SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Feature "Sie machen alles falsch!" Die Pädagogisierung der Gesellschaft Von Anja Kempe Sendung: Mittwoch, 16. November 2016 Redaktion: Wolfram Wessels Regie: Anja Kempe Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Feature können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/feature.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Feature sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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MUSIK ANSAGE: „Sie machen alles falsch!“ Die Pädagogisierung der Gesellschaft Ein Feature von Anja Kempe ATMO SPRECHERIN: Die Didacta ist die größte Fachmesse für Bildungswirtschaft in Europa. Sie wird jährlich von rund 100.000 Menschen besucht, hauptsächlich von Leuten, die an Pädagogik, an pädagogischen Programmen, pädagogischen Trainings, Weiterbildungen, Seminaren und Coachings interessiert sind. Die Zahl der Besucher der Bildungsmesse ist in den letzten zehn Jahren um gut 30 Prozent gestiegen. Der Sozialpädagoge mit den Flyern wirft einen zufriedenen Blick auf seinen Messestand. Kurse, Coachings, und „außergewöhnliche Settings“ seien ausgebucht wie nie, Lebenshilfe und Weiterbildungen aller Art begehrt ohne Ende. Lernen könne man immer was, sagen die Leute, irgendwas mitnehmen könne man immer. Ganz Deutschland scheint sich auf einen großen Marsch durch Seminarräume und Trainingsstätten begeben zu haben. Ein Mann steckt einen Flyer in seinen Rucksack. 0-TON MESSEBESUCHER: Ja da mach’ ich schon einiges. Für mein gutes Gefühl. Atemtherapie. Auch Beziehungsgeschichten mit meiner Frau, und verschiedenste Sachen. Kann ich nicht mehr zählen. SPRECHERIN: Zwei Frauen, beladen mit Info-Material, nicken. 0-TON MESSEBESUCHERIN Ja! Weil ich das toll finde! Ich gehe zu vielen Trainings und Coachings! 1 0-TON MESSEBESUCHERIN Ja. Kann ich nicht mehr zählen. Das sind viele. Es gibt ja Leute, die machen das nicht. Die sind dann in ihrer Welt und sind dann aber auch nicht mehr ganz ernst genommen. ATMO ENDE SPRECHERIN: Auch die Anzahl der Pädagogen und Sozialpädagogen ist explodiert. Sie stieg von 151.00 in den 90ern bis zur Jahrtausendwende auf 931.000. Seit 2000 stieg die Zahl der Beschäftigten in sozialen Berufen auf 1,4 Millionen. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Also die Zahl der Tätigen wurde immer mehr. Sozialarbeiter, Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagogen und Diplompädagoginnen und Pädagogen. Und die allermeisten sind ja staatlich bezahlt muss man sagen. Das sind ja keine Privatunternehmer, die werden staatlich bezahlt, das heißt, die werden vom Staat finanziert und dann in der Regel von Wohlfahrtsverbänden eingerichtet. Wie AWO, Caritas oder Diakonie. Hinzu kommen dann noch diejenigen, die keine Stelle zum Beispiel bei Wohlfahrtsverbänden finden und sich selbständig machen als Atemtherapeut, als Coach, als Gestalttherapeut mit beraterischen Dienstleistungen. Atemtherapeut oder Gestalttherapeut oder Coaches, das ist glaube ich im Augenblick ganz in. Lebenscoach oder Berufscoach oder ähnliches. Leute, die frei an den Markt gehen und ihre Dienste anbieten, ja, und hoffen, auf Klientel zu stoßen. SPRECHERIN: Der Dortmunder Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers hat die rapide Vermehrung der Pädagogen und Pädagoginnen untersucht. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Im Grunde kann man sagen, dass fast alle Bereiche des Lebens und alle Bevölkerungsgruppen inzwischen eine spezielle Pädagogik haben. Für die eine spezielle Pädagogik gemacht wird. Verkehrspädagogik, Museumspädagogik, Familienpädagogik, Sexualpädagogik, Vorschulpädagogik, Altenpädagogik, Freizeitpädagogik. ANJA KEMPE: Welche Bereiche sind nicht betroffen? PETER RÜTTGERS: Fällt mir jetzt keiner ein! Würd’ mir jetzt nichts einfallen. ATMO FLÜCHTLINGE LERNEN DEUTSCH / BUCHSTABIEREN SPRECHERIN: Integrationsleistungen in gigantischem Ausmaß sind zu bewältigen. Allein mit der Massenflucht aus den Kriegsgebieten kamen 2015 1,2 Millionen Menschen nach Deutschland. Bis 2017 wird eine Verdreifachung der Zahl prognostiziert. 2 Damit all die Flüchtlinge sich zurechtfinden in unserer Gesellschaft und die deutsche Sprache lernen können, sind in Integrationskursen für jeden Flüchtling 600 bis 900 Stunden vorgesehen. Der Integrationskurs besteht aus einem Sprach- und einem Orientierungskurs. In dem Orientierungskurs werden die deutsche Rechtsordnung, deutsche Geschichte und Kultur, Rechte und Pflichten in Deutschland, Formen des Zusammenlebens in der Gesellschaft und Werte, die in Deutschland wichtig sind, vermittelt, zum Beispiel Religionsfreiheit, Toleranz und Gleichberechtigung. Um das gewaltige Erziehungspensum bewältigen zu können, rufen die zuständigen Institutionen die Pädagogen in ganz Deutschland auf. SPRECHER: „Wir suchen ab sofort Menschen aus pädagogischen Berufen, die gerne mit Flüchtlingen arbeiten möchten. Die Bundesagentur für Arbeit stellt finanzielle Mittel für achtwöchige Einstiegskurse zur Verfügung. Kursstart ist voraussichtlich Anfang November.“ ATMO BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT 0-TON BERATER / ARBEITSAGENTUR: Aus meiner Sicht als Arbeitsvermittler ist der pädagogische Arbeitsmarkt insgesamt aufnahmefähig. Sie brauchen sehr viele Kräfte, und die Beschäftigungsbedingungen sind nicht immer sehr attraktiv. Ich sehe allerdings auch, es sind zunehmend mehr Pädagogen auch in der Privatwirtschaft tätig, dass Pädagogen vermehrt auch in der Privatwirtschaft gebraucht und eingesetzt werden, das heißt, die Pädagogen haben Sie als Bildungsreferenten, Bildungsmanager, Personalentwickler, teilweise auch als Trainer. Dann gibt es noch diese häufig befristeten Projekttätigkeiten, ein großer Anteil im sozialpädagogischen Bereich ganz unterschiedlicher Tätigkeitsfelder wie zum Beispiel jegliche Arten von sozialer Betreuung und Unterstützung, Familienhilfe, Integrationsbegleitung, Betreuungseinrichtungen, Beratungsstellen, aufsuchende Familienhilfe, der Bedarf ist sehr groß, die Beschäftigungsbedingungen sind oft nicht ganz so hervorragend, Thema Beschäftigungsbefristung, niedriges Gehalt. Aber aufnahmefähiger Arbeitsmarkt. Das heißt, sehr gutes Stellenangebot. Nicht umsonst wird