Bitte, Danke, Tür aufhalten

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Bitte, Danke, Tür aufhalten
Brauchen wir mehr Höflichkeit?
Sonja Striegl im Gespräch mit Rainer Erlinger
Sendung: Freitag, 11. November 2016, 10.05 Uhr
Redaktion: Petra Mallwitz
Produktion: SWR 2016
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TRANSKRIPT
Sonja Striegl:
Herr Erlinger, Sie antworten manchmal ein bisschen verspätet auf E-Mails und
Gesprächsanfragen, das ist meine Erfahrung mit Ihnen. Ist es jetzt unhöflich Sie zu
fragen, ob Sie ein höflicher Mensch sind?
Rainer Erlinger:
Ach nein, das kommt jetzt auf die Gesprächssituation an. Also hier in einem offenen
Gespräch ist das jederzeit möglich und ich bin auch der Meinung, wer sich auf eine
Bühne begibt, muss damit rechnen, dass er auf einer Bühne steht. Und das tut man
mit einem Buch über so ein Thema. Also sagen wir, ich wäre jetzt ein neuer Chef, der
sich vorstellt vor einer Firma, und man würde ihn am ersten Tag damit öffentlich
konfrontieren, dann wäre das natürlich unhöflich, weil man ihn in eine schwierige
Situation bringt. Hier, wenn wir über die Höflichkeit sprechen, ist das etwas
Natürliches und es kommt dazu, ich stehe ja auch dazu, dass ich kein Heiliger bin.
Ich bemühe mich, aber, naja, wer ist schon vollkommen? Ich nicht.
Sonja Striegl:
Es deutet sich schon an, dass es nicht so einfach ist mit der Höflichkeit. Man möchte
vielleicht höflich sein, aber es gibt Bedingungen, die unser höfliches Verhalten oder
unhöfliches Verhalten bestimmen. Was als höflich empfunden wird, ist abhängig auch
vom Gegenüber, von seiner Kultur, von Umständen wie Zeitdruck oder auch
Zeitgeist, sie ist auch abhängig davon, ob sie zwischen den Geschlechtern oder den
Generationen stattfindet. Sie hatten für Ihr Buch „Höflichkeit: Vom Wert einer
wertlosen Tugend“ statt der angepeilten 240 Seiten dann doch 300 gebraucht. Mit
welcher Haltung sind Sie rein in das Thema und wie sind Sie dann rausgekommen
wieder?
Rainer Erlinger:
Es hat sich tatsächlich meine Haltung während des Schreibens dieses Buches leicht
geändert. Ich bin kritischer zur Höflichkeit reingegangen, weil ich die Höflichkeit als
zum Teil etwas sehr Formelles und zum Teil auch als ein bisschen Überkommenes
gesehen habe. Und während ich aber daran gearbeitet habe, hab' ich gemerkt, wenn
man die Höflichkeit trennt von der Etikette, also von dieser wirklich festgelegten und
unabänderlichen Prozedur, und übergeht zu eben diesem Verhalten, in dem der
Respekt zum Ausdruck kommt, dann erkennt man, dass es eben wirklich nicht die
wertlose Tugend ist, sondern wertvoll. Deswegen ist dieser Untertitel auch ein
bisschen die Beschreibung dieses Weges.
Sonja Striegl:
Dass Sie am Anfang überlegt haben, ist das nun eine wertvolle oder eine wertlose
Tugend?
Rainer Erlinger:
Genau, und ich bin beim Schreiben dann immer mehr dazu gekommen, dass es
wirklich wertvoll ist und zwar auf der theoretischen Seite, weil natürlich ein Verhalten,
in dem die Achtung zum Ausdruck kommt, etwas theoretisch wertvolles ist. Aber dass
es auch einen ganz praktischen Wert hat: Ich hab dann auch während des
Schreibens begonnen, ein bisschen mehr auf die Formulierungen in meinen E-Mails
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zu achten – auch wenn es vielleicht nicht immer gelungen ist. Aber vielleicht hilft's
auch, dass ich da jetzt besser dran denke, dann hat's auch wieder was gebracht.
Sonja Striegl:
Eine der beeindruckendsten Kritiken an der angeblichen Tugend Höflichkeit
formuliert der französische Philosoph André Comte-Sponville. Er entlarvt sie als
scheinheilig und zu nichts nutze. Sie zitieren ihn auch in Ihrem Buch.
