Predigt am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr, 6.11.16 zu Luthers

Predigt am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr, 6.11.16 zu Luthers Schrift „Von der Freiheit eines
Christenmenschen“ (1520)
Liebe Gemeinde,
Am Montag, dem 31. Oktober, war Reformationstag, und ich habe über die Angst gepredigt. Martin
Luther war – gerade in seiner Jugend – ein ängstlicher Mensch und er hatte auch allen Grund dazu: Er
hatte – wie viele seiner Zeitgenossen - Angst vor den Naturgewalten, Angst vor menschlicher Gewalt
und Angst vor dem gewaltigen Gott.
Wie er von dieser dreifachen Angst losgekommen ist, wie er sich und damit auch viele andere
Menschen befreit von dieser Angst, darüber will ich heute predigen. Ich möchte heute darüber
sprechen, wie er die Freiheit von der Angst entdeckt hat, die Freiheit eines Christenmenschen. Drei
Jahre nach den 95 Thesen hat er eine Schrift verfasst, die sich ausdrücklich mit dieser Freiheit
beschäftigt. Am Anfang dieser Schrift stehen wieder Thesen, diesmal aber nicht 95, sondern nur
zwei:
1. Ein Christenmensch ist einer freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.
2. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Das widerspricht sich natürlich und genau das beabsichtigt Luther. Er entdeckt die Freiheit, ja, aber
entdeckt sie als durchaus anspruchsvoll, ja auch widersprüchlich, aber gerade so als unglaublich
attraktiv. Die Freiheit eines Christenmenschen will gelebt, geglaubt, erkämpft, erlitten und
geschenkt werden. Aber gerade deshalb lohnt es sich für Luther, Christ zu werden oder Christ zu
bleiben.
Es ist Gott, der uns diese Freiheit geschenkt hat. Im Glaubensbekenntnis sagen wir: Ich glaube an
Gott, den Vater. Wir sagen: ich glaube an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn. Wir sagen: Ich
glaube an den Heiligen Geist. Deshalb müssen wir nicht sagen: „Ich glaube an die Macht des
Geldes“. Wir brauchen nicht zu sagen: „Ich glaube an die Macht der Politiker“. Und wir sagen auch
nicht:“ Ich glaube an mich selbst“. Gott will uns frei machen von allen Ängsten, von allen Zwängen,
von allen Abhängigkeiten. Auch heutzutage gibt es so viele Ängste. Gott hat dagegen nur ein Mittel:
er lädt uns ein! Wir sind eingeladen, ihm zu vertrauen. Wir sind niemand untertan, wir sind frei, wir
haben unseren Gott und brauchen nichts anderes.
Darum lasst uns auf zwei Dinge verzichten: auf Gewalt und auf Resignation.
Die Geschichte des Christentums ist voll von Gewalt: Noch lange nach Luther sind Frauen als Hexen
verurteilt und verbrannt worden. Noch lange nach Luther mussten Menschen ihre Heimat verlassen,
weil die Art ihres Glaubens nicht die richtige war. Noch in unserer Zeit wurde die Pastorentochter
Gudrun Ensslin zur Gewalttäterin, weil sie meinte, nur mit Gewalt könne man die Welt verbessern.
Warum gibt es gerade im Zusammenhang von Religion so viel Gewalt? Ich vermute: Weil man so
gerne bei Gottes Sache nachhelfen will. Schon der Prophet Jona ist böse, dass Gott nicht die Stadt
Ninive zerstört. Schon Judas verrät seinen Herrn Jesus wahrscheinlich deshalb, damit dieser endlich
Farbe bekennt und mit Gewalt die Römer aus dem Land wirft. Wenn die Verhältnisse nicht so sind,
wie sie sein sollen, dann muss man doch nachhelfen, dachten die Menschen schon zu biblischen
Zeiten. Und auch in unserer Zeit, so scheint es, wird Gewalt wieder gesellschaftsfähig. Es ist
heutzutage schon fast normal, Hass-Botschaften an Politiker zu schicken. Es wird immer häufiger,
Zugbegleiter zu bedrohen, wenn diese die Fahrgäste kontrollieren wollen. Und wenn damals Gudrun
Ensslin zur Rote-Armee-Fraktion ging, dann lassen sich Mädchen von heute von so genannten
„Islamischen Staat“ anwerben. Martin Luther ermutigt uns, unsere Freiheit nicht auf diese Weise
preiszugeben: Die Botschaft, dass man mit Gewalt die Welt verbessern könnte, sie ist, würde Luther
sagen, sie ist vom Teufel. Und ich gebe ihm Recht!
Verzichten können und sollen wir aber auch auf die Resignation. Gott will nicht, sagt Luther, dass
wir uns in die fromme Wagenburg zurückziehen, er will nicht hören, dass früher alles besser war mit
der Kirche und mit der Frömmigkeit, er will uns nicht im lethargischen Modus des Seufzers: „Ach, das
hat ja doch alles keinen Zweck.“ Letzten Montag, ich habe es in anderem Zusammenhang erzählt,
habe ich einige Konfirmanden von der Schule in Itzehoe abgeholt, damit sie noch rechtzeitig zum
Reformationsgottesdienst am Nachmittag kommen konnten. Und natürlich erzählten sie auf der
Fahrt von der Schule. Sie erzählten von einer Lehrerin, die völlig begeistert ist von ihren Fach. Na,
sage ich, das kam aber auch anstrengend sein, weil sich solche Lehrkräfte manchmal gar nicht
vorstellen können, dass es noch etwas anderes gibt als ihr eigenes Fach, sei es nun Mathematik oder
eine Fremdsprache. Ja, klar, antwortete da eine Konfirmandin, aber völlig irritierend sei es, wenn
eine Lehrkraft nicht von ihrem Fach begeistert ist, das Fach nicht leiden kann, ja richtig frustriert
wirkt. Recht hat sie, die Konfirmandin, und sie liefert uns auch als Christen eine entscheidende
Einsicht: Wir sind frei, uns zu begeistern für Jesus und seine Sache. Was daraus wird, haben wir
nicht in der Hand, das stimmt, aber unsere Begeisterung, unsere Lebendigkeit, unserer Ehrlichkeit
und Echtheit, das alles kann uns keiner nehmen. Nur so können wir wirken!