das Thema Sozialpädagogik auch als ein Beruf mit entsprechendem Fachkräftemangel gesehen. ATMO ENDE 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Das Leben hat ja funktioniert. Das hat alles geklappt. Auch ohne Pädagogen. SPRECHERIN: Ist die Pädagogisierung der Gesellschaft positiv, fragt der Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Ja wie ist der Mechanismus eigentlich? Es ist ja im Grunde so, man hat plötzlich ein ganzes Heer ausgebildeter Fachkräfte für Pädagogik. Und das kann man auf zwei Seiten sehen. Man kann sehen, die Menschen werden hier nicht alleine gelassen, es ist egal, welches Problem die haben, die werden von Sucht- über Beziehungsprobleme, allgemeine Lebensprobleme ein Angebot finden. Andererseits 3 gibt es natürlich eine ganze Kaste von Experten und Expertinnen, die immer behaupten, sie könnten es besser. SPRECHERIN: Als Reformidee der Sozialpädagogik, speziell der Randgruppenpädagogik, schon einmal angedacht in den 60er Jahren, zementierte der Erziehungswissenschaftler und Leiter des Deutschen Jugendinstituts in München, Thomas Rauschenbach, den Begriff ‚sozialpädagogisches Jahrhundert’, um eine epochale Neuordnung der Pädagogik bezeichnen zu können, die um 2000 begann, qualitativ und quantitativ. Der zunehmende Trend, mehr und mehr Pädagogen und Sozialpädagogen auszubilden und auch einzustellen, sollte die humane, die menschliche Entsprechung einer hoch entwickelten Gesellschaft sein. Die Etablierung einer ‚öffentlichen und organisierten Erziehung’ sollte eine Erfolgsgeschichte werden, ein großer erfreulicher Fortschritt. Immer mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sollten den Menschen zur Verfügung stehen, sollten ihnen behilflich sein, die Lasten und Risiken des Lebens und des Alltags zu bewältigen. SPRECHER: Sozialarbeit ist als ein Produkt der Moderne zu einem unverzichtbaren öffentlichen Instrumentarium zur Lebensbewältigung geworden. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Ich komme, um deine Probleme zu lösen! Früher hätte man gedacht, in der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit, eher Jugendliche bzw Familien in Brennpunkten, also unterprivilegierte Familien mit wenig Zugang zu Geld und Ressourcen, aber inzwischen ist das ja so, dass das Familienangebot ein Angebot ist, das sich auf alle Familien bezieht oder beziehen soll. Menschen betreuen, begleiten und so weiter, und wenn man Familienpädagogik als allgemeines Angebot schafft, muss man ja sagen, dass Familien tendenziell defizitär sind. Und ohne unsere Begleitung würden die Kinder wahrscheinlich sexuell missbraucht, ungewollt schwanger oder krank oder gewalttätig oder drogensüchtig. Unabhängig von der sozialen Situation geht man davon aus, dass Familien so viele Probleme oder Belastungen haben, die durch Fachmenschen bearbeitet werden müssen. Mit Pädagogik, Beratung, Therapie, Begleitung, wie auch immer. Freizeitpädagogik finde ich auch ein eindeutiges Beispiel dafür, wie ein Bereich plötzlich pädagogisch okkupiert wird. Der wird an Land gezogen und dann wird gesagt, wir müssen da freizeitpädagogische Angebote machen. Freizeit mit Familie und ähnliches. Dass man den Leuten nicht selber zutraut, ihre Freizeit sinnvoll oder zufrieden stellend zu gestalten, sondern man meint, man muss die noch begleiten in ihrer Freizeit. Man könnte ja auch sagen, die sind in ihrer Freizeit, um das zu machen, was sie eigentlich wollen. Und dass dadurch neue Standards geschaffen werden. das heißt, jemand, der jetzt nicht mitmacht, sich nicht beteiligt, eher außen ist, dass kulturell neue Standards geschaffen werden. Wo die Menschen das Gefühl haben, an denen muss ich mich orientieren, an die muss ich mich halten. Das ist natürlich nicht rechtlich verbindlich, aber es setzt gewisse Standards und die nehmen definitiv gesellschaftlichen Einfluss. 4 Stellen Sie sich mal vor, Sie sind umzingelt von Müttern, die Eltern-Kinder-Kurse im Vorschulalter besuchen. Oh, das sind aber engagierte Eltern, die machen aber was für ihre Kinder, für die Entwicklung ihrer Kinder, für die Beziehung zu ihren Kindern und so weiter. Und Sie sind jetzt diejenige, und sagen, ich hab’ da keine Lust zu, ich hab’ da keine Zeit zu oder ich sehe es gar nicht. Ich sehe da keinen Sinn drin. SPRECHER: Wir helfen Ihnen, wir beraten Sie, wir unterstützen Sie, wir zeigen Ihnen, wie man einen Kühlschrank putzt. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Das heißt, dass sozusagen so eine Kaste von Experten und Expertinnen für das Leben insgesamt entsteht, die die Maßstäbe setzt. Die den Leuten Maßstäbe aufzwingen, denen sie sich unterzuordnen haben. Da werden für das Leben Maßstäbe gesetzt und sich vielleicht auch gar nicht mehr die Frage stellt, ob das meine Maßstäbe sind, und die auch noch kontrolliert werden. Das heißt, dass der Kühlschrankpädagoge übernächste Woche noch kommt, oh Gott, der steht vor der Tür und guckt, ob ich mich dran gehalten hab’. Also eine Expertenherrschaft im Grunde. Ich greife jetzt hier in eine Familie ein, ich greife in die Intimsphäre ein, wo ich eigentlich gar nichts verloren habe. SPRECHERIN: Was haben Pädagogen mit dem Leben von Menschen zu tun, fragt der Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Also das kann man als machttheoretischen Aspekt sehen, das heißt, es steht nicht im Mittelpunkt, welche Bedürfnisse bei der Bevölkerung angeblich vorherrschen oder nicht, sondern im Mittelpunkt stehen die Bedürfnisse der Pädagogen. Als Gruppe insgesamt, dass man sich dadurch einen sozialen Aufstieg verschafft. Das heißt, ganz viele dieser Studierenden kommen nicht aus Akademikerfamilien. Einstiegsstudium ist typisch, Sozialpädagogik, Sozialarbeit oder Diplompädagogik. Das heißt, man ist familiengeschichtlich ein Einsteiger. Das sind ganz typische Einsteigerberufe, und natürlich auch dann nach dem Studium versuchen, ihrer gesamten Profession zum Aufstieg zu verhelfen. Ist so! SPRECHERIN: Wer in den 90er Jahren studiert hat, sah sie auf den Campuswiesen liegen. Sie schauten in die Bäume. Sozialpädagogik galt als Wischi-Waschi-Fach, und viele, die nicht wussten was und ob sie überhaupt studieren sollten, schrieben sich in dieses Fach ein. Manchmal saßen sie in den Seminaren der Politologen, weil sie