Rainer Erlinger:
Zitat André Comte-Sponville: „Die Höflichkeit ist die erste Tugend und vielleicht der
Anfang aller Tugenden. Sie ist auch die dürftigste, oberflächlichste, fragwürdigste. Ist
sie überhaupt eine Tugend? Ihre moralische Reputation ist jedenfalls zweifelhaft.
Aber sie schert sich um Moral so wenig, wie die Moral sich um sie. Was ändert es am
Faschismus, wenn ein Nazi höflich ist? Was ändert es an der Schreckensherrschaft?
Natürlich nichts. Und dieses „nichts“ ist für die Höflichkeit bezeichnend. Formtugend,
Etikettentugend, Scheintugend. Anschein einer Tugend und nur Schein.“
Sonja Striegl:
Sie folgen seiner Argumentation nicht wirklich. Warum nicht?
Rainer Erlinger:
Ich glaube, dass ich durch dieses Zitat zu dieser kritischen Haltung am Anfang
gekommen bin. Und dann aber gemerkt habe, dass er ein wenig von einer falschen
Definition ausgeht. Weil, wie er so schreibt: „Was nützt es, wenn ein Nazi höflich ist?“
Wenn er zu allen seinen Mitmenschen höflich wäre, dann wäre es keine
Schreckensherrschaft. Das heißt, was Sponville beschreibt, ist eine Etikette, eine
aufgesetzte Sache. Wenn natürlich jetzt der Nazi in seinen Kreisen besonders
ausgesucht höflich ist, dann nützt es natürlich nichts. Aber trotzdem ist es im
Umgang miteinander - und es ist eine Umgangstugend, daran wird sich nichts ändern
- ist es etwas Positives.
Sonja Striegl:
Sie haben jetzt schon ein paar mal das Stichwort „Etikette“ genannt, um es auch
abzugrenzen von der Höflichkeit. Was meinen Sie da genau?
Rainer Erlinger:
Ich grenze es insofern ab, als ich die Etikette als die Sammlung von feststehenden,
nennen wir es mal, Umgangsregeln sehe. Und ich grenze sie von der Höflichkeit ab,
indem man sagt, die Höflichkeit ist eben dieses Verhalten, in dem die Achtung für das
Gegenüber zum Ausdruck kommt, das heißt sie dient primär dem Gegenüber. Und
dann kann man fragen, wem dient die Etikette? Wem dient es, wenn ich mit dem
richtigen Messer das Essen schneide? Wenn ich die Kartoffeln nicht mit dem Messer
schneide, sondern mit der Gabel zerteile, wie es sein soll? Und dann, wenn man
drüber nachdenkt, merkt man, die dient eher demjenigen, der sich an diese
Etikettenregeln hält, weil er selbst gut dasteht. Und man kann sagen, er spiegelt sich
selbst eigentlich in seiner Etikette, in seiner Perfektheit, aber das dient weniger dem
Gegenüber.
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Sonja Striegl:
Aber Etikette und Benimmregeln hatten ja zu einer gewissen Zeit durchaus ihren
Sinn. Die kommen ja irgendwoher.
Rainer Erlinger:
Die hatten ihren Sinn, sie haben auch tatsächlich heute noch einen Sinn, weil man in
den Vielzahlen der Begegnungen, der täglichen, nicht die Möglichkeit hat jedes Mal
wirklich genau drüber nachzudenken: „Wie soll ich mich jetzt verhalten, um dem
Gegenüber meine Achtung zu zeigen?“ Sondern das kann man dann mit
vorformulierten und festgelegten Verhaltensweisen machen. Historisch ist es
natürlich so entstanden, weil man dadurch auch eine gemeinsame Grundlage zum
Verhalten gefunden hat und sich das entwickeln konnte. Aber ich glaube heute, wir
sprechen ja heute auch in diesem nachhöfischen Sinn von der Höflichkeit, es geht
uns ja nicht mehr drum, auch wenn die Höflichkeit, das Wort, vom Verhalten am Hofe
kommt. Wir sind nicht mehr am Hofe und es geht nicht drum sich so zu verhalten,
dass man beim Fürsten ein besonders guten Eindruck macht, sondern es geht um
ein Miteinander auf Augenhöhe.
