Kaste von Experten und Expertinnen, die immer
behaupten, sie könnten es besser.
SPRECHERIN:
Als Reformidee der Sozialpädagogik, speziell der Randgruppenpädagogik, schon
einmal angedacht in den 60er Jahren, zementierte der Erziehungswissenschaftler
und Leiter des Deutschen Jugendinstituts in München, Thomas Rauschenbach, den
Begriff ‚sozialpädagogisches Jahrhundert’, um eine epochale Neuordnung der
Pädagogik bezeichnen zu können, die um 2000 begann, qualitativ und quantitativ.
Der zunehmende Trend, mehr und mehr Pädagogen und Sozialpädagogen
auszubilden und auch einzustellen, sollte die humane, die menschliche
Entsprechung einer hoch entwickelten Gesellschaft sein. Die Etablierung einer
‚öffentlichen und organisierten Erziehung’ sollte eine Erfolgsgeschichte werden, ein
großer erfreulicher Fortschritt. Immer mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen
sollten den Menschen zur Verfügung stehen, sollten ihnen behilflich sein, die Lasten
und Risiken des Lebens und des Alltags zu bewältigen.
SPRECHER:
Sozialarbeit ist als ein Produkt der Moderne zu einem unverzichtbaren öffentlichen
Instrumentarium zur Lebensbewältigung geworden.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Ich komme, um deine Probleme zu lösen! Früher hätte man gedacht, in der
Sozialpädagogik und der Sozialarbeit, eher Jugendliche bzw Familien in
Brennpunkten, also unterprivilegierte Familien mit wenig Zugang zu Geld und
Ressourcen, aber inzwischen ist das ja so, dass das Familienangebot ein Angebot
ist, das sich auf alle Familien bezieht oder beziehen soll. Menschen betreuen,
begleiten und so weiter, und wenn man Familienpädagogik als allgemeines Angebot
schafft, muss man ja sagen, dass Familien tendenziell defizitär sind. Und ohne
unsere Begleitung würden die Kinder wahrscheinlich sexuell missbraucht, ungewollt
schwanger oder krank oder gewalttätig oder drogensüchtig. Unabhängig von der
sozialen Situation geht man davon aus, dass Familien so viele Probleme oder
Belastungen haben, die durch Fachmenschen bearbeitet werden müssen. Mit
Pädagogik, Beratung, Therapie, Begleitung, wie auch immer.
Freizeitpädagogik finde ich auch ein eindeutiges Beispiel dafür, wie ein Bereich
plötzlich pädagogisch okkupiert wird. Der wird an Land gezogen und dann wird
gesagt, wir müssen da freizeitpädagogische Angebote machen. Freizeit mit Familie
und ähnliches. Dass man den Leuten nicht selber zutraut, ihre Freizeit sinnvoll oder
zufrieden stellend zu gestalten, sondern man meint, man muss die noch begleiten in
ihrer Freizeit. Man könnte ja auch sagen, die sind in ihrer Freizeit, um das zu
machen, was sie eigentlich wollen.
Und dass dadurch neue Standards geschaffen werden. das heißt, jemand, der jetzt
nicht mitmacht, sich nicht beteiligt, eher außen ist, dass kulturell neue Standards
geschaffen werden. Wo die Menschen das Gefühl haben, an denen muss ich mich
orientieren, an die muss ich mich halten. Das ist natürlich nicht rechtlich verbindlich,
aber es setzt gewisse Standards und die nehmen definitiv gesellschaftlichen Einfluss.
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Stellen Sie sich mal vor, Sie sind umzingelt von Müttern, die Eltern-Kinder-Kurse im
Vorschulalter besuchen. Oh, das sind aber engagierte Eltern, die machen aber was
für ihre Kinder, für die Entwicklung ihrer Kinder, für die Beziehung zu ihren Kindern
und so weiter. Und Sie sind jetzt diejenige, und sagen, ich hab’ da keine Lust zu, ich
hab’ da keine Zeit zu oder ich sehe es gar nicht. Ich sehe da keinen Sinn drin.
SPRECHER:
Wir helfen Ihnen, wir beraten Sie, wir unterstützen Sie, wir zeigen Ihnen, wie man
einen Kühlschrank putzt.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Das heißt, dass sozusagen so eine Kaste von Experten und Expertinnen für das
Leben insgesamt entsteht, die die Maßstäbe setzt. Die den Leuten Maßstäbe
aufzwingen, denen sie sich unterzuordnen haben. Da werden für das Leben
Maßstäbe gesetzt und sich vielleicht auch gar nicht mehr die Frage stellt, ob das
meine Maßstäbe sind, und die auch noch kontrolliert werden. Das heißt, dass der
Kühlschrankpädagoge übernächste Woche noch kommt, oh Gott, der steht vor der
Tür und guckt, ob ich mich dran gehalten hab’. Also eine Expertenherrschaft im
Grunde. Ich greife jetzt hier in eine Familie ein, ich greife in die Intimsphäre ein, wo
ich eigentlich gar nichts verloren habe.
SPRECHERIN:
Was haben Pädagogen mit dem Leben von Menschen zu tun, fragt der
Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Also das kann man als machttheoretischen Aspekt sehen, das heißt, es steht nicht
im Mittelpunkt, welche Bedürfnisse bei der Bevölkerung angeblich vorherrschen oder
nicht, sondern im Mittelpunkt stehen die Bedürfnisse der Pädagogen. Als Gruppe
insgesamt, dass man sich dadurch einen sozialen Aufstieg verschafft. Das heißt,
ganz viele dieser Studierenden kommen nicht aus Akademikerfamilien.
Einstiegsstudium ist typisch, Sozialpädagogik, Sozialarbeit oder Diplompädagogik.
Das heißt, man ist familiengeschichtlich ein Einsteiger. Das sind ganz typische
Einsteigerberufe, und natürlich auch dann nach dem Studium versuchen, ihrer
gesamten Profession zum Aufstieg zu verhelfen. Ist so!