Wir sind frei und niemand untertan, heißt Luthers erste These, und diese Wahrheit möge uns
schützen vor der Gewalt auf der einen Seite und vor Resignation. Sie mache uns stark gegen
Aggression und auch gegen Depression.
Von hier aus können wir uns nun der zweiten These nähern, die Luther in seiner Schrift gleich
hinterher schiebt: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Wenn wir innerlich wirklich frei sind, wenn wir mit Gott im Reinen sein dürfen, wenn wir uns geliebt
und geborgen fühlen, dann können wir uns mit voller Kraft dieser Welt zuwenden und richtig viel
Gutes tun. Da ist dann ein Drang zu helfen, der aus unserem Innersten kommt. Weil da einer ist, der
einfach Hilfe braucht, dann helfen wir!
In allen Konfirmandengruppen habe ich in dieser Woche von dem Polizeibericht aus der Stadt Essen
erzählt. Dort in Essen betrat ein 82jähriger Mann eine Bankfiliale am Feiertag, um Bankgeschäfte zu
tätigen. Vor Geldautomat und Kontoauszugsdrucker brach er plötzlich zusammen. In den nächsten
zwanzig Minuten kamen vier Leute in die Filiale und keiner hat geholfen, nicht einmal den Notruf
gewählt. Die Überwachungskamera hat das alles aufgezeichnet. Erst der fünfte rief den
Krankenwagen, aber da war es schon zu spät, der Mann ist bald darauf gestorben. Die Konfirmanden
reagierten in sehr erfreulicher Weise empört. Ja, einige wären am liebsten gleich losgegangen, um zu
helfen, einer redete sofort von stabiler Seitenlage und erstaunlich viele hatten schon einen ErsteHilfe-Kurs gemacht. Martin Luther hätte sich sicher auch über diesen Impuls gefreut, dem anderen
zu helfen, einfach weil er Hilfe braucht. Nur das zählt! Mit Luthers Worten formuliert: Ich werde zum
Diener oder zur Dienerin, mache es mir unbequem und gehe auch ein Risiko ein, aber nicht, weil ich
Punkte sammeln könnte bei Gott oder bei meinem Vorgesetzten oder im Freundeskreis, sondern weil
der Hilfsbedürftige mich braucht. Jesus ist kein Richter, der am Ende meines Lebens eine schöne
Bewerbungsmappe für das Himmelreich sehen will. Sondern Jesus liegt da als alter Mann in der
Bankfiliale oder als hungerndes Kind im Kriegsgebiet oder als Psychotiker in der Psychiatrie. Ja, Gott
ist so barmherzig, uns Freiheit zu schenken, und hofft, dass wir dann unsere Freiheit nutzen, um
selber barmherzig zu sein. Unsere Freiheit ist also durchaus anstrengend: Es kommt nun keiner mehr,
weder Gott noch jemand anders und sagt: Du musst jetzt aber mal das oder das machen. Das wäre ja
schön entlastend, denn dann hätte ja jemand anders die Verantwortung: der Bürgermeister, der
Pastor oder die Bundeskanzlerin oder der Papst oder wer auch immer. Luther hat begriffen, dass
Freiheit niemals bequem ist. Für die Barmherzigkeit, für die Menschlichkeit, für die Nächstenliebe
sind wir alle verantwortlich.
Diese Freiheit eines Christenmenschen ermöglicht es dann auch, in einer sehr bunten Gesellschaft
zurechtzukommen. Wir Christen sind ja nur eine Glaubensgemeinschaft unter vielen. Wir brauchen
uns unseres Glaubens nicht zu schämen. Wir können davon reden, wie Gott uns befreit hat. Wir
brauchen Jesus Christus nicht zu verschweigen. Aber wir stehen nicht unter dem Druck, zu beweisen,
dass unsere Religion die Bessere, Fortschrittlichere und damit Überlegene ist. Wir sind geradezu
befreit, uns mit anderen zusammen der Welt zuzuwenden. Wir sind gerufen, um mit Menschen
zusammenzuarbeiten, die guten Willens sind. Wir begegnen den anderen am ehesten dort, wo Hilfe
zu leisten ist. Es kommt dann zu ganz unwahrscheinlichen Begegnungen. Ich weiß noch, wie Pastor
Balozi zu uns nach Deutschland kam. Er hatte anfangs hart zu kämpfen mit der deutschen Sprache.
Auch nach dem intensiv-Sprachkurs in Bochum war er noch nicht sicher. Aber dann bekam er
Sprachunterricht in den Räumen der Itzehoer Moschee. Voller Freude und mit einem leisen
Schmunzeln stellte er fest, wie die Dinge laufen können: dass er, der lutherische Pastor aus Kenia in
ein islamischen Gotteshaus geht, um in Deutschland Deutsch zu lernen. Auch darüber hätte sich
Martin Luther bestimmt gefreut. Gott hat uns unsere Freiheit geschenkt. Wenn wir sie uns durch
Kleinmut und Ängstlichkeit nicht nehmen lassen, dann sind wir auf einem guten Weg. Wir werden
dann segensreiche Erfahrungen machen. Amen.