Sonja Striegl:
Wie war das denn damals, um ganz kurz dabei zu bleiben, bei dem Blick zurück. Die
Zeit, in der dann zum Beispiel auch Baldassarre Catiglione sein „Il Libro del
Cortegiano“ geschrieben hat?
Rainer Erlinger:
Ja, das ist interessant. Also die zwei großen Benimmbücher aus der Geschichte
eigentlich, die wir kennen, den „Hofmann“ und Knigges „Über den Umgang mit
Menschen“, waren Bücher, die jeweils von Adeligen geschrieben, den Bürgerlichen
zeigen sollten, wie er sich verhalten soll, damit er die Standesgrenzen überschreiten
kann. Von ihrem Ansatz her wollten sie die soziale Mobilität fördern, eigentlich so ein
bisschen, fast so aufklärungsmäßig. Sie haben aber dabei die Etiketteregeln nicht in
Frage gestellt, sondern nur gesagt: „Passe dich genau so an, dann kannst du
aufsteigen.“
Sonja Striegl:
Und diese Etikette-, und Benimmregeln kommen uns heute aufgesetzt und auch
irgendwie recht steif vor.
Rainer Erlinger:
Ja, wenn man sich überlegt, die Höflichkeit soll diese Achtung ausdrücken. Aber was
drückt es denn aus, wenn sich der Höfling vor dem Kaiser bis zum Boden
niederbeugen muss, wenn er vor dem chinesischen Kaiser den Kotau machen muss,
sich auf den Boden werfen. Er erkennt doch eigentlich nur die Macht des Kaisers an
und nicht irgendwie, dass es darum geht, dass hier zwei Menschen miteinander
umgehen.
Sonja Striegl:
Aber was soll es denn bringen, wenn man statt des „du“ erst mal das „Sie“
verwendet? Das ist eine sprachliche Regel, die Sie sehr schätzen, auch das
schreiben Sie in Ihrem Buch, das Zitat hören wir uns an.
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Rainer Erlinger:
„Ich bin ein großer Freund des Siezens. Vor allem in geschäftlichen, beruflichen,
öffentlichen und allen nicht wirklich persönlichen oder vertrauten Situationen. Ich
finde die Konstellation mit dem Siezen angenehm. Sie ist klar, und weil das Siezen
im Deutschen zumindest noch die Standardformulierung ist, beinhaltet es keine
Aussage zum Verhältnis mit dem Gegenüber. Eine Aussage, die man vielleicht auch
gar nicht treffen will, weil man sich nicht gut genug kennt. Zudem halte ich, gerade in
beruflichen und geschäftlichen Umständen, den bekannten Satz für sehr treffend und
wichtig: Es ist leichter „du Arschloch“ zu sagen, als „Sie Arschloch“.“
Sonja Striegl:
Was gefällt Ihnen am „Sie“ statt am „du“?
Rainer Erlinger:
Also das ist sicherlich jetzt kulturell bedingt, weil es bei uns diese beiden Formen gibt
und wir damit eine Unterscheidung haben. Und ich finde, wenn ich jemanden neu
kennenlerne oder nicht gut kenne, will ich mit dem nicht vertraut sein, weil ich's nicht
bin. Ich würde mit einem „du“ eine Vertrautheit vorspiegeln, die ich eigentlich nicht
habe. Und ich finde zunächst, und das ist ja auch eine der großen Vorzüge der
Höflichkeit allgemein, dass sie einen Schutz darstellt. Wenn ich mich höflich verhalte,
muss ich zunächst von mir gar nichts preisgeben. Und wenn man sieht wie viele
Begegnungen man hat mit Menschen, die man nicht kennt, die man nicht
einschätzen kann und so weiter, ist es sehr, sehr sinnvoll und gar nicht böse zu
sagen: „Moment, ich lasse mal meine leichte Abwehr da stehen und erst wenn ich
merke, ich kann diesen Menschen vertrauen, dann öffne ich mich.“ Und die
Höflichkeit bietet eben die Möglichkeit einen derartigen, nennen wir es mal,
Schutzschild zu halten, ohne dass der aggressiv oder bösartig wäre.
Sonja Striegl:
Rettet uns denn die Höflichkeit auch, wenn wir eine tiefe Abneigung gegen jemanden
hegen?