irgendwelche Scheine brauchten, in Staatstheorie beispielsweise, und sie schafften es, innerhalb von zehn Minuten das Diskurslevel auf Fußknöchelhöhe herunterzupalavern. Kurz gesagt, Sozialpädagogen galten weder als akademisch solide noch als glaubwürdig, noch konnte sich jemand vorstellen, auch sie selbst nicht, dass die Gesellschaft sie tatsächlich brauchen würde. Das soll heute anders sein. ATMO TANZPÄDAGOGIN / GIBT ANWEISUNGEN MIT MUSIK 5 0-TON BETTINA BIERDÜMPEL / TANZPÄDAGOGIN: Mein Name ist Bettina Bierdümpel, und ich bin Tanzpädagogin. Wir können Fortbildungen für Lehrer, im Kindergarten, in der Schule, wir können in eine Kurklinik gehen, in Altenzentren, mit Senioren, mit Hausfrauen, mit Schwangeren, Behinderten, Behinderte, da gibt’s ja auch die ADAS-Behinderten, die Körperbehinderten, die geistig Behinderten, Menschen mit Migrationshintergrund, Drogenabhängige, Flüchtlinge, allein erziehende Mütter, Frauenhaus, also im Grunde mit allen Menschen, die es gibt. SPRECHERIN: Die Tanzpädagogin Bettina Bierdümpel hat bereits rund 900 Tanzpädagogen und Tanzpädagoginnen ausgebildet. Sie leitet ein tanzpädagogisches Institut in Köln. 0-TON BETTINA BIERDÜMPEL / TANZPÄDAGOGIN: Uns geht es sehr darum, dass Tanz vermittelt wird im Rahmen der kulturellen Bildung. Und wir merken, wir müssen jetzt noch mehr auf die kulturelle Bildung Wert legen, weil das für die Zielgruppen bisher sehr fremd war. Zum Beispiel Tanz in Schulen. Es wird jetzt viel viel mehr in Schulen getanzt, weil wissenschaftlich bewiesen worden ist, dass die Kinder danach besser rechnen können. ATMO 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Wir sind im Prinzip Zeugen eines großen Prozesses, wo wir umstellen von der Art der Vorbereitung auf das Leben auf die Begleitung. Und das wird einiges verändern. Dass man also nicht mehr dem humbold’schen Ideal einer emanzipatorischen Bildung verpflichtet ist. Die Frage ist dann nur, welche Konsequenzen hat das im Hinblick auf die Personen, die wir jetzt ausbilden. SPRECHERIN: Wie schätzt das pädagogische Fachpersonal selbst den Nutzen der fortschreitenden Pädagogisierung der Gesellschaft ein. Dieter Nittel ist Pädagoge, genauer gesagt, er ist Professor am Sozialpädagogischen Institut der Universität Frankfurt. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: In früheren Zeiten hat man bis zum 25 Lebensjahr benötigt, um ein heranwachsendes Gesellschaftsmitglied im Übergang von der Jugend zum Erwachsenenleben auf das gesamte spätere Leben vorzubereiten. Das ist heute anders. Man kann sich das wie eine Batterie vorstellen. In früheren Zeiten war es so, dass man die Batterie aufgeladen hat, um das gesamte weitere Leben bewältigen zu können. Heute ist es so, dass man von diesem Batteriemodus von der Vorbereitung auf die Begleitung umgestiegen ist. Es fängt also bei der pränatalen Pädagogik an. Dass es eine Pädagogik des vorgeburtlichen Lebens gibt. Die ganzen Schwangerschaftskurse. Wie koche ich Spinat. Die Familienbildung. Und es wird dann ganz am Ende noch mal gerahmt im Zuge der Sterbebegleitung. Das ist ein Bereich, wo auch immer mehr Sozialpädagogen in die ganze Hospizarbeit reingehen. In diesem außerpädagogischen Bereich, der ist ja sehr groß, das sind ja erstmal auch ganz harmlose Sachen, dass Maggi-Kochstudio oder ADAC, also alle möglichen Institutionen, die erstmal gar nichts mit Pädagogik zu tun haben, sind dabei, sich sehr 6 stark zu pädagogisieren. Daran kann man diese Pädagogisierung auch messen, dass Pädagogen heute in allen möglichen Arbeitsfeldern, die nicht unbedingt pädagogisch konnotiert sind, tätig sind. Und das ging nur dadurch, dass wir eben da in dem Bereich unglaublich viele Leute auch ausgebildet haben. In Deutschland ist die Betreuungsquote in einer rapiden Geschwindigkeit gestiegen. Und das ist natürlich auch Teil der sozialdemokratischen Ideologie, dass man immer neue Supportstrukturen, immer neue Beratungsstellen, die wollen das ganze Bildungssystem, auch das Erwachsenenbildungssystem mit Beratungsstellen überziehen. Für jedes Problem eine Beratungsstelle. ANJA KEMPE: Warum wollen die das? DIETER NITTEL: Fortschritt. Expansion. SPRECHERIN: Risikogesellschaft. Dafür, dass so etwas wie Massenpädagogik etabliert und institutionalisiert werden konnte, waren und sind die Thesen und Ausführungen des Soziologen Ulrich Beck zugkräftige Argumente. Mit seiner soziologischen Zuspitzung, das Leben in hoch entwickelten Gesellschaften sei gefährlich und kompliziert für die Menschen, wurde sein Buch „Risikogesellschaft“ zum Bestseller und zur Bibel für Sozialarbeiter und Pädagogen. 0-TON TRAINERIN / TANZPÄD.INSTITUT: Find’ ich absolut super! Weil, da gibt’s ganz ganz viel Bedarf. Es gibt Arbeitslose, die Verkäuferin beim Aldi, die Hausfrau, es gibt den Rentner, es gibt den Manager. Der auch Hilfe braucht! ATMO TANZPÄDAGOGIN / GIBT ANWEISUNGEN MIT MUSIK SPRECHERIN: Die Trainerin im tanzpädagogischen Institut gibt Anweisungen. ATMO 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Das ist alles durchpädagogisiert. Vor allem im Gesundheitsbereich, dass die Krankenkassen Druck auf die Kunden ausüben, indem sie zum Beispiel Rauchern ein Raucherentwöhnungsseminar aufdrücken. Und gerade wenn Sie an die Weitergabe von Daten, wenn Sie an diese Gesundheitsuhren denken, da gehen also die ganzen Daten an die Krankenkassen. Die Krankenkassen können diese Daten natürlich auch zur Konstruktion von Lernprogrammen transformieren und sagen, bitte schön, Sie haben also über drei Jahre zu wenig Treppensteigen gemacht, Sie müssen jetzt endlich mal ein Gesundheitswochenende besuchen. Das tangiert beispielsweise auch die Flüchtlinge, jeder der hierher kommt aus Syrien, der muss ja erstmal in einen Integrationskurs. Und ich glaube, die nächste Baustelle der Pädagogisierung, das wird das Alter sein. 7 SPRECHERIN: 20 Millionen Menschen in Deutschland, rund ein Viertel der Bevölkerung, sind älter als 65 Jahre. 2060 werden mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung Rentner und Ruheständler sein. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Also was sollen denn die älteren Menschen, die ja immer mehr auf uns zukommen, die können ja nicht nur alle auf der Parkbank sitzen, sondern die müssen ja auch was Sinnvolles machen. Und dafür braucht man diese Pädagogen wieder. ATMO TANZPÄDAGOGIK 0-TON BETTINA BIERDÜMPEL / TANZPÄDAGOGIN: Die kommen freiwillig! Wir können hier keinen zwingen! 