SPRECHERIN:
Wer in den 90er Jahren studiert hat, sah sie auf den Campuswiesen liegen. Sie
schauten in die Bäume. Sozialpädagogik galt als Wischi-Waschi-Fach, und viele, die
nicht wussten was und ob sie überhaupt studieren sollten, schrieben sich in dieses
Fach ein. Manchmal saßen sie in den Seminaren der Politologen, weil sie
irgendwelche Scheine brauchten, in Staatstheorie beispielsweise, und sie schafften
es, innerhalb von zehn Minuten das Diskurslevel auf Fußknöchelhöhe
herunterzupalavern. Kurz gesagt, Sozialpädagogen galten weder als akademisch
solide noch als glaubwürdig, noch konnte sich jemand vorstellen, auch sie selbst
nicht, dass die Gesellschaft sie tatsächlich brauchen würde. Das soll heute anders
sein.
ATMO TANZPÄDAGOGIN / GIBT ANWEISUNGEN MIT MUSIK
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0-TON BETTINA BIERDÜMPEL / TANZPÄDAGOGIN:
Mein Name ist Bettina Bierdümpel, und ich bin Tanzpädagogin. Wir können
Fortbildungen für Lehrer, im Kindergarten, in der Schule, wir können in eine Kurklinik
gehen, in Altenzentren, mit Senioren, mit Hausfrauen, mit Schwangeren,
Behinderten, Behinderte, da gibt’s ja auch die ADAS-Behinderten, die
Körperbehinderten, die geistig Behinderten, Menschen mit Migrationshintergrund,
Drogenabhängige, Flüchtlinge, allein erziehende Mütter, Frauenhaus, also im Grunde
mit allen Menschen, die es gibt.
SPRECHERIN:
Die Tanzpädagogin Bettina Bierdümpel hat bereits rund 900 Tanzpädagogen und
Tanzpädagoginnen ausgebildet. Sie leitet ein tanzpädagogisches Institut in Köln.
0-TON BETTINA BIERDÜMPEL / TANZPÄDAGOGIN:
Uns geht es sehr darum, dass Tanz vermittelt wird im Rahmen der kulturellen
Bildung. Und wir merken, wir müssen jetzt noch mehr auf die kulturelle Bildung Wert
legen, weil das für die Zielgruppen bisher sehr fremd war. Zum Beispiel Tanz in
Schulen. Es wird jetzt viel viel mehr in Schulen getanzt, weil wissenschaftlich
bewiesen worden ist, dass die Kinder danach besser rechnen können.
ATMO
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Wir sind im Prinzip Zeugen eines großen Prozesses, wo wir umstellen von der Art
der Vorbereitung auf das Leben auf die Begleitung. Und das wird einiges verändern.
Dass man also nicht mehr dem humbold’schen Ideal einer emanzipatorischen
Bildung verpflichtet ist. Die Frage ist dann nur, welche Konsequenzen hat das im
Hinblick auf die Personen, die wir jetzt ausbilden.
SPRECHERIN:
Wie schätzt das pädagogische Fachpersonal selbst den Nutzen der fortschreitenden
Pädagogisierung der Gesellschaft ein. Dieter Nittel ist Pädagoge, genauer gesagt, er
ist Professor am Sozialpädagogischen Institut der Universität Frankfurt.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
In früheren Zeiten hat man bis zum 25 Lebensjahr benötigt, um ein
heranwachsendes Gesellschaftsmitglied im Übergang von der Jugend zum
Erwachsenenleben auf das gesamte spätere Leben vorzubereiten. Das ist heute
anders. Man kann sich das wie eine Batterie vorstellen. In früheren Zeiten war es so,
dass man die Batterie aufgeladen hat, um das gesamte weitere Leben bewältigen zu
können. Heute ist es so, dass man von diesem Batteriemodus von der Vorbereitung
auf die Begleitung umgestiegen ist.
Es fängt also bei der pränatalen Pädagogik an. Dass es eine Pädagogik des
vorgeburtlichen Lebens gibt. Die ganzen Schwangerschaftskurse. Wie koche ich
Spinat. Die Familienbildung. Und es wird dann ganz am Ende noch mal gerahmt im
Zuge der Sterbebegleitung. Das ist ein Bereich, wo auch immer mehr
Sozialpädagogen in die ganze Hospizarbeit reingehen. In diesem
außerpädagogischen Bereich, der ist ja sehr groß, das sind ja erstmal auch ganz
harmlose Sachen, dass Maggi-Kochstudio oder ADAC, also alle möglichen
Institutionen, die erstmal gar nichts mit Pädagogik zu tun haben, sind dabei, sich sehr
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stark zu pädagogisieren. Daran kann man diese Pädagogisierung auch messen,
dass Pädagogen heute in allen möglichen Arbeitsfeldern, die nicht unbedingt
pädagogisch konnotiert sind, tätig sind.
Und das ging nur dadurch, dass wir eben da in dem Bereich unglaublich viele Leute
auch ausgebildet haben. In Deutschland ist die Betreuungsquote in einer rapiden
Geschwindigkeit gestiegen.
Und das ist natürlich auch Teil der sozialdemokratischen Ideologie, dass man immer
neue Supportstrukturen, immer neue Beratungsstellen, die wollen das ganze
Bildungssystem, auch das Erwachsenenbildungssystem mit Beratungsstellen
überziehen. Für jedes Problem eine Beratungsstelle.
ANJA KEMPE:
Warum wollen die das?
DIETER NITTEL:
Fortschritt. Expansion.
SPRECHERIN:
Risikogesellschaft. Dafür, dass so etwas wie Massenpädagogik etabliert und
institutionalisiert werden konnte, waren und sind die Thesen und Ausführungen des
Soziologen Ulrich Beck zugkräftige Argumente. Mit seiner soziologischen Zuspitzung,
das Leben in hoch entwickelten Gesellschaften sei gefährlich und kompliziert für die
Menschen, wurde sein Buch „Risikogesellschaft“ zum Bestseller und zur Bibel für
Sozialarbeiter und Pädagogen.
0-TON TRAINERIN / TANZPÄD.INSTITUT:
Find’ ich absolut super! Weil, da gibt’s ganz ganz viel Bedarf. Es gibt Arbeitslose, die
Verkäuferin beim Aldi, die Hausfrau, es gibt den Rentner, es gibt den Manager. Der
auch Hilfe braucht!
ATMO TANZPÄDAGOGIN / GIBT ANWEISUNGEN MIT MUSIK
SPRECHERIN:
Die Trainerin im tanzpädagogischen Institut gibt Anweisungen.