Rainer Erlinger:
Ja, weil wir können auch bei tiefer Abneigung gegen jemanden immer noch
miteinander umgehen. Es kann ja sein, dass Sie Ihren Nachbarn ganz berechtigt
einfach nicht ausstehen können, weil er vielleicht ein Widerling ist. Trotzdem ist er Ihr
Nachbar und Sie begegnen ihm und müssen vielleicht mal fragen wegen irgendwas,
und so weiter. Und dann bietet die Höflichkeit eine Möglichkeit, ohne jede Zuneigung
auf einer gesitteten Art und Weise das zu erledigen, was man miteinander erledigen
muss, weil man nun mal in der Nähe ist und miteinander zu tun hat.
Sonja Striegl:
Das wäre ja jetzt das distanzierte Verhältnis. Kann uns Höflichkeit denn auch im
Streit unter Freunden oder mit Partnern helfen, nicht über die Stränge zu schlagen
oder womöglich in eine Eskalationsspirale zu geraten?
Rainer Erlinger:
Auf jeden Fall. Ich glaube, dass auch da sehr wichtig ist, das ist etwas, was man sich
gar nicht bewusst macht, dass zum Beispiel auch in einer Beziehung die Höflichkeit
etwas sehr Wichtiges und Wertvolles ist. Zum einen, wie Sie es sagen, dass man
beim Streit immer noch das Gegenüber bestehen lässt, dass man das nicht
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niedermacht, sondern dass man versucht auf der sachlichen Ebene zu bleiben und
nicht auf die persönliche zu gehen. Die sachliche kann man immer wieder dann
reparieren, die persönliche sind dann oft Verletzungen. Und es ist wichtig, auch
jenseits des Streits, zu zeigen, dem Partner oder der Partnerin, dass man ihn oder
sie achtet, jeden Tag, dass er nicht zum Möbelstück im Leben geworden ist, dass
jetzt auch so rumsteht. Und da kann ein höfliches Verhalten zeigen: „Ich sehe, dass
du da bist, ich nehme dich wahr und du bist mir auch heute noch jeden Tag etwas
wert.“
Sonja Striegl:
Würde man das als höflich bezeichnen oder vielleicht eher als wertschätzend,
kooperativ, freundlich vielleicht auch?
Rainer Erlinger:
Also ich würde wertschätzend sehr nahe am höflich ansiedeln. Gut, die Achtung ist
etwas noch Neutraleres als das Wertschätzende, aber die Freundlichkeit ist etwas,
was drauf ist. Wenn ich etwas tue, weil ich jemanden mag, dann ist das
Freundlichkeit. Wenn ich etwas tue, weil derjenige oder diejenige auch ein Mensch
ist und es irgendwie selbstverständlich ist, dass man ihn oder sie so behandelt, dann
ist es eben die Höflichkeit.
Sonja Striegl:
Höflichkeit bedeutet aber immer, dass man doch ein bisschen was von der Wahrheit
bei sich behält.
Rainer Erlinger:
Das kann sein, man hat den Eindruck, die meisten Leute sehen immer den
Gegensatz zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit. Und ich glaube aber der große
Gegensatz ist der zwischen Höflichkeit und dem Bedürfnis, zu allem etwas sagen zu
müssen.
Sonja Striegl:
Wie meinen Sie das?
Rainer Erlinger:
Ich muss ja, wenn ich der Meinung bin, jemand hat ein Kleid an, das ihr nicht steht,
dann muss ich zunächst mal dazu nichts sagen. Ich bin ja nicht ein allgemeiner
Geschmacksauskunftsmensch...
Sonja Striegl:
Aber Sie kommen natürlich genau in diese Situation. Es muss nicht unbedingt die
Partnerin sein, es kann die Kollegin auch sein, die Sie dann eben doch fragt: „Guck
mal, ich hab' ein neues Kleid, ich hab' eine neue Frisur.“ Das ist ja quasi der
Klassiker, viele Männer scheuen genau diese Frage. So, wie kommen Sie da raus,
wenn Ihnen die neue Frisur, das neue Kleid eben nicht gefällt und die Freundin oder
Kollegin aber sichtlich stolz ist darauf?
