Stand des Wissens - Deutsches Ärzteblatt

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PRÄNATALE EPIGENETISCHE PRÄGUNG
Stand des Wissens
Schwangerschaft, Geburt und unmittelbare Neonatalzeit sind ein
kritisches Zeitfenster im Leben eines menschlichen Individuums bezüglich
lebenslanger Gesundheit beziehungsweise Krankheitsdisposition.
n den letzten Jahrzehnten hat
sich ein Forschungsfeld rasant
entwickelt, welches den Einfluss
des intrauterinen Milieus auf die
spätere Gesundheit des Feten untersucht. Man hat erkannt, dass
metabolische (aber auch andere)
pränatale Einflüsse stärker und
langfristiger als angenommen die
Empfänglichkeiten für Erkrankungen definieren. Im wissenschaftlichen Interesse stehen dabei einerseits metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen („Zivilisationskrankheiten“), andererseits aber
auch der Einfluss von pränatalem
„Stress“ auf späteres Verhalten und
neurologische Entwicklung.
Die Mechanismen, welche dazu
führen, dass eine vorgeburtliche Situation lebenslange Spuren hinterlässt und diese sogar auf weitere Generationen „vererbt“ werden,
sind mittlerweile besser verstanden.
Wir sprechen heute von epigenetischen Veränderungen, fetaler Programmierung, Prägung oder funktioneller Teratologie. Dieses Phäno-
I
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men hat insofern an Bedeutung
gewonnen, da Präventionsprogramme für medizinische Probleme
(zum Beispiel Adipositas bei Kindern) bereits vorgeburtlich auf den
Weg gebracht werden müssen, wenn
sie erfolgreich sein sollen.
Quantität und Qualität der intrauterinen Ernährung, aber auch andere
Faktoren steuern den Aktivitätsgrad
der Gene. Auf epigenetischer Ebene
erfolgt die Weichenstellung für spätere Gesundheit oder Krankheit. Die
Mechanismen, mit denen Genaktivität beeinflusst werden kann, ohne
das Genom selbst zu verändern, sind
unter anderem die Methylierung von
DNA-Cytosinbasen, die Veränderung der Histonstruktur und die Beeinflussung der Genexpression durch
Micro-RNAs (siehe Grafik).
Ein eindrucksvolles Tiermodell
für einen epigenetischen Prozess
sind Agouti-Mäuse. Durch die Aktivierung des Agouti-Gens kommt es
zur Ausprägung eines typischen
Phänotyps mit gelbem Fell, welcher
zudem ein erhöhtes Risiko für Adi-
positas, Diabetes und bestimmte
Tumorerkrankungen aufweist. Im
Wurf einer solchen Maus finden
sich Nachkommen mit einer Variation von Fellfarben von Gelb (Agouti) über Zwischenstufen bis hin zur
braunen Fellfarbe des Wildtyps (siehe Abbildung). Dabei korreliert die
Ausprägung der Gelbfärbung des
Fells eng mit dem Körpergewicht
der jeweiligen Maus (2). Durch eine
spezielle, methylenreiche Diät kann
das Agouti-Gen deaktiviert werden.
Erhält eine schwangere AgoutiMaus diese Diät, so findet sich im
Wurf dieser Maus ein höherer Anteil des braungefärbten Wildtyps.
Ob eine methylenreiche Diät auch
einen transgenerationalen Effekt
hat, wurde lange kontrovers diskutiert. Einen Hinweis auf einen solchen Effekt gab die Studie von Waterland et al., die zeigte, dass es in
der 3. Generation der Nachkommen
zur Rückbildung des Agouti-Phänotyps und damit auch zur Vermeidung von Adipositas und chronischen Erkrankungen kommt (4).
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Der Zusammenhang zwischen
niedrigem Geburtsgewicht und späterer Krankheitsdisposition beim
Menschen wurde in den 1980er Jahren umfassend durch die Arbeitsgruppe von Barker untersucht. Dabei zeigten Männer, die zwischen
1911 und 1930 mit niedrigem Geburtsgewicht geboren wurden, im
Erwachsenenalter ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko (3). Die Ergebnisse dieser Studie weckten weltweit
großes Interesse: Nach der „BarkerHypothese“ oder „Small Baby Syndrom“ kommt es aufgrund einer
intrauterinen Mangelsituation (in diesem Fall wegen mütterlicher Mangelernährung) zu einer Adaptation der
fetalen Stoffwechselvorgänge, was
dem Feten eine besonders gute Energieausschöpfung erlaubt.