ATMO
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Das ist alles durchpädagogisiert. Vor allem im Gesundheitsbereich, dass die
Krankenkassen Druck auf die Kunden ausüben, indem sie zum Beispiel Rauchern
ein Raucherentwöhnungsseminar aufdrücken. Und gerade wenn Sie an die
Weitergabe von Daten, wenn Sie an diese Gesundheitsuhren denken, da gehen also
die ganzen Daten an die Krankenkassen. Die Krankenkassen können diese Daten
natürlich auch zur Konstruktion von Lernprogrammen transformieren und sagen, bitte
schön, Sie haben also über drei Jahre zu wenig Treppensteigen gemacht, Sie
müssen jetzt endlich mal ein Gesundheitswochenende besuchen. Das tangiert
beispielsweise auch die Flüchtlinge, jeder der hierher kommt aus Syrien, der muss ja
erstmal in einen Integrationskurs. Und ich glaube, die nächste Baustelle der
Pädagogisierung, das wird das Alter sein.
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SPRECHERIN:
20 Millionen Menschen in Deutschland, rund ein Viertel der Bevölkerung, sind älter
als 65 Jahre. 2060 werden mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung Rentner
und Ruheständler sein.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Also was sollen denn die älteren Menschen, die ja immer mehr auf uns zukommen,
die können ja nicht nur alle auf der Parkbank sitzen, sondern die müssen ja auch was
Sinnvolles machen. Und dafür braucht man diese Pädagogen wieder.
ATMO TANZPÄDAGOGIK
0-TON BETTINA BIERDÜMPEL / TANZPÄDAGOGIN:
Die kommen freiwillig! Wir können hier keinen zwingen!
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Meine eigenen Kräfte schwinden dadurch.
SPRECHERIN:
Was bedeutet es für eine Gesellschaft, pädagogisch ‚durchgekämmt’ zu werden,
welche Spuren hinterlassen solche Bemühungen, fragt der Sozialwissenschaftler
Peter Rüttgers.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Es kann dazu führen, dass man seiner Intuition gar nicht mehr folgt, oder
althergebrachten Formen der Problemlösung gar nicht mehr folgt, dass ich denke, ich
bin gar nicht mehr adäquat in der Lage, mein Problem zu lösen, weil, es gibt
irgendeinen Fachmenschen, die kennen sich mit meinem Leben besser aus, und ich
mich dann in der Folge weniger auf mich selbst verlasse. Oder auch nicht mehr
traue, eine eigene Entscheidung zu fällen. Weil ich denke, die sind ja gar nicht richtig,
oder ich muss die erst legitimieren lassen von einem Fachmenschen, weil ich denke,
aha, dann habe ich die richtige Entscheidung gefällt. Also dann atme ich vielleicht
auch gar nicht mehr so, wie ich normalerweise atme, nämlich ohne drüber
nachzudenken, weil ich nicht mehr selbst weiß, ob ich das auch so mache, wie es
gemacht werden muss.
ATMO SPRACHTRAINING
Die kleine fade Made. Das sagen wir jetzt mal.
SEMINARTEILNEHMER IM CHOR
SPRECHERIN:
Ein Schlagwort geistert durch die pädagogischen Programme, bildungspolitischen
Positionspapiere, wirtschaftspolitischen Konzepte und die Köpfe der Menschen, die
Formel des Lernens als lebenslange Aufgabe.
SPRECHER:
Lebenslanges Lernen, das klingt nicht nur gut, das ist auch gut. Lernen ist immer gut
für Menschen und lebenslanges Lernen erst recht. Gegen lebenslanges Lernen kann
niemand einen ernsthaften Einwand haben. Und wenn doch, dann soll er sich
schämen. Pfui.
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0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Zwischen Pädagogisierung und Lebenslangem Lernen gibt es natürlich eine
Überschneidung. Weil, Endgrenzung der Klientel bedeutet ja auch, dass man Leute
ein Leben lang zu seinen Klienten machen möchte, dass man unterstellt, die
müssten immer weiter lernen.
SPRECHER:
Lernen Sie bitte mehr! Lernen Sie besser, schneller, länger und öfter! Und lernen Sie
unbedingt Hochdeutsch. Dann werden Sie es leichter haben im Leben.
ATMO / 0-TON TRAINERIN:
Die Maade. Also so weit soll der Mund auf sein.
SEMINARTEILNEHMER IM CHOR: Maade, faade, schaade.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Das Lebenslange Lernen ist heute erstmal eine bildungspolitisch konnotierte Formel.
Man könnte sagen, dass sich in dieser Formel auch die Internationalisierung von
Bildungspolitik niederschlägt. Bildungspolitisch deswegen, weil das auch die Formel
ist, mit der die europäischen Organe ihre Bildungspolitik organisieren, und auch im
Kontext der Weltgesellschaft im Bereich UNESCO redet man nicht mehr von
Erziehung und Bildung, sondern man redet von Lebenslangem Lernen. Die absoluten
Fürsprecher, die Protagonisten, die benutzen das ja teilweise als Ersatzreligion. Und
wenn solche Kuschelbegriffe, solche Container-Begriffe so absolut gesetzt werden,
haben sie teilweise so einen Erlösungscharakter.
ATMO SPRACHTRAINING
Die kleine fade Made.
SEMINARTEILNEHMER IM CHOR
SPRECHERIN:
Die Formel des Lebenslangen Lernens schaltet die europäischen
Bildungsprogramme gleich. In Europa wird lebenslang gelernt. Das soll überall gleich
sein. Genau wie es die genormte EU-Tomate gibt.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Ja, ich meine, das Lifelong-Learning ist eine Deutungsfigur, die seit den 70er Jahren
eigentlich, das waren wichtige Programme, wo man versucht hat, damals gab es
noch eine sehr starke Verbindung zwischen Entwicklungspolitik und Bildungspolitik,
die ganzen Programme zur Alphabetisierung in den Entwicklungsländern liefen über
den Begriff des Lifelong-Learning. Und damals war das eine Formel für
Emanzipation. In den 70er Jahren. Angleichung der Bildungsstandards. Heute kann
man sagen, dass das Lebenslange Lernen indirekt, das wird dann sehr schön
natürlich mit entsprechenden Formeln verkleidet, letztlich also auch eine, ja, die
Kurzform einer bestimmten Zumutung auch darstellt. Diese notorische Überlastung,
das Gefühl, ich bin eigentlich nie fertig mit meiner Kompetenzbiografie, ich muss
ständig dazulernen. Muss ich mich denn immer beweisen, was soll das denn mit
dieser ganzen Überbeanspruchung, und ich will endlich mal fertig sein. Dass die
Menschen auch das Recht haben zu sagen, nein, ich möchte nicht. Ein Recht des
Nichtlernens. Genauso wie es ein Recht des Vergessens, ein Recht des
Nichtwissens gibt als Mechanismus, um die Privatsphäre zu schützen. Dass man
dann auch sagt, okay, es müssen nicht alle mitmachen. Aber in Bereichen, wenn es
um die Gesundheit, die Arbeit oder wasweißich geht, oder bei den Flüchtlingen, die
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aus Syrien hierher kommen, da wird es sehr schwer. Weil die staatlichen
Institutionen dann einfach sagen, entweder er macht es oder er geht zurück nach
Syrien.