Rainer Erlinger:
Also erstens, die Höflichkeit ist ja eben eine Umgangstugend, das heißt, es geht
immer um auch die Sache „wie“. Man kann dann sagen: „Wenn ich ganz ehrlich bin,
ich mag längere Haare lieber.“ Dann ist's gesagt, dass man die kurzen nicht so mag,
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aber es ist nicht gesagt, dass die hässlich sind. Und das zweite ist, es ist auch ein
Zeichen von Wertschätzung dem Gegenüber, dass man sich die Mühe macht, dann
auch die unangenehme Sache zu sagen. Dass man eben sagt, der ist mir nicht egal,
ich komm' mit einer möglichst eleganten Formulierung wieder raus.
Sonja Striegl:
Ich möchte aber trotzdem nochmal nachhaken, weil ich finde dieser manipulative Teil
der Höflichkeit, der ist ein Problem. Da steckt ein bisschen was von Täuschung
dahinter oder vielleicht auch von Lüge. Hat das auch etwas mit unserem Kulturkreis
zu tun, dass wir da etwas skeptisch sind, wir Deutschen?
Rainer Erlinger:
Ja, also auf jeden Fall. Viele sagen ja auch, dass im Deutschen fast schon
Besessenheit von Aufrichtigkeit im Umgang da ist. Es ist ein Spiel und das muss man
sich klar machen. Und ich glaube das ist auch das, wo man von der Täuschung und
der Unehrlichkeit wegkommt, wenn man erkennt, dass es eben nicht eins zu eins ist,
sondern ein Spiel. Und wenn sich beide Seiten bewusst sind, dass es ein Spiel ist,
und zwar spielen nicht im Sinne von: `es ist nichts wert`, sondern ein Spiel im Sinne
von: `wir halten uns an bestimmte Regeln` und wir wissen, dass das jetzt Regeln
sind, nach denen wir hier vorgehen, Spielregeln. Dann ist eben zum Beispiel ein
Kompliment manchmal als Kompliment zu verstehen, man weiß aber der Inhalt des
Kompliments, wenn ich sage, „ach, Sie sehen jeden Tag jünger aus, seit ich Sie
treffe“, dann wissen wir alle, das kann irgendwie rein logisch nicht der Fall sein, aber
beide wissen, es ist etwas Nettes, was gesagt werden sollte und mehr ist es nicht.
Sonja Striegl:
Wir bewegen uns im Minenfeld der Kommunikation zwischen den Geschlechtern.
Rainer Erlinger:
Ja.
Sonja Striegl:
Da hat sich ja einiges geändert. Das war ja früher auch sehr durchzogen von
Benimmregeln, von Etiketten. Tür aufhalten, in den Mantel helfen, das hat zum Teil ja
auch die Begegnung zwischen Mann und Frau vereinfacht. Nun gilt da nicht mehr so
viel, alles ist offen. Kann die Höflichkeit aber trotzdem helfen, miteinander gut
auszukommen?
Rainer Erlinger:
Auf jeden Fall. Das eine ist diese Ritterlichkeit, dieser Umgang jetzt als Kavalier und
so weiter, hat sicherlich auch wieder historisch einen Sinn, indem die männliche
Aggression dadurch in geregelte Bahnen geleitet wurde gegenüber dem anderen
Geschlecht. Das war also sicherlich historisch ganz sinnvoll. Und jetzt zeigen viele
wissenschaftliche Untersuchungen, dass wenn man auch Versuchsteilnehmerinnen
nur höflich behandelt hat, im Sinne: „Ja, es ist so wichtig, dass eine Dame mit in
unser Team kommt, weil Damen sehr viel mehr soziale Kompetenz haben und
moralisch viel besser sind als die männlichen Kollegen.“ Und dann hat man
anschließend Aufgaben lösen lassen. Und man konnte feststellen, dass viele
Leistungen der Damen, die man so, jetzt würde ich fast sagen, eingelullt hat, nicht
mehr so hoch waren. Und das zeigt, dass durch diese vermeintliche Höflichkeit
gegenüber der Dame, sie in diese Rolle des leicht zurückgezogenen, des Fräuleins
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gedrängt wird und das unbewusst sogar mitmacht.
Sonja Striegl:
Und das macht ja eigentlich auch der galante Gentleman?
