Sperrfrist: Redebeginn. Es gilt das gesprochene Wort. Begründung der Jury Dr. Karen Horn Vorsitzende der Jury des Freiheitspreises Verleihung des Freiheitspreises 2016 an Kaspar Villiger Samstag, 12. November 2016, 11.00 Uhr Paulskirche Frankfurt (10 Minuten) 1 Sehr geehrte Damen und Herren, als Vorsitzende der Jury des Freiheitspreises darf auch ich Sie dieses Jahr wieder hier in der Paulskirche begrüßen, an diesem für die Freiheit so unvergleichlichen historischen Ort. Zum sechsten Mal vergibt die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hier diesen Preis, mit dem die Absicht verbunden ist, eine Persönlichkeit zu ehren, die Impulse für die Entwicklung einer liberalen Gesellschaft geleistet hat und damit zur Fortentwicklung freiheitlicher Ziele und Werte auf politischem, publizistischem, wissenschaftlichem, kulturellem oder wirtschaftlichem Gebiet beiträgt. Zum sechsten Mal – das heißt, wir feiern Zehnjähriges. Gestatten Sie mir, uns alle dazu zu beglückwünschen. Das ist aber auch ein Anlass, um noch einmal einen Blick zurück zu wagen, den Blick auf die politische Großwetterlage der zurückliegenden fünf Freiheitspreise. Gerade weil wir nicht im hektischen Jahresturnus, sondern nur alle zwei Jahre zusammenkommen, können wir in dieser Perspektive umso besser, in geraffter Form, die Linien der mittelfristigen Entwicklung rund um die Freiheit als unserem Anliegen erkennen. Vor zehn Jahren ehrten wir den früheren deutschen Außenminister HansDietrich Genscher und erfreuten uns noch einmal an jenem politischen Großereignis, das dem 20. Jahrhundert auf den letzten Metern noch einen aus freiheitlicher Perspektive außergewöhnlich ermutigenden Stempel aufgedrückt hat: die Öffnung des Eisernen Vorhangs. Düsterer sah es schon 2008 aus, als wir den Schriftsteller Mario Vargas Llosa auszeichneten, vor dem Hintergrund der gerade ins Rollen gekommenen internationalen Finanzkrise, die uns eine verstärkte Sicherheitssehnsucht und einen neuen staatlichen Interventionismus 2 einbrachte statt endlich besserer Ordnungspolitik. Im Jahr 2010 lenkten wir mit der Preisverleihung an die Publizistin und Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek den Blick auf die Integrationsdebatte. Unser Wunsch war es, eine fundierte Auseinandersetzung zu befördern, in wachsamer Sorge um die Freiheit, ohne unproduktive Zuspitzungen. Zwei Jahre später, 2012, setzten wir mit dem Philosophen Wolfgang Kersting einen weiteren Akzent zugunsten des Bemühens um gedankliche und diskursive Präzision. Die Zeitgeschichte hielt damals für uns die Arabellion bereit, in die wir eine zaghafte, bis heute unerfüllte Hoffnung setzten. Als wir dann letztes Mal, 2014, die südafrikanische Politikerin Helen Zille ehrten, lief bereits die russische Aggression in der Ukraine und die Gräuel des sogenannten Islamischen Staats breiteten sich aus. Und heute? Nichts davon ist bereinigt, nichts ist geklärt, nichts ist gelöst, im Gegenteil, eigentlich hat sich alles nur noch weiter verschärft, das Meinungsklima wie die geopolitische Lage und der Terror. Aus freiheitlicher Perspektive stehen wir heute schlechter da denn je. Vor zehn Jahren hätte ich nicht vermutet, dass wir uns jemals so wie heute in einer Situation befinden würden, in der naive Staatsgläubigkeit auf der einen Seite einem mindestens ebenso naiven, nun aber restlos destruktiven Hass auf die politischen Institutionen freiheitlicher und rechtsstaatlicher Demokratien auf der anderen Seite gegenübersteht. Dass der hohe Wert der Freiheit, der jeden einzelnen Menschen in seiner ganzen Würde in den Mittelpunkt allen Nachdenkens über die Ordnung des gesellschaftlichen Miteinanders stellt, nun auch noch unter den Beschuss durch reaktionäre Strömungen geraten würde. Dass Nationalismus und Isolationismus wieder mit Macht hervorbrechen, ebenso wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz. 3 Ich hätte es mir nicht vorstellen können, dass heute so viele gute Begründungen der offenen Gesellschaft an Ignoranz zerschellen und wir stattdessen die hässlichen Fratzen zu besichtigen bekommen, derer die Menschheit auch in unserem unmittelbaren Umfeld fähig ist. Dass wir nunmehr in ein „postfaktisches“ Zeitalter eingetreten zu sein scheinen, in dem sich viele Menschen an rasanten Verschwörungstheorien ergötzen, die in ihren rechten und linken Extremen fast gleichlautend sind und angesichts derer unsere Suche nach rationalen Gründen für das Entgleisen viel zu großer Teile unserer westlichen Gesellschaften so rührend erscheint wie es am eigentlichen Punkt vorbei geht. Wirtschaftliche Unsicherheit als gefühlte Folge der Globalisierung, Überfremdungsängste als Kehrseite der Zuwanderung, das Gefühl von Kontrollverlust angesichts des nicht immer erfolgreichen Handelns supranationaler Institutionen wie der Europäischen Union – darum geht es längst nicht mehr. Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg müssen wir uns wieder neu vor Augen führen, wie es aussieht, was es bedeutet und welche Folgen es haben kann, wenn auf dem politischen Markt Verführer ihr unternehmerisches Talent ausleben. Wenn sie eine Klientel und eine an niedrige Instinkte appellierende Befindlichkeit generieren, die sie dann wiederum aktiv bewirtschaften können. Wenn sie mit einem breiten Fächer an polarisierenden Botschaften und Boshaftigkeiten den öffentlichen Diskurs vergiften, die Menschen an Lügen gewöhnen und sie aufhetzen, sehr wohl wissend, dass den einzelnen Heißsporn auf Facebook oder Twitter wie an der Wahlurne seine persönliche kleine Destruktivität nichts kostet, die Summe ihnen aber in die Hände spielt. Im Ergebnis wird schon heute „die freie Welt von Lähmung und Spaltung und Zerfall geplagt“, wie der F.A.Z.-Herausgeber Berthold Kohler am Wochenende vor den Präsidentenwahlen in Amerika sorgenvoll schrieb. 4 Was nun hat all das mit unserem heutigen Preisträger zu tun? Eine ganze Menge, auch wenn selbst er natürlich alle diese Übel nicht mit leichter Hand kurieren kann. Doch der langjährige Schweizer Bundesrat und zweimalige Bundespräsident Kaspar Villiger ist das wohltuende Gegenstück zu diesen gefährlichen politischen Unternehmern, von denen ich gerade sprach. Er ist alles andere als ein politischer Verführer, von denen es durchaus auch in der Schweiz einige Exemplare gibt. Villiger jedoch ist ein besonnener, verantwortungsbewusster Liberaler, ein Demokrat mit tiefer humanitärer Gesinnung. So robust und tatkräftig, wie der studierte Maschinenbau-Ingenieur und frühere Unternehmer ist, hat er jedoch in seiner politisch aktiven Zeit durchaus nicht aus dem Bauch heraus gehandelt und schon gar nicht im Dämmerlicht des postfaktischen Raums zu agieren oder zu agitieren gesucht. Villiger, der in jungen Jahren gern Wissenschaftler geworden wäre, stellt vielmehr höchste Ansprüche an seinen Kopf, an die Erkenntnis und die Vernunft. Wie nur wenige andere Menschen im politischen Geschäft ist er ein sorgfältiger, tiefgründiger Denker, der stringent und abgewogen zu begründen vermag, wofür er sich verwendet. Er denkt langfristig und solide, er ist offen und flexibel, er ist ein Freund von Reformen. In seine Amtszeit als Finanzminister fiel 2003 die Einführung der berühmten Schweizer Schuldenbremse, die uns auch in Deutschland inspiriert hat. Kaspar Villiger ist dabei ein Politiker, der auf Aufklärung setzt und sich bis heute um sie verdient macht, wobei er auch dem fundamentalen Wertediskurs nicht aus dem Weg geht, vor dem viele Pragmatiker kneifen, ohne den jeder politische Interessenausgleich im normativen Vakuum stecken bleibt. Es ist mithin auch kein Zufall, dass gerade er als Bundespräsident im Jahr 1995 mit seiner Bitte um Verzeihung für die 5 Flüchtlingspolitik der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland Geschichte schrieb. Lassen Sie mich unseren Preisträger selbst zitieren: „Ich war immer überzeugt, dass es für eine erfolgreiche politische Tätigkeit nicht nur Sachkenntnis, Willen und Beharrlichkeit braucht, sondern auch Überzeugungen und Werte, einen ideellen und ordnungspolitischen Kompass“. In der Tat. Genau das ist die Haltung, derer es in der besorgniserregenden gegenwärtigen Lage bedarf, in der Politik, aber auch in der Gesellschaft insgesamt. Wir brauchen mehr davon. Wenn nicht die Liberalen auf besonnene, aber bestimmte Weise die Stimme erheben und der Freiheit eine Gasse bahnen, wer dann? Verehrter Herr Villiger, im Namen der Jury gratuliere ich Ihnen zum Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. 6
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