SPRECHERIN:
Die Idee, dass Lebenslanges Lernen mit Emanzipation zu tun haben soll, sei
verkümmert, meint der Sozialpädagoge Dieter Nittel.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Und das macht sich heute tatsächlich vor allem im Berufsleben bemerkbar. Das
Recht auf Autonomie, wo man das Recht hat, auch nein sagen zu können, das ist im
Bereich des Berufslebens sehr schwer, wenn man sagt, nein, ich möchte die
Fortbildung nicht. Weil dann das Damoklesschwert dann droht, in der nächsten
Beförderung eben nicht berücksichtigt zu werden oder als erstes entlassen zu
werden. Wir wissen aus der Personalentwicklung, dass gewisse
Rekrutierungsmechanismen jetzt nicht mehr die sind, dass jemand Leistung zeigt,
sondern eher die Bereitschaft zur Weiterbildung, oder wenn jemand nicht bereit ist,
ein bestimmtes Weiterbildungsprogramm in einer Firma zu absolvieren, dass das ein
Grund ist, das wird nicht offen gesagt, aber ist empirisch erwiesen, jemanden zum
Beispiel früher zu entlassen. Die Weiterbildung ist, multifunktional wird das
eingesetzt, zum Beispiel als Indiz für Loyalität. Dann ist das für den Betrieb ein Indiz
dafür, dass jemand dann auch alles mitmacht.
ATMO SPRACHTRAINING / TRAINER:
Eins, zwei, drei. Wir zählen jetzt mal
und halten mal die Daumen zwischen die Zahnreihen.
SEMINARTEILNEHMER IM CHOR
ATMO ARBEITSAGENTUR
0-TON BERATER / ARBEITSAGENTUR:
Die Kunden fragen oft danach, ich will meine Chancen verbessern, bekomme ich
bitte eine Schulung. Dann sagen wir, ja, ist es denn notwendig?
ANJA KEMPE:
Ja ist klar, das ist ja Steuergeld.
BERATER / ARBEITSAGENTUR:
Ich präzisiere mal und sag’ Versichertengemeinschaft. So. Und da gehen die
Meinungen zwischen denen, die vor uns sitzen und uns nicht selten auseinander.
Weil die sagen, es ist doch wichtig, damit ich mich beruflich weiter entwickeln kann.
Uns geht es aber nicht um eine Aufstiegserweiterungsqualifizierung, von denen es ja
unendlich viele, auch sehr unübersichtlich, am Markt gibt, sondern uns geht es
darum, dass Sie auf dem Arbeitsmarkt einfach mit dem, was Sie können, was Sie
haben, fit auftreten können.
Ich würde an der Stelle vielleicht auch mal nach dem Ausschlussverfahren vorgehen
und sagen, was die Kunden gerne hätten, was wir aber meistens nicht fördern.
Das sind zum einen berufsfeldübergreifende, also nicht berufsspezifische
Weiterbildungen, das ist ganz häufig der Bereich EDV-Kenntnisse, oder man möchte
seine Englischkenntnisse verbessern, da ist das Argument im Regelfall, warum wir
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sagen, wir fördern es nicht, es gibt häufig immer noch genug Stellen, wo Sie diese
Qualifikation nicht unbedingt brauchen.
Klar ist aber, dass meistens die Kunden direkt vor uns sitzen, die sagen, ich möchte
aber, ich hätte gern, ich bräuchte unbedingt. Dazu hab’ ich Lust, das ist notwendig für
mich.
Es ist immer die Frage, was man lernen muss. Also es geht nicht nur um Zertifikat
X,Y und Z. Ich empfehle zum Beispiel auch nicht, noch Zertifikat X, Y und Z zu
machen. Weil das den Arbeitgeber irritieren könnte. Worauf könnte das für einen
Arbeitgeber hindeuten? Dass Sie sich möglicherweise perspektivisch verändern
wollen. Dass er vielleicht gar nicht mehr so lange was von Ihnen hat. Weil Sie zu
breit aufgestellt sind.
SPRECHERIN:
Ein Versicherungsangestellter und Teamleiter berichtet, dass er von seinem
Arbeitgeber den Auftrag bekommen hatte, an einem Seminar zum Thema
‚Arbeitsorganisation’ teilzunehmen. Weil er Schwierigkeiten hatte, das Gelernte
umzusetzen besuchte er ein weiteres Seminar, in dem ihm der Stoff des ersten
Seminars ‚vertiefend erläutert’ wurde. Er führte daraufhin in seinem Team
‚arbeitsorganisatorische Veränderungen’ ein. Doch das Team setzte diese
Veränderungen nicht zufriedenstellend um. Mitarbeiter und Kolleginnen kritisierten
ihn, unter anderem sei seine Körpersprache ‚irgendwie macho-mäßig’. Er besuchte
auf eigene Kosten ein Training in ‚Mitarbeiterführung’. Das Arbeitsklima
verschlechterte sich. Seine Frau hatte die Idee, ‚das ganze Dilemma’ könne daran
liegen, dass er falsch atmet. Ihr sei aufgefallen, er atme nicht ‚aus dem Bauch’. Er
besuchte weitere Kurse und Seminare, wurde dann krank und ein Jahr später
arbeitslos.
ATMO UNI-FOYER
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Es gibt einfach die Forderung, lebenslang zu lernen. Und das bringt natürlich immer
wieder Leute dazu, sich permanent die Frage zu stellen, wie kann ich meinen
Marktwert im Unternehmen erhalten. Und dann ist dieser Druck da, und wer da nicht
mitspringt, der hat verloren.