Rainer Erlinger:
Genau. Eigentlich macht sich der galante Gentleman die Dame so, wie er sie haben
möchte. Er möchte, sozusagen, die Dame in der Rolle haben, nämlich, in
Anführungszeichen, Weibchen und durch dieses Galante, durch dieses Einspinnen,
spinnt er sie eben in diese Rolle ein.
Sonja Striegl:
Wie machen Sie das mit den Frauen? Welcher halten Sie die Tür auf und welcher
nicht?
Rainer Erlinger:
Ja, ich halte eben allen die Tür auf. Und das ist zum Beispiel eine der schönen
Sachen, die man machen kann, dass man sagt: „Ich mache es gar nicht nach der
Frage, welches Geschlecht ich sexuell präferiere, sondern ich behandle alle höflich.
Ich kann auch einem Mann die Tür öffnen oder einer Frau die Tür öffnen, die Autotür
aufmachen.“ Es soll eben nicht weniger werden, dass man die Dame im Regen
stehen lässt, sondern man kann umgekehrt auch einem Herrn dann den Schirm
halten. Und dann merkt man, dass das Ganze nur so komische Rollenspiele sind und
dann kann man wieder mit diesen Rollenspielen spielen.
Sonja Striegl:
Man kann natürlich auch die Dame darauf hinweisen: „Du bist emanzipiert genug, du
kannst den Fahrradreifen selber aufpumpen, dazu brauchst du nicht mich. Du kannst
eigentlich auch ins Auto einsteigen, ohne dass ich dir die Tür aufhalte.“
Rainer Erlinger:
Aber das wäre die falsche Richtung. Man soll es nicht so sehen, dass man das
demontieren will, sondern man soll umgekehrt sagen: „Ich erkenne, das ist ein
Rollenspiel und ich kann das Rollenspiel als Spiel entlarven, indem ich es auch
gegenüber dem anderen, nicht begehrten Geschlecht, so mache.“
Sonja Striegl:
Rollenerwartungen gibt es auch in der Kommunikation zwischen den Generationen,
zwischen Jüngeren und Älteren. Da gibt es auch eigentlich den Klassiker, die
Situation im Bus oder in der U-Bahn. Eine ältere Person kommt herein, alle Plätze
sind belegt und eine jüngere steht auf und bietet den Platz an. Das ist
wahrscheinlich, höflich und zuvorkommend gemeint und trotzdem kann da was
schiefgehen.
Rainer Erlinger:
Jaja, ganz deutlich. Ich meine, es ist ganz interessant, dass ich in meiner Kolumne
mit den Leserfragen zu Alltagsmoral...
Sonja Striegl:
Im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“.
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Rainer Erlinger:
Genau, ja. Dass ich da relativ häufig diese Frage bekomme, wie man damit umgeht
und zwar oft mit dieser, „ja aber damit stemple ich doch jemanden als alt ab“. Und
dann habe ich darauf geantwortet und habe ihm diese Problematik, dass das
eigentlich ein ganz typisches Problem der Höflichkeit ist, weil man eben durch die
Vielzahl der Situationen, die man hat, kann man nicht die einzelne Situation perfekt
lösen. Man kann nur so eine allgemeine Regel aufstellen und sagen: Älteren
Menschen bietet man Platz an. Dann hat man zwar ein paar Möglichkeiten, erstens
muss man das Alter schätzen, was dann schon mal falsch sein kann und dann muss
man aus dem Alter auf eine Rüstigkeit oder auf eine körperliche Gebrechlichkeit
schließen – erst die würde dann berechtigen, dass man den Platz frei macht, was
man, wenn man böse ist, als Vorurteil bezeichnen müsste. Dass man sagt: „Aus der
Tatsache, dass jemand älter ist, schließe ich, dass er gebrechlich ist.“ Und es kam
eine Vielzahl von Zuschriften und es war nur eine einzige, die gesagt hat: „Nein, das
macht man immer.“ Alle anderen Zuschriften, und das waren eben Zuschriften von
Lesern von sechzig, siebzig aufwärts bis weit über achtzig, die eben geschrieben
haben, sie wollen nicht abgestempelt werden. Und eine Leserin mit Ende achtzig, ich
weiß noch, hat so einen wunderschönen Brief geschrieben: „Ach, wissen Sie, die
Eitelkeit altert halt doch langsamer als der Körper.“
Sonja Striegl:
Das heißt, Sie stehen jetzt gar nicht mehr auf, wenn Sie Bus fahren?