Umfassende und berechtigte
Kritik an „Barker-Hypothese“
Während diese Anpassungsprozesse intrauterin einen Überlebensvorteil darstellen, erhöhen sie postpartal bei normalem Nahrungsangebot
das lebenslängliche Risiko für Adipositas, metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen. Zugrundeliegende Mechanismen sind unter
anderem:
● Gewebeveränderungen insulinsensitiver Organe,
● Veränderungen am Hypothalamus und
● die Verstellung neuro-endokriner
Regelkreise.
Obwohl epidemiologische Studien diesen Zusammenhang teilweise bestätigten (5), gibt es umfassende und berechtigte Kritik an
der „Barker-Hypothese“, da es zahlreiche Einflussgrößen und Störfaktoren gibt, die diese epidemiologischen Zusammenhänge über Jahrzehnte beeinflussen. Zudem führte im
Tierexperiment eine reduzierte Nahrungszufuhr während der Schwangerschaft nicht automatisch zu erhöhtem Gewicht der Neugeborenen
(6). Ebenfalls ist die Relation zur
Adipositas nicht klar, weil Zivilisationskrankheiten wie chronischischämische Herzerkrankung, Typ2-Diabetes und metabolisches Syndrom klar mit Adipositas verknüpft
sind, aber keine Studie bislang zeigen konnte, dass ein niedriges Geburtsgewicht mit späterer Adipositas vergesellschaftet ist (7).
Ein Befund, der diesen scheinbaren Widerspruch auflösen kann, ist
die Beobachtung, dass nicht intrauterine Mangelernährung, sondern
unmittelbare postnatale Überernährung der Trigger für späteres, fixiertes Übergewicht ist (8). Offensichtlich fällt die Ernährung unmittelbar
nach der Geburt in eine besonders
vulnerable und kritische Phase der
Festlegung von Sättigungsverhalten, neurohumoraler Regulation des
Metabolismus et cetera. Diese Erkenntnisse führten letztendlich auch
zu dem Schluss, dass Stillen die mit
Abstand beste Form der Ernährung
des Neugeborenen darstellt und einen protektiven Effekt bezüglich
Adipositas hat.
Die Beeinflussung beziehungsweise Veränderung des Feten/Neonaten beschränkt sich nicht auf rein
somatische oder auf den Stoffwechsel gerichtete Phänomene. So konnte gezeigt werden, dass es einen
Zusammenhang zwischen der psychischen Befindlichkeit der Schwangeren und messbaren elektrophysiologischen Veränderungen am kindlichen Herzen im Sinne einer veränderten Herzerregungsleitung gibt
(9). Obwohl offen ist, ob diese Veränderungen Krankheitswert besitzen
und wie lange sie persistieren, gibt
es einen Hinweis darauf, wie wichtig psychisches Wohlergehen in der
Schwangerschaft ist.
Zudem scheint es auch einen Zusammenhang zwischen mütterlichem
Stress während der Schwangerschaft
und der Entwicklung des kindlichen
Gehirns zu geben, welcher über den
Cortisol-Level geregelt wird (10).
Kritiker führen an dieser Stelle an,
dass „gestresste“ Schwangere mit hoher Wahrscheinlichkeit auch später
als Mütter gestresster sind, wodurch
es unklar wird, ob die Prägung vorgeburtlich oder während der Neonatal-
Quelle: Gluckmann, NEJM 2008
GRAFIK
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des dritte Kind das Licht der Welt
durch Kaiserschnitt erblickt, ist
man angehalten, den Langzeiteffekt
einer nichtnatürlichen Entbindung
(unabhängig von der Indikation
zur Kaiserschnittentbindung) zu betrachten. Es ist mittlerweile gut belegt, dass durch Kaiserschnitt geborene Kinder später häufiger Asthma
und allergische Erkrankungen entwickeln (15). Offensichtlich ist der
Kontakt mit mütterlichen Vaginalkeimen bei der Passage des normalen Geburtskanals physiologisch
für die „Prägung“ des kindlichen
Immunsystems und die Entwicklung der eigenen Darmflora (16).