SPRECHERIN:
Prof. Axel Koch, München, ist Wirtschaftspsychologe. Er ist viel unterwegs, hält
Referate nicht nur an Universitäten, auch in Institutionen der Wirtschaft. Er plädiert
für mehr Realismus und Authentizität in der Mitarbeiterführung und in der
Unternehmenskultur. Unter dem Pseudonym R Punkt Gries schreibt er das Buch
„Der Weiterbildungswahn“. Er gibt kritisches Insiderwissen aus den
Personalentwicklungsabteilungen preis und prangert die ausufernden Forderungen
nach Zusatzqualifizierungen und Optimierungen an. Auf einer Jahresfeier der
Industrie- und Handelskammer in Hamburg platzt die Bombe. R Punkt Gries ist der
Wirtschaftsprofessor Axel Koch. Einige Wirtschaftsvertreter stimmen seinen
Beanstandungen zu. Die Mehrzahl spricht von Nestbeschmutzung.
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Ja gut, da gibt es zwei Lager. Die einen sagen, Firmen müssen sich verändern,
Menschen müssen sich entwickeln, auf der anderen Seite sind Menschen, die gar
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nicht so viel Lust haben, sich zu entwickeln, die gar nicht so viel Lust haben, ständig
zu lernen. Und stellen wir uns vor, wir würden den ganzen Markt der Weiterbildung
einstampfen. Dann gäbe es erstmal eine Betroffenheit am Markt, weil ein großer
Industriezweig einfach wegbricht, weil ganz viele daran verdienen. Das ist eine
Riesenbranche, die würden dann wahrscheinlich sich den Strick nehmen, weil dann
nichts mehr zu tun ist. Das heißt volkswirtschaftlich, da wären eine Menge Leute
arbeitslos. Und es würde ein großes Loch im Steuersäckel entstehen, sprich, die
Wirtschaft würde insgesamt ein Loch aufweisen. Insofern kann die Botschaft nur
lauten, lebenslanges Lernen ist wichtig, Optimierung muss sein, und da verdient eine
große Industrie mit.
SPRECHERIN:
33,5 Milliarden Euro gaben Firmen und Beschäftigte 2014 für Weiterbildung aus, das
sagt die neueste sogenannte Weiterbildungserhebung vom Institut der deutschen
Wirtschaft. Das IW sieht diese Zahl als positive Entwicklung.
Der Wirtschaftspsychologe Axel Koch berichtet aus der Unternehmenspraxis.
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Nehmen wir mal einen Menschen, das war eine Führungskraft, der sollte sich bilden
dahin, dass er nicht so weich ist. Er war sehr menschenorientiert, er wollte sich die
Mitarbeiter auch anhören, und sein Job war jetzt, die Leute dahin zu entwickeln, dass
sie diesen neuen Rollen gerecht werden. Und dann auch zu sagen, okay, wenn du
es nicht schaffst, dann bist du nicht der Richtige. Und er hat das so beschrieben, ich
sollte immer härter werden, ich sollte das kalt durchziehen. Und seine Frau hat zu
ihm gesagt, irgendwie veränderst du dich, du bist nicht mehr der von früher. Und das
war der Moment, wo er gesagt hat, dieses Karussell fahre ich nicht mehr mit, ich
steige da aus, weil, ich werde hier zu was gemacht, was ich nicht bin.
Dazu gehören natürlich zwei. Der eine, der das mit sich machen lässt, und der
andere, der so eine Erwartungshaltung in den Raum setzt. Der, der es mit sich
machen lässt, ist oft in einer Zwickmühle. Er merkt im ersten Moment ja gar nicht,
dass er über eine bestimmte Grenze tritt. Im ersten Moment denkt er noch, dass es
gut ist, das zu tun. Menschen merken das dahingehend, dass sie sich unwohl fühlen,
dass sie das Gefühl haben, sie verbiegen sich, wenn sie jeden Tag wieder so sein
müssen, wie ihnen das das Umfeld vorgibt, also es gibt ein inneres Leiden, einen
dauerhaften Zustand, wo Leute dann auch krank werden. Und diese Grundangst, wer
sich nicht weiterqualifiziert, der stirbt halt weg, das ist sicher das, was da immer
wieder durchschimmert. Und jetzt kommt etwas, was ich Goldenen-Käfig-Effekt
nenne, er beißt in diesen sauren Apfel, lässt sich qualifizieren, aber es ist eine Art
Zwangsentwicklung. Zwang deswegen, weil die Option, es nicht zu tun, nicht so gut
ist. Stirb oder überleb’!
SPRECHER:
Nehmen Sie teil an dem Seminar ‚Autoritäre Führungsstile politisch korrekt verpackt’,
nehmen Sie teil an dem Setting ‚Vom wirkungsvollen Umgang mit schwierigen
Mitarbeitern’, nehmen Sie teil an dem Training ‚Massenentlassungen leicht gemacht’,
nehmen Sie teil an dem Mental-Coaching ‚Von der lahmen Ente zum Kampfhund’,
nehmen Sie teil an unserer Weiterbildung für Hartz-IV-Empfänger. Machen Sie das
nicht, werden wir Ihre Leistungsbezüge kürzen.
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SPRECHERIN:
Ein Industrieschweißer, seit drei Jahren arbeitslos, berichtet, die Sozialarbeiterin
habe kleine gelbe Bälle verteilt. Die sollten die Teilnehmer im Wechsel in die Luft
werfen und zwischen ihre Beine klemmen. Eine Teilnehmerin fragte, wozu das gut
sein soll. Die Sozialarbeiterin schaute sie streng an. Im Folgenden wurde den
Teilnehmern eine Art Memory-Spiel mit bunten Quadraten aus Pappe vorgelegt, um,
wie es hieß, zu testen, wozu die Teilnehmer noch fähig sind. Der arbeitslose
Industrieschweißer erzählt, er sei schon zweimal zu einer solchen Weiterbildung
gezwungen worden.
Seiner Meinung nach war es Beschäftigungstherapie oder Züchtigung.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Es hat diesen Aspekt der Zurichtung. Das ist ein immer wiederkehrendes Muster.