Rainer Erlinger:
Doch, ich tue es natürlich. Ich schaue, noch schlimmer ist es ja, wenn man für eine
Schwangere aufsteht und dann ist sie nicht schwanger, dann wird’s natürlich...
Sonja Striegl:
Das ist peinlich!
Rainer Erlinger:
Man muss es ja nicht dazu sagen, dann hat man es halt einfach getan. Man muss
damit leben, dass man vielleicht etwas falsch macht, man kann sich nur bemühen
etwas richtig zu machen, eine Garantie gibt es nicht.
Sonja Striegl:
Werden wir unhöflicher, je deutlicher wir werden wollen?
Rainer Erlinger:
Es werden die meisten, weil sie, wenn sie deutlich werden, meinen, sie müssen,
sozusagen schreien. Sie müssen das irgendwie hinwerfen, dem anderen ins Gesicht
werfen.
Sonja Striegl:
Auch drastischer werden.
Rainer Erlinger:
Drastischer werden. Das ist es aber nicht. Ich kann doch deutlich, sehr, sehr klar auf
die Sache kommen, ohne irgendwelche Umschweife, und dabei höflich bleiben,
indem ich sachlich bleibe und nicht persönlich werde.
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Sonja Striegl:
Kann denn schon ein einziges Wort die Situation verändern? Ich denke jetzt an das
Wörtchen „bitte“.
Rainer Erlinger:
Ganz sicher, also das Wörtchen „bitte“ ist etwas, was wirklich die Situation verändert.
Wo man's ganz deutlich bemerkt, ist in einer Gaststätte beim Service. Dass man um
etwas bittet bei der Bestellung, ist etwas anderes als es anzuordnen und den
anderen sozusagen zu schicken oder zu rufen.
Sonja Striegl:
Sie hatten da ja eine persönliche Begegnung, erzählen Sie doch mal, was da war mit
einem Freund, der in einem Bistro oder Café arbeitet.
Rainer Erlinger:
Ja genau, ich war in einem Café in Berlin und da hat ein Freund gearbeitet und dann
war seine Schicht vorbei und wir saßen am Tresen und haben über das Bestellen
gesprochen. Und er meinte, und das habe ich inzwischen festgestellt, das sagen fast
alle Leute, die im Gastrobereich arbeiten, im Servicebereich: Es gehört zu jeder
Bestellung und zu jedem Wunsch ein „bitte“. Und ich habe dann am Anfang gezögert
und dachte, man ist doch dann in einem Geschäftsverhältnis, das ist doch eigenartig,
ich zahl' ja auch nachher dafür. Und ich hab' dann überlegt, dass ich selbst eher
fragend bestellen würde, „könnte ich einen Kaffee haben?“, in der Art. Und da meinte
er: „Nein, da gehört noch ein „bitte“ dazu.“ Und ich war am Anfang etwas irritiert und
inzwischen gebe ich ihm vollkommen recht. Weil nämlich dieses „bitte“ zeigt, dass
man zwar als Gast seinen Wunsch äußert, man aber durch das „bitte“ zeigt, dass
man zwar die Sachleistung ordert, aber den Menschen trotzdem als Menschen
achtet und auf gleicher Ebene behält. Und ich finde, dass dieses „bitte“ und das
„danke“, und auch wenn man ein Geschäft verlässt, sich nochmal zu bedanken bei
dem Personal im Geschäft, bringt das genau zum Ausdruck und verändert die
Situation.
Sonja Striegl:
Da sind wir wieder bei dem Aspekt, dass Höflichkeit etwas mit Achtung des
Gegenübers zu tun hat.
Rainer Erlinger:
Genau. Es geht immer um diesen Punkt und man zeigt eben an der Stelle: „Ich achte
es und ich beachte es.“
Sonja Striegl:
Und die Höflichkeit hat nichts mit persönlichen Gefühlen füreinander zu tun. Das
finde ich auch einen wichtigen Aspekt. Ob wir jetzt die Verkäuferin mögen oder nicht
oder den Kellner mögen oder nicht, ist völlig irrelevant. Wir können trotzdem, oder
sollten trotzdem, „danke“ und „bitte“ sagen. Und es gibt natürlich auch einen Aspekt
bei der Höflichkeit zwischen den Kulturen, in dem die Frage nach den persönlichen
Gefühlen eine Rolle spielt, auch dazu haben wir ein Zitat ausgesucht.