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Meine eigenen Kräfte schwinden dadurch. SPRECHERIN: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, pädagogisch ‚durchgekämmt’ zu werden, welche Spuren hinterlassen solche Bemühungen, fragt der Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Es kann dazu führen, dass man seiner Intuition gar nicht mehr folgt, oder althergebrachten Formen der Problemlösung gar nicht mehr folgt, dass ich denke, ich bin gar nicht mehr adäquat in der Lage, mein Problem zu lösen, weil, es gibt irgendeinen Fachmenschen, die kennen sich mit meinem Leben besser aus, und ich mich dann in der Folge weniger auf mich selbst verlasse. Oder auch nicht mehr traue, eine eigene Entscheidung zu fällen. Weil ich denke, die sind ja gar nicht richtig, oder ich muss die erst legitimieren lassen von einem Fachmenschen, weil ich denke, aha, dann habe ich die richtige Entscheidung gefällt. Also dann atme ich vielleicht auch gar nicht mehr so, wie ich normalerweise atme, nämlich ohne drüber nachzudenken, weil ich nicht mehr selbst weiß, ob ich das auch so mache, wie es gemacht werden muss. ATMO SPRACHTRAINING Die kleine fade Made. Das sagen wir jetzt mal. SEMINARTEILNEHMER IM CHOR SPRECHERIN: Ein Schlagwort geistert durch die pädagogischen Programme, bildungspolitischen Positionspapiere, wirtschaftspolitischen Konzepte und die Köpfe der Menschen, die Formel des Lernens als lebenslange Aufgabe. SPRECHER: Lebenslanges Lernen, das klingt nicht nur gut, das ist auch gut. Lernen ist immer gut für Menschen und lebenslanges Lernen erst recht. Gegen lebenslanges Lernen kann niemand einen ernsthaften Einwand haben. Und wenn doch, dann soll er sich schämen. Pfui. 8 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Zwischen Pädagogisierung und Lebenslangem Lernen gibt es natürlich eine Überschneidung. Weil, Endgrenzung der Klientel bedeutet ja auch, dass man Leute ein Leben lang zu seinen Klienten machen möchte, dass man unterstellt, die müssten immer weiter lernen. SPRECHER: Lernen Sie bitte mehr! Lernen Sie besser, schneller, länger und öfter! Und lernen Sie unbedingt Hochdeutsch. Dann werden Sie es leichter haben im Leben. ATMO / 0-TON TRAINERIN: Die Maade. Also so weit soll der Mund auf sein. SEMINARTEILNEHMER IM CHOR: Maade, faade, schaade. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Das Lebenslange Lernen ist heute erstmal eine bildungspolitisch konnotierte Formel. Man könnte sagen, dass sich in dieser Formel auch die Internationalisierung von Bildungspolitik niederschlägt. Bildungspolitisch deswegen, weil das auch die Formel ist, mit der die europäischen Organe ihre Bildungspolitik organisieren, und auch im Kontext der Weltgesellschaft im Bereich UNESCO redet man nicht mehr von Erziehung und Bildung, sondern man redet von Lebenslangem Lernen. Die absoluten Fürsprecher, die Protagonisten, die benutzen das ja teilweise als Ersatzreligion. Und wenn solche Kuschelbegriffe, solche Container-Begriffe so absolut gesetzt werden, haben sie teilweise so einen Erlösungscharakter. ATMO SPRACHTRAINING Die kleine fade Made. SEMINARTEILNEHMER IM CHOR SPRECHERIN: Die Formel des Lebenslangen Lernens schaltet die europäischen Bildungsprogramme gleich. In Europa wird lebenslang gelernt. Das soll überall gleich sein. Genau wie es die genormte EU-Tomate gibt. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Ja, ich meine, das Lifelong-Learning ist eine Deutungsfigur, die seit den 70er Jahren eigentlich, das waren wichtige Programme, wo man versucht hat, damals gab es noch eine sehr starke Verbindung zwischen Entwicklungspolitik und Bildungspolitik, die ganzen Programme zur Alphabetisierung in den Entwicklungsländern liefen über den Begriff des Lifelong-Learning. Und damals war das eine Formel für Emanzipation. In den 70er Jahren. Angleichung der Bildungsstandards. Heute kann man sagen, dass das Lebenslange Lernen indirekt, das wird dann sehr schön natürlich mit entsprechenden Formeln verkleidet, letztlich also auch eine, ja, die Kurzform einer bestimmten Zumutung auch darstellt. Diese notorische Überlastung, das Gefühl, ich bin eigentlich nie fertig mit meiner Kompetenzbiografie, ich muss ständig dazulernen. Muss ich mich denn immer beweisen, was soll das denn mit dieser ganzen Überbeanspruchung, und ich will endlich mal fertig sein. Dass die Menschen auch das Recht haben zu sagen, nein, ich möchte nicht. Ein Recht des Nichtlernens. Genauso wie es ein Recht des Vergessens, ein Recht des Nichtwissens gibt als Mechanismus, um die Privatsphäre zu schützen. Dass man dann auch sagt, okay, es müssen nicht alle mitmachen. Aber in Bereichen, wenn es um die Gesundheit, die Arbeit oder wasweißich geht, oder bei den Flüchtlingen, die 9 aus Syrien hierher kommen, da wird es sehr schwer. Weil die staatlichen Institutionen dann einfach sagen, entweder er macht es oder er geht zurück nach Syrien. SPRECHERIN: Die Idee, dass Lebenslanges Lernen mit Emanzipation zu tun haben soll, sei verkümmert, meint der Sozialpädagoge Dieter Nittel. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Und das macht sich heute tatsächlich vor allem im Berufsleben bemerkbar. Das Recht auf Autonomie, wo man das Recht hat, auch nein sagen zu können, das ist im Bereich des Berufslebens sehr schwer, wenn man sagt, nein, ich möchte die Fortbildung nicht. Weil dann das Damoklesschwert dann droht, in der nächsten Beförderung eben nicht berücksichtigt zu werden oder als erstes entlassen zu werden. Wir wissen aus der Personalentwicklung, dass gewisse Rekrutierungsmechanismen jetzt nicht mehr die sind, dass jemand Leistung zeigt, sondern eher die Bereitschaft zur Weiterbildung, oder wenn jemand nicht bereit ist, ein bestimmtes Weiterbildungsprogramm in einer Firma zu absolvieren, dass das ein Grund ist, das wird nicht offen gesagt, aber ist empirisch erwiesen, jemanden zum Beispiel früher zu entlassen. Die Weiterbildung ist, multifunktional wird das eingesetzt, zum Beispiel als Indiz für Loyalität. Dann ist das für den Betrieb ein Indiz dafür, dass jemand dann auch alles mitmacht. ATMO