SPRECHERIN:
Dieter Nittel und Peter Rüttgers.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Es hat auch eine Individualisierung zur Folge. Also dass Probleme individualisiert
werden, diese Ideologie, ich bin ja selber schuld und nicht der miese Arbeitsplatz,
unter dem ich leide oder die Mietsituation in meiner Stadt oder ähnliches.´Aber
Pädagogik kann natürlich nichts an objektiven Bedingungen ändern, unter denen die
Leute leben. schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung, schlechte
Wohnung, da ist Pädagogik ja völlig machtlos. Das sind ja alles Dinge, auf die
Pädagogik überhaupt keinen Einfluss hat. Die Pädagogik trägt ja meistens dazu bei,
sich damit abzufinden, sich unter den Bedingungen einzurichten und sich auch noch
weiter anzupassen und nicht, sich zu wehren.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Also jedes gesellschaftliche Problem wird sozusagen zu einem pädagogischen
Problem umdefiniert und zur Sache des Individuums erklärt. Und der Mechanismus
ist so gestrickt, dass man das in die Subjektivität, in die Persönlichkeitsstruktur des
Subjektes selbst hineinkopiert, sodass dieser Mechanismus jetzt nicht mehr dieses
innen und außen, Subjekt und Objekt, sondern Teil der Individualität des
Gesellschaftsmitgliedes selbst ist. Und das ist ein viel wirksamerer Mechanismus als
die klassischen Formen.
ATMO KONZERTSAAL
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Was zunimmt als Trend in der Wirtschaft, ist, dass Unternehmen von ihren
Mitarbeitern fordern, erwarten, dass die sich selbst optimieren.
SPRECHERIN:
Axel Koch, Wirtschaftspsychologe.
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Dass sie sich die ganze Zeit überlegen, bin ich noch für den Markt tauglich, habe ich
noch einen hohen Wert für das Unternehmen, und wenn nicht, dann qualifizieren sie
sich, kümmern sich darum, dass sie wieder interessant sind. Der Lerner, der sich
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selbst optimiert. Und der auch noch in die Zukunft schaut und erkennt, oh da
verändert sich der Markt, da muss ich mich schon rechtzeitig vorqualifizieren. Er
weiß, was ihm fehlt, er sieht seinen Lernbedarf und kümmert sich darum.
SPRECHERIN:
Mit dem Lerner, der seinen Lernbedarf selbst sieht, erscheint der Seminar-Junkie auf
der Bildfläche des pädagogischen Zeitalters.
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Es gibt sicher Menschen, die sind grundsätzlich interessierter, neugieriger als
andere. Die haben vielleicht mehr Spaß, sich was Neues beizubringen, und wenn
das in einer Dosis ist, wo sie ihre Freiheit haben, wie viel das sein kann, dann ist das
auch gut. Das Ganze wird dann druckvoll, wenn Menschen von einem Seminar zum
anderen gehen, da muss man sich noch verbessern, das muss man noch
dazulernen, da muss ich noch besser werden, dann kippt das ganze. Dann fängt es
an, dass der Mensch sich über seine persönlichen Grenzen selbst optimiert. Das
heißt, Leute wandern von A nach B, weil sie was lernen wollen, dann versuchen sie,
das umzusetzen, dann klappt das nicht, dann gehen sie wieder zum Seminar, weil
sie glauben, da können sie sich noch besser optimieren, und dann hat man SeminarJunkies. Die immer wieder gucken, wo gibt’s noch ein Seminar, wo kann ich hier
noch was mitmachen, die gehen überall hin. Boh, ich muss noch ein Seminar
besuchen.
Und das Thema Optimierung des Selbst, das ist ein Feld, das betrifft jeden.
Das fängt oben an der Führungsspitze an, dieser Druck, der ist auf jeder Etage, ob
das die Vorstandsebene ist oder der Mitarbeiter.
ATMO KONZERTSAAL
0-TON MANAGER:
Ich glaube, ich werde schon etwas nervös, muss ich sagen. Ich dachte, die Halle ist
etwas kleiner, momentan bin ich tief beeindruckt. Und ziemlich nervös.
SPRECHER:
Mitarbeiter lernen, einen Stepptanz vor Publikum aufzuführen, sie lernen, in einem
Brennnesselfeld oder im Eismeer zurechtzukommen, sie lernen von der
Körpersprache der Berggorillas, sie lernen, ein Sinfonieorchester zu dirigieren.
ATMO / ORCHESTER SPIELT ‚SCHWÄB’SCHE EISENBAHN’ / SCHLEPPEND
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Ist das eine Illusion, ist das ein Wunschtraum? Es ist ein Wunschtraum, es ist eine
Illusion, zu glauben, ich habe hundert Prozent Mitarbeiter, die lernen und sich selbst
optimieren. Wenn man das so betrachtet, sind das vielleicht 20 Prozent der
Menschen, die so ticken, und natürlich hätte ein Unternehmen gerne hundert Prozent
davon.
ATMO KONZERTSAAL / ORCHESTER / ‚SCHWÄB’SCHE EISENBAHN’ / SEHR
RUMPELIG
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0-TON TRAINER:
Try it at once.
ORCHESTER / ‚SCHWÄB’SCHE EISENBAHN’ / SEHR SCHNELL
0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE:
Wenn man in diesem Rausch drin ist, das ist so ähnlich, als wenn man in einem
Strudel drin ist, man kommt da nicht mehr so leicht raus. Das heißt, das ist sicherlich
dann genau der Punkt, wo man sich das schönreden muss, dass dazulernen was
Tolles ist. Ja das ist richtig. Das heißt, es werden einfach die Informationen
ausgeblendet.
Diesen Absprung zu finden, das ist eben die Schwierigkeit. Da gibt es zwei Dinge,
entweder ich rede mir das schön und sehe, wozu ist das gut, und was hilft mir das
und was kann ich damit erreichen, oder ich sage, ich lasse es bleiben, ihr könnt mich
an die Füße packen.
ATMO DIDACTA
0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE:
Wir machen Zirkus! Und ich bin der Zirkusdirektor!
SPRECHERIN:
Auf der Didacta, in Halle sechs, bietet ein Zirkuspädagoge sein Programm an.
0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE:
Wir machen Kinder, Jugendliche, genauso im Erwachsenenbereich, als Teil von
Managerschulungen, und mit Senioren geht’s auch. Es ist völlig egal, ob Kinder mit
Handicap oder Flüchtlinge, völlig egal.