Rainer Erlinger:
„Den Fremden zu begrüßen, auch wenn man nicht unbedingt begrüßt, dass er
kommt, dürfte eine der schönsten Seiten der Höflichkeit sein. Im Falle der Flüchtlinge
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im Herbst 2015 in Deutschland war das „Refugees Welcome“ sicher ehrlich und
herzlich gemeint. Aber auch wenn man der Meinung wäre, dass es schon zu viele
sind, dass man keine weiteren aufnehmen sollte, würde die Höflichkeit fordern sie zu
begrüßen und, so paradox es klingen mag, willkommen zu heißen. Meines Erachtens
ist das gerade einer der großen Vorzüge der Höflichkeit, dass sie nicht von der
persönlichen Zuneigung abhängt. Sie hängt auch nicht davon ab, wie großzügig man
ist oder welche Rechte man dem Gegenüber einräumen will.“
Sonja Striegl:
Das beschäftigt ja nun ganz Deutschland seit Monaten, die Frage, wie wir mit
Flüchtlingen umgehen. Beziehen Sie sich da nicht auf ziemlich alte
Gastgeberregeln?
Rainer Erlinger:
Jaja, das sind die ganz archaischen Regeln der Gastfreundschaft, der Gast war
immer heilig, oder ist es in vielen Kulturen. Aber ich glaube, es ist etwas
Grundsätzliches eben, dass man sagt, die Höflichkeit ist zu trennen von dem
Inhaltlichen. Ich kann jemandem sagen: „Es tut mir leid, wir nehmen Sie nicht auf.“
Und ich finde zum Beispiel auch, da ist dann das „Sie“ wieder etwas ganz Wichtiges,
also, dass man dann sagt: „Tut mir leid, wir nehmen Sie nicht auf.“ Aber man
behandelt diesen Menschen in der Zeit mit vollkommener Höflichkeit, wie jeden
anderen Menschen, das ist etwas ganz, ganz Wichtiges.
Sonja Striegl:
Wann ist es denn gerechtfertigt oder sogar geboten, unhöflich zu werden?
Rainer Erlinger:
Nach meiner Vorstellung von Höflichkeit - das Verhalten, in dem die Achtung zum
Gegenüber zum Ausdruck komm: Nie. Es muss immer dieses Grundprinzip bleiben.
Egal was passiert, ich achte das Gegenüber als Mensch. Ich kann die Freundlichkeit
vollkommen wegnehmen, aber es muss immer noch bleiben, da ist ein Mensch und
als Mensch muss ich ihn achten.
Sonja Striegl:
Trotzdem gibt es Situationen in denen auch Sie unhöflich werden, Herr Erlinger.
Hand aufs Herz, das kann man sogar nachlesen in Ihrem Buch, wissen Sie, welche
Stelle ich meine?
Rainer Erlinger:
Nein, weiß ich... Ach doch, nein, wahrscheinlich die Situation, wo ich dann sehr
deutlich werde. Als ich sage: „Jetzt lass mal das Rumreden um den Brei und jetzt
kommen wir mal zur Sache.“
Sonja Striegl:
Wenn es zu lange dauert beim höflichen Smalltalk.
Rainer Erlinger:
Sagen wir so, wenn der höfliche Smalltalk dazu dient, irgendwie Dinge
wegzuschieben oder sozusagen wegzureden. Das man einfach sagt: „Schluss jetzt.“
Ich halte das aber nicht für unhöflich, sondern nur eben für diesen Entzug der
Freundlichkeit, der dann eben bis zu diesem Punkt geht, dass, ich sag' ja jetzt nicht,
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„du, quatsch mal nicht so viel“, irgendwie so was, da würde es jetzt unhöflich werden.
Sondern ich sage: „Schluss jetzt mit dem netten Smalltalk, jetzt müssen wir aber zur
Sache kommen. Punkt.“
Sonja Striegl:
Herr Erlinger, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Rainer Erlinger:
Ich bedanke mich bei Ihnen.
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