SPRACHTRAINING / TRAINER: Eins, zwei, drei. Wir zählen jetzt mal und halten mal die Daumen zwischen die Zahnreihen. SEMINARTEILNEHMER IM CHOR ATMO ARBEITSAGENTUR 0-TON BERATER / ARBEITSAGENTUR: Die Kunden fragen oft danach, ich will meine Chancen verbessern, bekomme ich bitte eine Schulung. Dann sagen wir, ja, ist es denn notwendig? ANJA KEMPE: Ja ist klar, das ist ja Steuergeld. BERATER / ARBEITSAGENTUR: Ich präzisiere mal und sag’ Versichertengemeinschaft. So. Und da gehen die Meinungen zwischen denen, die vor uns sitzen und uns nicht selten auseinander. Weil die sagen, es ist doch wichtig, damit ich mich beruflich weiter entwickeln kann. Uns geht es aber nicht um eine Aufstiegserweiterungsqualifizierung, von denen es ja unendlich viele, auch sehr unübersichtlich, am Markt gibt, sondern uns geht es darum, dass Sie auf dem Arbeitsmarkt einfach mit dem, was Sie können, was Sie haben, fit auftreten können. Ich würde an der Stelle vielleicht auch mal nach dem Ausschlussverfahren vorgehen und sagen, was die Kunden gerne hätten, was wir aber meistens nicht fördern. Das sind zum einen berufsfeldübergreifende, also nicht berufsspezifische Weiterbildungen, das ist ganz häufig der Bereich EDV-Kenntnisse, oder man möchte seine Englischkenntnisse verbessern, da ist das Argument im Regelfall, warum wir 10 sagen, wir fördern es nicht, es gibt häufig immer noch genug Stellen, wo Sie diese Qualifikation nicht unbedingt brauchen. Klar ist aber, dass meistens die Kunden direkt vor uns sitzen, die sagen, ich möchte aber, ich hätte gern, ich bräuchte unbedingt. Dazu hab’ ich Lust, das ist notwendig für mich. Es ist immer die Frage, was man lernen muss. Also es geht nicht nur um Zertifikat X,Y und Z. Ich empfehle zum Beispiel auch nicht, noch Zertifikat X, Y und Z zu machen. Weil das den Arbeitgeber irritieren könnte. Worauf könnte das für einen Arbeitgeber hindeuten? Dass Sie sich möglicherweise perspektivisch verändern wollen. Dass er vielleicht gar nicht mehr so lange was von Ihnen hat. Weil Sie zu breit aufgestellt sind. SPRECHERIN: Ein Versicherungsangestellter und Teamleiter berichtet, dass er von seinem Arbeitgeber den Auftrag bekommen hatte, an einem Seminar zum Thema ‚Arbeitsorganisation’ teilzunehmen. Weil er Schwierigkeiten hatte, das Gelernte umzusetzen besuchte er ein weiteres Seminar, in dem ihm der Stoff des ersten Seminars ‚vertiefend erläutert’ wurde. Er führte daraufhin in seinem Team ‚arbeitsorganisatorische Veränderungen’ ein. Doch das Team setzte diese Veränderungen nicht zufriedenstellend um. Mitarbeiter und Kolleginnen kritisierten ihn, unter anderem sei seine Körpersprache ‚irgendwie macho-mäßig’. Er besuchte auf eigene Kosten ein Training in ‚Mitarbeiterführung’. Das Arbeitsklima verschlechterte sich. Seine Frau hatte die Idee, ‚das ganze Dilemma’ könne daran liegen, dass er falsch atmet. Ihr sei aufgefallen, er atme nicht ‚aus dem Bauch’. Er besuchte weitere Kurse und Seminare, wurde dann krank und ein Jahr später arbeitslos. ATMO UNI-FOYER 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Es gibt einfach die Forderung, lebenslang zu lernen. Und das bringt natürlich immer wieder Leute dazu, sich permanent die Frage zu stellen, wie kann ich meinen Marktwert im Unternehmen erhalten. Und dann ist dieser Druck da, und wer da nicht mitspringt, der hat verloren. SPRECHERIN: Prof. Axel Koch, München, ist Wirtschaftspsychologe. Er ist viel unterwegs, hält Referate nicht nur an Universitäten, auch in Institutionen der Wirtschaft. Er plädiert für mehr Realismus und Authentizität in der Mitarbeiterführung und in der Unternehmenskultur. Unter dem Pseudonym R Punkt Gries schreibt er das Buch „Der Weiterbildungswahn“. Er gibt kritisches Insiderwissen aus den Personalentwicklungsabteilungen preis und prangert die ausufernden Forderungen nach Zusatzqualifizierungen und Optimierungen an. Auf einer Jahresfeier der Industrie- und Handelskammer in Hamburg platzt die Bombe. R Punkt Gries ist der Wirtschaftsprofessor Axel Koch. Einige Wirtschaftsvertreter stimmen seinen Beanstandungen zu. Die Mehrzahl spricht von Nestbeschmutzung. 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Ja gut, da gibt es zwei Lager. Die einen sagen, Firmen müssen sich verändern, Menschen müssen sich entwickeln, auf der anderen Seite sind Menschen, die gar 11 nicht so viel Lust haben, sich zu entwickeln, die gar nicht so viel Lust haben, ständig zu lernen. Und stellen wir uns vor, wir würden den ganzen Markt der Weiterbildung einstampfen. Dann gäbe es erstmal eine Betroffenheit am Markt, weil ein großer Industriezweig einfach wegbricht, weil ganz viele daran verdienen. Das ist eine Riesenbranche, die würden dann wahrscheinlich sich den Strick nehmen, weil dann nichts mehr zu tun ist. Das heißt volkswirtschaftlich, da wären eine Menge Leute arbeitslos. Und es würde ein großes Loch im Steuersäckel entstehen, sprich, die Wirtschaft würde insgesamt ein Loch aufweisen. Insofern kann die Botschaft nur lauten, lebenslanges Lernen ist wichtig, Optimierung muss sein, und da verdient eine große Industrie mit. SPRECHERIN: 33,5 Milliarden Euro gaben Firmen und Beschäftigte 2014 für Weiterbildung aus, das sagt die neueste sogenannte Weiterbildungserhebung vom Institut der deutschen Wirtschaft. Das IW sieht diese Zahl als positive Entwicklung. Der Wirtschaftspsychologe Axel Koch berichtet aus der Unternehmenspraxis. 