ANJA KEMPE:
Dann decken Sie ja quasi die gesamte Bevölkerung ab!
ZIRKUSPÄDAGOGE:
Wir bieten für jede Person, für jede Altersspanne, ist letztendlich egal, irgendwas,
jeder findet seinen Platz. Und wir stellen das Zirkusprojekt hier auf der Messe vor,
um eben diese Zirkuspädagogik an den Mann zu bringen und klar zu machen, wie
wichtig das ist.
SPRECHERIN:
An dem Stand des Zirkuspädagogen bleiben viele Besucher stehen.
0-TON FRAU:
Man lernt immer dazu. Ein bisschen kann man immer mitnehmen. Ein bisschen. Auf
jeden Fall. Sonst bleibt man ja auf der Stelle stehen. Und beruflich muss man sich
natürlich auch weiterbilden, sonst kann man da nicht mehr mithalten irgendwann.
Dann ist man eigentlich, kommen ja auch immer junge Kollegen dazu und die
kommen natürlich immer mit neuerem Wissen, und dann weiß man auf einmal nicht
mehr, wo es lang geht. Wenn man sich nicht fortbildet. Deswegen muss ich sehr viel
privat mich umschauen und mache auch sehr viel privat. Wenn man nicht mehr
aktuell ist, wird das natürlich auch in den Betrieben relativ schnell festgestellt und, ja,
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dann hat man auch nicht mehr das Standing, was man eben hat, wenn man aktuell
ist. Die Abstriche sind im Privaten, ich fahre oft auch über’s Wochenende, das ist
nicht so einfach. Das ist Zeit und Geld und auch außerhalb der Dienstzeit. Aber ich
hab’ ja auch einen Anspruch an mich selber. Also ich mach’ mir die Mühe ja nicht
umsonst. Weil, ich möchte ja auch nicht von vorgestern oder vorvorgestern sein.
SPRECHERIN:
Der Zirkuspädagoge legt einen neuen Stapel Flyer an seinem Standtisch aus. Er
selbst hat auch schon viele Kurse, Seminare und Trainings besucht – als Pädagoge.
0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE:
Von Feuerspucken über Glasscherbenartistik, balancieren auf den verschiedenen
Gerätschaften wie Seil oder Kugel, Clownerie, Comedy, Licht- und Tontechnik,
Aufbau von Licht- und Tontechnik, alles, was rund um LKW, Fahrtechnik,
Fahrkünste, Fahrsicherung, Richtmeister, gelernter Richtmeister, um auch
Zirkuszelte aufbauen zu dürfen und zu können, alles, was zum Thema Feuerlöschen,
gehört, das Thema Kommunikation, Verkaufstrainings, Telefonaquise, alles was dazu
gehört, aber auch Atemtechnik, der Umgang mit Teams, Ausbildung von Teams, im
Laufe der Zeit sind das eine ganze Menge Seminare gewesen.
SPRECHERIN:
Mit der Zeit habe er gelernt, dass alles erlernbar sei, berichtet er.
0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE:
Das Privatleben ist natürlich relativ gering, die Anforderungen haben sich ständig
geändert oder sind gewachsen. Und deshalb ist Privatleben natürlich durchaus
möglich, aber gering, weil, es gibt neue Anforderungen, neue Herausforderungen,
neue Bedingungen, und das betrifft mich als Privatperson, zu sagen, man muss sich
ständig weiterentwickeln und den neuen Herausforderungen und Anforderungen sich
stellen. Wenn wir uns nicht weiter schulen würden, dann würde es relativ schnell
gehen, dass andere Leute diesen Weg schneller gehen. Wenn wir uns nicht weiter
entwickeln, dann werden wir über kurz oder lang vom Markt verschwinden.
ATMO DIDACTA / VORTRAG ÜBER MIKRO
SPRECHERIN:
Eine Gruppe junger Leute, zirka fünfzig Männer und Frauen, lauschen interessiert. In
Halle Sieben hält ein Referent einen Vortrag darüber, wie man sich am besten darauf
vorbereitet, einen Vortrag zu halten. Die jungen Leute machen sich eifrig Notizen und
unterstreichen alles, was ihnen wichtig erscheint. Sie schauen nicht links und nicht
rechts. Sie stellen keine Fragen. Sie saugen auf, was ihnen angeboten wird und sie
scheinen sehr geübt darin zu sein. Es ist die erste Generation, die damit aufwächst,
ein Leben lang beschult und trainiert zu werden.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Wenn man das gesamtgesellschaftlich sieht, ist das so, dass diese Zumutung, jeder
muss sozusagen bestimmten Erwartungen, normierten Erwartungen entsprechen,
eine ganz neue Form der Dominanz über Menschen ist.
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SPRECHERIN:
Dieter Nittel, Sozialpädagoge.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Was passiert denn mit den Akten in der Elementarpädagogik, im Kindergarten? Die
neue Generation der Pädagogen lernt ja, sehr genau zu beobachten. Abweichendes
Verhalten oder negative Auffälligkeiten, das wird dann in einer Akte gespeichert. Was
passiert dann, wenn dieses Kind dann den Kindergarten verlässt, was passiert mit
der Akte? Wird die dann weitergereicht an die Schule? Und welches Bild entsteht bei
den Lehrern, wenn sie diese Akte zur Kenntnis nehmen? Gibt es noch die
Möglichkeit, mal neu anzufangen? Also in der bürgerlichen Kultur gab’s das ja mal
irgendwann. Man kann mal ganz neu anfangen. Aber über diese neue Form des
Dokumentationswesens im Kontext des Lebenslangen Lernens, schleppt man immer
bestimmte Dinge, die man verbockt hat immer mit und es wird in einer Weise
etikettiert und vielleicht auch stigmatisiert, die man selbst nicht kontrollieren kann.
Und überall da, wo wir die Gesellschaften des westlichen Typs haben, haben wir
auch diese Formen, ob Sie jetzt in Australien sind oder in den USA oder in
Deutschland, da sieht das mehr oder weniger ähnlich aus. Wo man das Gefühl hat,
1984, George Orwell, ist ein Ponyhof.