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Nehmen wir mal einen Menschen, das war eine Führungskraft, der sollte sich bilden dahin, dass er nicht so weich ist. Er war sehr menschenorientiert, er wollte sich die Mitarbeiter auch anhören, und sein Job war jetzt, die Leute dahin zu entwickeln, dass sie diesen neuen Rollen gerecht werden. Und dann auch zu sagen, okay, wenn du es nicht schaffst, dann bist du nicht der Richtige. Und er hat das so beschrieben, ich sollte immer härter werden, ich sollte das kalt durchziehen. Und seine Frau hat zu ihm gesagt, irgendwie veränderst du dich, du bist nicht mehr der von früher. Und das war der Moment, wo er gesagt hat, dieses Karussell fahre ich nicht mehr mit, ich steige da aus, weil, ich werde hier zu was gemacht, was ich nicht bin. Dazu gehören natürlich zwei. Der eine, der das mit sich machen lässt, und der andere, der so eine Erwartungshaltung in den Raum setzt. Der, der es mit sich machen lässt, ist oft in einer Zwickmühle. Er merkt im ersten Moment ja gar nicht, dass er über eine bestimmte Grenze tritt. Im ersten Moment denkt er noch, dass es gut ist, das zu tun. Menschen merken das dahingehend, dass sie sich unwohl fühlen, dass sie das Gefühl haben, sie verbiegen sich, wenn sie jeden Tag wieder so sein müssen, wie ihnen das das Umfeld vorgibt, also es gibt ein inneres Leiden, einen dauerhaften Zustand, wo Leute dann auch krank werden. Und diese Grundangst, wer sich nicht weiterqualifiziert, der stirbt halt weg, das ist sicher das, was da immer wieder durchschimmert. Und jetzt kommt etwas, was ich Goldenen-Käfig-Effekt nenne, er beißt in diesen sauren Apfel, lässt sich qualifizieren, aber es ist eine Art Zwangsentwicklung. Zwang deswegen, weil die Option, es nicht zu tun, nicht so gut ist. Stirb oder überleb’! SPRECHER: Nehmen Sie teil an dem Seminar ‚Autoritäre Führungsstile politisch korrekt verpackt’, nehmen Sie teil an dem Setting ‚Vom wirkungsvollen Umgang mit schwierigen Mitarbeitern’, nehmen Sie teil an dem Training ‚Massenentlassungen leicht gemacht’, nehmen Sie teil an dem Mental-Coaching ‚Von der lahmen Ente zum Kampfhund’, nehmen Sie teil an unserer Weiterbildung für Hartz-IV-Empfänger. Machen Sie das nicht, werden wir Ihre Leistungsbezüge kürzen. 12 SPRECHERIN: Ein Industrieschweißer, seit drei Jahren arbeitslos, berichtet, die Sozialarbeiterin habe kleine gelbe Bälle verteilt. Die sollten die Teilnehmer im Wechsel in die Luft werfen und zwischen ihre Beine klemmen. Eine Teilnehmerin fragte, wozu das gut sein soll. Die Sozialarbeiterin schaute sie streng an. Im Folgenden wurde den Teilnehmern eine Art Memory-Spiel mit bunten Quadraten aus Pappe vorgelegt, um, wie es hieß, zu testen, wozu die Teilnehmer noch fähig sind. Der arbeitslose Industrieschweißer erzählt, er sei schon zweimal zu einer solchen Weiterbildung gezwungen worden. Seiner Meinung nach war es Beschäftigungstherapie oder Züchtigung. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Es hat diesen Aspekt der Zurichtung. Das ist ein immer wiederkehrendes Muster. SPRECHERIN: Dieter Nittel und Peter Rüttgers. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Es hat auch eine Individualisierung zur Folge. Also dass Probleme individualisiert werden, diese Ideologie, ich bin ja selber schuld und nicht der miese Arbeitsplatz, unter dem ich leide oder die Mietsituation in meiner Stadt oder ähnliches.´Aber Pädagogik kann natürlich nichts an objektiven Bedingungen ändern, unter denen die Leute leben. schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung, schlechte Wohnung, da ist Pädagogik ja völlig machtlos. Das sind ja alles Dinge, auf die Pädagogik überhaupt keinen Einfluss hat. Die Pädagogik trägt ja meistens dazu bei, sich damit abzufinden, sich unter den Bedingungen einzurichten und sich auch noch weiter anzupassen und nicht, sich zu wehren. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Also jedes gesellschaftliche Problem wird sozusagen zu einem pädagogischen Problem umdefiniert und zur Sache des Individuums erklärt. Und der Mechanismus ist so gestrickt, dass man das in die Subjektivität, in die Persönlichkeitsstruktur des Subjektes selbst hineinkopiert, sodass dieser Mechanismus jetzt nicht mehr dieses innen und außen, Subjekt und Objekt, sondern Teil der Individualität des Gesellschaftsmitgliedes selbst ist. Und das ist ein viel wirksamerer Mechanismus als die klassischen Formen. ATMO KONZERTSAAL 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Was zunimmt als Trend in der Wirtschaft, ist, dass Unternehmen von ihren Mitarbeitern fordern, erwarten, dass die sich selbst optimieren. SPRECHERIN: Axel Koch, Wirtschaftspsychologe. 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Dass sie sich die ganze Zeit überlegen, bin ich noch für den Markt tauglich, habe ich noch einen hohen Wert für das Unternehmen, und wenn nicht, dann qualifizieren sie sich, kümmern sich darum, dass sie wieder interessant sind. Der Lerner, der sich 13 selbst optimiert. Und der auch noch in die Zukunft schaut und erkennt, oh da verändert sich der Markt, da muss ich mich schon rechtzeitig vorqualifizieren. Er weiß, was ihm fehlt, er sieht seinen Lernbedarf und kümmert sich darum. SPRECHERIN: Mit dem Lerner, der seinen Lernbedarf selbst sieht, erscheint der Seminar-Junkie auf der Bildfläche des pädagogischen Zeitalters. 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Es gibt sicher Menschen, die sind grundsätzlich interessierter, neugieriger als andere. Die haben vielleicht mehr Spaß, sich was Neues beizubringen, und wenn das in einer Dosis ist, wo sie ihre Freiheit haben, wie viel das sein kann, dann ist das auch gut. Das Ganze wird dann druckvoll, wenn Menschen von einem Seminar zum anderen gehen, da muss man sich noch verbessern, das muss man noch dazulernen, da muss ich noch besser werden, dann kippt das ganze. Dann fängt es an, dass der Mensch sich über seine persönlichen Grenzen selbst optimiert. Das heißt, Leute wandern von A nach B, weil sie was lernen wollen, dann versuchen sie, das umzusetzen, dann klappt das nicht, dann gehen sie wieder zum Seminar, weil sie glauben, da können sie sich noch besser optimieren, und dann hat man SeminarJunkies. Die immer wieder gucken, wo gibt’s noch ein Seminar, wo kann ich hier noch was mitmachen, die gehen überall hin. Boh, ich muss noch ein Seminar besuchen. Und das Thema Optimierung des Selbst, das ist ein Feld, das betrifft jeden. Das fängt oben an der Führungsspitze an, dieser Druck, der ist auf jeder Etage, ob das die Vorstandsebene ist oder der Mitarbeiter. ATMO KONZERTSAAL 0-TON MANAGER: Ich glaube, ich werde schon etwas nervös, muss ich sagen. Ich dachte, die Halle ist etwas kleiner, momentan bin ich tief beeindruckt. Und ziemlich nervös. SPRECHER: Mitarbeiter lernen, einen Stepptanz vor Publikum aufzuführen, sie lernen, in einem Brennnesselfeld oder im Eismeer zurechtzukommen, sie lernen von der Körpersprache der Berggorillas, sie lernen, ein Sinfonieorchester zu dirigieren. ATMO / ORCHESTER SPIELT ‚SCHWÄB’SCHE EISENBAHN’ / SCHLEPPEND 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Ist das eine Illusion, ist das ein Wunschtraum? Es ist ein Wunschtraum, es ist eine Illusion, zu glauben, ich habe hundert Prozent Mitarbeiter, die lernen und sich selbst optimieren. Wenn man das so betrachtet, sind das vielleicht 20 Prozent der Menschen, die so ticken, und natürlich hätte ein Unternehmen gerne hundert Prozent davon. ATMO KONZERTSAAL / ORCHESTER / ‚SCHWÄB’SCHE EISENBAHN’ / SEHR RUMPELIG 14 0-TON TRAINER: Try it at once. ORCHESTER / ‚SCHWÄB’SCHE EISENBAHN’ / SEHR SCHNELL 0-TON AXEL KOCH / WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGE: Wenn man in diesem Rausch drin ist, das ist so ähnlich, als wenn man in einem Strudel drin ist, man kommt da nicht mehr so leicht raus. Das heißt, das ist sicherlich dann genau der Punkt, wo man sich das schönreden muss, dass dazulernen was Tolles ist. Ja das ist richtig. Das heißt, es werden einfach die Informationen ausgeblendet. Diesen Absprung zu finden, das ist eben die Schwierigkeit. Da gibt es zwei Dinge, entweder ich rede mir das schön und sehe, wozu ist das gut, und was hilft mir das und was kann ich damit erreichen, oder ich sage, ich lasse es bleiben, ihr könnt mich an die Füße packen. ATMO DIDACTA 0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE: Wir machen Zirkus! Und ich bin der Zirkusdirektor! SPRECHERIN: Auf der Didacta, in Halle sechs, bietet ein Zirkuspädagoge sein Programm an. 0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE: Wir machen Kinder, Jugendliche, genauso im Erwachsenenbereich, als Teil von Managerschulungen, und mit Senioren geht’s auch. Es ist völlig egal, ob Kinder mit Handicap oder Flüchtlinge, völlig egal. ANJA KEMPE: Dann decken Sie ja quasi die gesamte Bevölkerung ab! ZIRKUSPÄDAGOGE: Wir bieten für jede Person, für jede Altersspanne, ist letztendlich egal, irgendwas, jeder findet seinen Platz. Und wir stellen das Zirkusprojekt hier auf der Messe vor, um eben diese Zirkuspädagogik an den Mann zu bringen und klar zu machen, wie wichtig das ist. SPRECHERIN: An dem Stand des Zirkuspädagogen bleiben viele Besucher stehen. 0-TON FRAU: Man lernt immer dazu. Ein bisschen kann man immer mitnehmen. Ein bisschen. Auf jeden Fall. Sonst bleibt man ja auf der Stelle stehen. Und beruflich muss man sich natürlich auch weiterbilden, sonst kann man da nicht mehr mithalten irgendwann. Dann ist man eigentlich, kommen ja auch immer junge Kollegen dazu und die kommen natürlich immer mit neuerem Wissen, und dann weiß man auf einmal nicht mehr, wo es lang geht. Wenn man sich nicht fortbildet. Deswegen muss ich sehr viel privat mich umschauen und mache auch sehr viel privat. Wenn man nicht mehr aktuell ist, wird das natürlich auch in den Betrieben relativ schnell festgestellt und, ja, 15 dann hat man auch nicht mehr das Standing, was man eben hat, wenn man aktuell ist. Die Abstriche sind im Privaten, ich fahre oft auch über’s Wochenende, das ist nicht so einfach. Das ist Zeit und Geld und auch außerhalb der Dienstzeit. Aber ich hab’ ja auch einen Anspruch an mich selber. Also ich mach’ mir die Mühe ja nicht umsonst. Weil, ich möchte ja auch nicht von vorgestern oder vorvorgestern sein. SPRECHERIN: Der Zirkuspädagoge legt einen neuen Stapel Flyer an seinem Standtisch aus. Er selbst hat auch schon viele Kurse, Seminare und Trainings besucht – als Pädagoge. 0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE: Von Feuerspucken über Glasscherbenartistik, balancieren auf den verschiedenen Gerätschaften wie Seil oder Kugel, Clownerie, Comedy, Licht- und Tontechnik, Aufbau von Licht- und Tontechnik, alles, was rund um LKW, Fahrtechnik, Fahrkünste, Fahrsicherung, Richtmeister, gelernter Richtmeister, um auch Zirkuszelte aufbauen zu dürfen und zu können, alles, was zum Thema Feuerlöschen, gehört, das Thema Kommunikation, Verkaufstrainings, Telefonaquise, alles was dazu gehört, aber auch Atemtechnik, der Umgang mit Teams, Ausbildung von Teams, im Laufe der Zeit sind das eine ganze Menge Seminare gewesen. SPRECHERIN: Mit der Zeit habe er gelernt, dass alles erlernbar sei, berichtet er. 0-TON ZIRKUSPÄDAGOGE: Das Privatleben ist natürlich relativ gering, die Anforderungen haben sich ständig geändert oder sind gewachsen. Und deshalb ist Privatleben natürlich durchaus möglich, aber gering, weil, es gibt neue Anforderungen, neue Herausforderungen, neue Bedingungen, und das betrifft mich als Privatperson, zu sagen, man muss sich ständig weiterentwickeln und den neuen Herausforderungen und Anforderungen sich stellen. Wenn wir uns nicht weiter schulen würden, dann würde es relativ schnell gehen, dass andere Leute diesen Weg schneller gehen. Wenn wir uns nicht weiter entwickeln, dann werden wir über kurz oder lang vom Markt verschwinden. ATMO DIDACTA / VORTRAG ÜBER MIKRO SPRECHERIN: Eine Gruppe junger Leute, zirka fünfzig Männer und Frauen, lauschen interessiert. In Halle Sieben hält ein Referent einen Vortrag darüber, wie man sich am besten darauf vorbereitet, einen Vortrag zu halten. Die jungen Leute machen sich eifrig Notizen und unterstreichen alles, was ihnen wichtig erscheint. Sie schauen nicht links und nicht rechts. Sie stellen keine Fragen. Sie saugen auf, was ihnen angeboten wird und sie scheinen sehr geübt darin zu sein. Es ist die erste Generation, die damit aufwächst, ein Leben lang beschult und trainiert zu werden. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Wenn man das gesamtgesellschaftlich sieht, ist das so, dass diese Zumutung, jeder muss sozusagen bestimmten Erwartungen, normierten Erwartungen entsprechen, eine ganz neue Form der Dominanz über Menschen ist. 16 SPRECHERIN: Dieter Nittel, Sozialpädagoge. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Was passiert denn mit den Akten in der Elementarpädagogik, im Kindergarten? Die neue Generation der Pädagogen lernt ja, sehr genau zu beobachten. Abweichendes Verhalten oder negative Auffälligkeiten, das wird dann in einer Akte gespeichert. Was passiert dann, wenn dieses Kind dann den Kindergarten verlässt, was passiert mit der Akte? Wird die dann weitergereicht an die Schule? Und welches Bild entsteht bei den Lehrern, wenn sie diese Akte zur Kenntnis nehmen? Gibt es noch die Möglichkeit, mal neu anzufangen? Also in der bürgerlichen Kultur gab’s das ja mal irgendwann. Man kann mal ganz neu anfangen. Aber über diese neue Form des Dokumentationswesens im Kontext des Lebenslangen Lernens, schleppt man immer bestimmte Dinge, die man verbockt hat immer mit und es wird in einer Weise etikettiert und vielleicht auch stigmatisiert, die man selbst nicht kontrollieren kann. Und überall da, wo wir die Gesellschaften des westlichen Typs haben, haben wir auch diese Formen, ob Sie jetzt in Australien sind oder in den USA oder in Deutschland, da sieht das mehr oder weniger ähnlich aus. Wo man das Gefühl hat, 1984, George Orwell, ist ein Ponyhof. SPRECHERIN: Eine durchpädagogisierte Gesellschaft ist kein Ponyhof, konstatiert der Pädagoge Professor Dieter Nittel. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Es gibt eine Saarbrücker Firma, die stellt Software für den asiatischen Markt her für ein bestimmtes Lernportfolio, um sozusagen die gesamte Lernbiografie zu dokumentieren, dass man die Geschwindigkeit in der Aneignung von bestimmten Stoffen, Mathematik oder was weiß ich, dass das alles dokumentiert wird in einem Portfolio an datengestützten Systemen, und damit auch vorhersehbar zu machen und damit auch kontrollierbar. Und dieses System fängt dann quasi an beim Kindergarten und geht dann über die verschiedenen Segmente, Schule, Studium bis in das Erwachsenenalter und dokumentiert die Lernbiografie. Und da kann man dann sagen, lohnt sich denn jetzt bei dem ein Medizinstudium. Mit dem Hintergrund. Und das ist nicht Teil eines futuristischen Romans, sondern das ist Realität. Neue Herrschafts-, Regierungsform, wie Foucault sagen würde. SPRECHERIN: Michel Foucault hat neuzeitliche Machtverhältnisse und Disziplinartechniken analysiert. Er thematisiert, dass Macht auch immer bedeute, die Definitionshoheit zu haben, die Macht, zu definieren, was die Norm sein soll und wer oder was der Norm nicht entspricht. 0-TON DIETER NITTEL / SOZIALPÄDAGOGE: Überwachen und strafen ist so eine klassische Untersuchung, wo es darum geht, dass Foucault auch im Zuge der Modernisierung die Formen der Herrschafts- und Machtausübung rekonstruiert hat, also die Frage der Beobachtung. Und ein ganz wichtiger Punkt war der Zusammenhang der Entwicklung der modernen Gesellschaft und der Generierung von neuem Wissen über Intimsphären, und das als Mechanismus der neuen Herrschaftsausübung. 17 Und überall da, wo sozusagen eine Endgrenzung, also die Pädagogisierung der biografischen Lebensführung, da denke ich, gibt es unglaubliche, und gerade aus politischer Perspektive, sehr starke Gefahren. Und das bezieht sich auch auf die Therapeuten, das ist eine große säkulare Entwicklung, aus der strukturellen Perspektive sind die Tendenzen der Pädagogisierung und der Psychologisierung, Therapeutisierung, sind vergleichbar. Ich denke, dass es vielfältige Überschneidungen gibt zwischen der Therapeutisierung und der Pädagogisierung. Bin ich fest davon überzeugt. Aber wenn es günstig ausgeht, werden die Pädagogen auch Sachwalter einer Endpädagogisierung. Das immer wieder gegen den Strich zu bürsten, diese Entwicklung. Und das zum Teil ihres eigenen Programms machen. Diese negierende Perspektive. ANJA KEMPE: Ja Ihr Wort in Foucault Ohr. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Tendenziell denke ich, auch wenn man sich Studienzahlen anguckt, dass das Feld Pädagogik größer werden wird. Davon gehe ich aus. Ja. Noch größer werden wird. Dass neue Einsatzgebiete erfunden werden, dass neue Qualifikationen erfunden werden, davon gehe ich aus, ja. SPRECHERIN: Die Liste menschlicher Defizite kann unendlich lang sein, wenn es sein muss – meint der Sozialwissenschaftler Peter Rüttgers. 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Aus pädagogischer, aus machtheoretischer, aus Professionssicht, werden natürlich neue Defizite unterstellt oder erfunden werden. Es werden neue Problemgruppen, ja was werden die, konstruiert, gefunden, entdeckt, wie auch immer, und für die werden pädagogische Stellen eingerichtet. Also vor dem Problem stehen wir ja, wo kriegen wir denn jetzt eigentlich die Ratsuchenden her? Also wie macht man plausibel, dass die unbedingt arbeiten müssen, Menschen beraten, betreuen, begleiten und so weiter. Wie kann man das machen. Dazu ist es natürlich notwendig, dass überall immer Mangel und Defizite unterstellt werden. Da werden Defizite gesucht und Normalität ist verdächtig. ATMO STRASSE O-TON ORDNUNGSDIENST: Wir gehen von morgens bis abends, zu allen Tageszeiten sind wir immer unterwegs. SCHRITTE ANJA KEMPE: Wenn Sie sich jetzt hier umschauen, sehen Sie dann schon Auffälligkeiten? 18 O-TON ORDNUNGSDIENST: Ich sehe schon die Auffälligkeiten hier am Weiher. Sehen Sie den Hund an dem Kindergarten? Ein kleiner schwarzer Hund. Der streunt jetzt in dem Bereich des Kindergartens umher. Und da werden wir jetzt mal hingehen. SPRECHER: Wie erziehen Sie denn Ihren Hund? Wie tragen Sie denn Ihren Rucksack? Welche Musik hören Sie denn? Wieso rauchen Sie denn? Mit Ihnen stimmt etwas nicht! O-TON ORDNUNGSDIENST: Hallo! SCHRITTE Können Sie sich vorstellen, warum ich Sie anspreche? FRAU: Ja wegen der Zigarette. Ganz genau. Ich bräuchte mal bitte Ihre Personalien. SPRECHERIN: Im Sommer sitzen sie an den Tischen vor den Eisdielen. Sie schauen in ihre FrozenJoghurt-Becher und diskutieren ihre Zeitverträge. Und sie besprechen die Verfassungen ihrer Klienten und Klientinnen, was die und die noch muss, und was mit dem und dem los ist, und wo man noch mal hin muss und wo noch dringender Handlungsbedarf ist. Sie sprechen leidenschaftlich und laut. Man könnte das als institutionalisierten Klatsch und Tratsch im öffentlichen Raum bezeichnen. In einem Rechtsstaat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung kann man auch sagen, es ist üble Nachrede. ABSAGE: „Sie machen alles falsch!“ Die Pädagogisierung der Gesellschaft. Ein Feature von Anja Kempe 0-TON PETER RÜTTGERS / SOZIALWISSENSCHAFTLER: Aber man muss sagen, dass die Pädagogik es natürlich nicht schafft, mit der Krankenkasse abzurechnen. Das wäre vielleicht der Traum von Pädagogen, dass man diesen Status erreichen würde. ABSAGE WEITER Es sprachen: Sascha-Maria Icks und Bruno Winzen Technische Realisation und Regie: Anja Kempe Redaktion: Wolfram Wessels Südwestrundfunk 2016 19
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