SPRECHERIN:
Eine durchpädagogisierte Gesellschaft ist kein Ponyhof, konstatiert der Pädagoge
Professor Dieter Nittel.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Es gibt eine Saarbrücker Firma, die stellt Software für den asiatischen Markt her für
ein bestimmtes Lernportfolio, um sozusagen die gesamte Lernbiografie zu
dokumentieren, dass man die Geschwindigkeit in der Aneignung von bestimmten
Stoffen, Mathematik oder was weiß ich, dass das alles dokumentiert wird in einem
Portfolio an datengestützten Systemen, und damit auch vorhersehbar zu machen
und damit auch kontrollierbar. Und dieses System fängt dann quasi an beim
Kindergarten und geht dann über die verschiedenen Segmente, Schule, Studium bis
in das Erwachsenenalter und dokumentiert die Lernbiografie. Und da kann man dann
sagen, lohnt sich denn jetzt bei dem ein Medizinstudium. Mit dem Hintergrund.
Und das ist nicht Teil eines futuristischen Romans, sondern das ist Realität. Neue
Herrschafts-, Regierungsform, wie Foucault sagen würde.
SPRECHERIN:
Michel Foucault hat neuzeitliche Machtverhältnisse und Disziplinartechniken
analysiert. Er thematisiert, dass Macht auch immer bedeute, die Definitionshoheit zu
haben, die Macht, zu definieren, was die Norm sein soll und wer oder was der Norm
nicht entspricht.
0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE:
Überwachen und strafen ist so eine klassische Untersuchung, wo es darum geht,
dass Foucault auch im Zuge der Modernisierung die Formen der Herrschafts- und
Machtausübung rekonstruiert hat, also die Frage der Beobachtung. Und ein ganz
wichtiger Punkt war der Zusammenhang der Entwicklung der modernen Gesellschaft
und der Generierung von neuem Wissen über Intimsphären, und das als
Mechanismus der neuen Herrschaftsausübung.
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Und überall da, wo sozusagen eine Endgrenzung, also die Pädagogisierung der
biografischen Lebensführung, da denke ich, gibt es unglaubliche, und gerade aus
politischer Perspektive, sehr starke Gefahren. Und das bezieht sich auch auf die
Therapeuten, das ist eine große säkulare Entwicklung, aus der strukturellen
Perspektive sind die Tendenzen der Pädagogisierung und der Psychologisierung,
Therapeutisierung, sind vergleichbar. Ich denke, dass es vielfältige
Überschneidungen gibt zwischen der Therapeutisierung und der Pädagogisierung.
Bin ich fest davon überzeugt.
Aber wenn es günstig ausgeht, werden die Pädagogen auch Sachwalter einer
Endpädagogisierung. Das immer wieder gegen den Strich zu bürsten, diese
Entwicklung. Und das zum Teil ihres eigenen Programms machen. Diese negierende
Perspektive.
ANJA KEMPE:
Ja Ihr Wort in Foucault Ohr.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Tendenziell denke ich, auch wenn man sich Studienzahlen anguckt, dass das Feld
Pädagogik größer werden wird. Davon gehe ich aus. Ja. Noch größer werden wird.
Dass neue Einsatzgebiete erfunden werden, dass neue Qualifikationen erfunden
werden, davon gehe ich aus, ja.
SPRECHERIN:
Die Liste menschlicher Defizite kann unendlich lang sein, wenn es sein muss – meint
der Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers.
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Aus pädagogischer, aus machtheoretischer, aus Professionssicht, werden natürlich
neue Defizite unterstellt oder erfunden werden. Es werden neue Problemgruppen, ja
was werden die, konstruiert, gefunden, entdeckt, wie auch immer, und für die werden
pädagogische Stellen eingerichtet. Also vor dem Problem stehen wir ja, wo kriegen
wir denn jetzt eigentlich die Ratsuchenden her? Also wie macht man plausibel, dass
die unbedingt arbeiten müssen, Menschen beraten, betreuen, begleiten und so
weiter. Wie kann man das machen. Dazu ist es natürlich notwendig, dass überall
immer Mangel und Defizite unterstellt werden. Da werden Defizite gesucht und
Normalität ist verdächtig.
ATMO STRASSE
O-TON ORDNUNGSDIENST:
Wir gehen von morgens bis abends, zu allen Tageszeiten sind wir immer unterwegs.
SCHRITTE
ANJA KEMPE:
Wenn Sie sich jetzt hier umschauen, sehen Sie dann schon Auffälligkeiten?
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O-TON ORDNUNGSDIENST:
Ich sehe schon die Auffälligkeiten hier am Weiher. Sehen Sie den Hund an dem
Kindergarten? Ein kleiner schwarzer Hund. Der streunt jetzt in dem Bereich des
Kindergartens umher. Und da werden wir jetzt mal hingehen.
SPRECHER:
Wie erziehen Sie denn Ihren Hund? Wie tragen Sie denn Ihren Rucksack? Welche
Musik hören Sie denn? Wieso rauchen Sie denn? Mit Ihnen stimmt etwas nicht!
O-TON ORDNUNGSDIENST:
Hallo! SCHRITTE Können Sie sich vorstellen, warum ich Sie anspreche?
FRAU:
Ja wegen der Zigarette.
Ganz genau. Ich bräuchte mal bitte Ihre Personalien.
SPRECHERIN:
Im Sommer sitzen sie an den Tischen vor den Eisdielen. Sie schauen in ihre FrozenJoghurt-Becher und diskutieren ihre Zeitverträge. Und sie besprechen die
Verfassungen ihrer Klienten und Klientinnen, was die und die noch muss, und was
mit dem und dem los ist, und wo man noch mal hin muss und wo noch dringender
Handlungsbedarf ist. Sie sprechen leidenschaftlich und laut. Man könnte das als
institutionalisierten Klatsch und Tratsch im öffentlichen Raum bezeichnen. In einem
Rechtsstaat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung kann man auch sagen, es
ist üble Nachrede.
ABSAGE:
„Sie machen alles falsch!“ Die Pädagogisierung der Gesellschaft.
Ein Feature von Anja Kempe
0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER:
Aber man muss sagen, dass die Pädagogik es natürlich nicht schafft, mit der
Krankenkasse abzurechnen. Das wäre vielleicht der Traum von Pädagogen, dass
man diesen Status erreichen würde.
ABSAGE WEITER
Es sprachen: Sascha-Maria Icks und Bruno Winzen
Technische Realisation und Regie: Anja Kempe
Redaktion: Wolfram Wessels
Südwestrundfunk 2016
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