US-LEITLINIE ZUR GICHT
Nur Vermeidung
von Rezidiven
Fazit
● All diese Befunde haben die
Bedeutung einer physiologischen
(gesunden) Situation während der
Schwangerschaft, Geburt und un-
Foto: Holger Stepan
zeit stattfindet. Aus tierexperimentellen Studien an Ratten, welche unmittelbar nach der Geburt einer fremden
Mutter „zur Pflege“ gegeben wurden,
gibt es aber deutliche Hinweise, dass
die Prägung bereits vorgeburtlich erfolgt (11).
Die Auswirkungen von pränatalem mütterlichem Stress werden
auch umfassend im „Project Ice
Storm“ untersucht. Diese kanadische Arbeitsgruppe konnte einen
Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress während eines bis zu
40-tägigen Stromausfalls bei einem Eissturm im Jahr 1998 und
kindlicher Adipositas beziehungsweise BMI im Alter von 13,5
Jahren zeigen. Interessanterweise
zeigte sich hier auch eine veränderte Methylierung von Genen, welche in die Entstehung von Diabetes mellitus Typ 1 und 2 involviert
sind. Die Methylierung scheint
hier einen protektiven Effekt zu
haben und somit möglicherweise
den Stressauswirkungen entgegenzusteuern (12). Weitere Studien
derselben Arbeitsgruppe belegen einen Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress und dem kindlichem Temperament, Aufmerksamkeitsstörungen, motorischer und
Sprachentwicklung sowie dem IQ
(13, 14).
Zusätzlich hat man beobachtet,
dass auch die Art der Geburt (normal oder per Kaiserschnitt) die Gesundheit des Kindes und späteren
Erwachsenen beeinflusst. In Zeiten
einer global steigenden Kaiserschnittrate, die dazu geführt hat,
dass in Deutschland mittlerweile je-
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mittelbare Postnatalperiode herausgestellt.
● Epigenetik wirkt weichenstellend und beeinflusst spätere Gesundheit oder Krankheit.
● Hier liegt die Grundlage für
spätere Zivilisationserkrankungen
und vor allem auch die Möglichkeit
für effektive Prävention und Ge▄
sundheitsförderung.
Dr. med. Susanne Schrey
Prof. Dr. med. Holger Stepan
Abteilung für Geburtsmedizin,
Universitätsklinikum Leipzig
Interessenkonflikt: Die Autorin Schrey erklärt,
dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4516
oder über QR-Code.
Methylenreiche
Diät bewirkt bei
gelben AgoutiMäusen eine Deaktivierung des Gens,
so dass mehr Nachkommen normalgewichtig, gesund
und mit dunklem
Fell heranwachsen
(2).
Während Rheumatologen nach einer ersten Gichtattacke allen Patienten zu einer harnsäuresenkenden Therapie raten, gibt sich der
Verband der US-Internisten zurückhaltend. Seine jetzt vorgestellte
Leitlinie gibt der Vermeidung von
Rezidiven („treat-to-avoid“) den
Vorzug gegenüber einer generellen
Prophylaxe („treat-to-target“).
Während der Gichtattacke hat
der Arzt zur Behandlung die Wahl
zwischen Kortikosteroiden, nichtsteroidalen Antiphlogistika oder
Colchicin. Umstritten ist die Frage,
ob erhöhte Harnsäurewerte bereits
nach einer ersten Gichtattacke medikamentös gesenkt werden sollten.
Für das American College of Rheumatology (und auch für die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie) besteht daran kein Zweifel. Mit
Allopurinol und Febuxostat stehen
Wirkstoffe zur Verfügung, die den
Harnsäurespiegel in klinischen Studien effektiv gesenkt haben. Es
fehlt jedoch der eindeutige Beleg,
dass dadurch auch zukünftigen Attacken vorgebeugt wird.
Das American College of Physicians gibt zu bedenken, dass die
Wirksamkeit einer harnsäuresenkenden Dauertherapie allein auf
physiologischen Überlegungen und
Beobachtungsstudien beruht. Die
Leitlinie spricht sich deshalb gegen
eine regelmäßige präventive Therapie aus, die in der Regel eine Harnsäurekonzentration im Blut von unter 6 mg/dl anstrebt. Selbst bei wiederholten Gichtattacken sieht die
US-Leitlinie nicht automatisch eine Indikation für eine harnsäuresenkende Therapie gegeben. Diese
müsse unter Nutzen-Risiko-Abwägung geprüft und mit dem Patienten
besprochen werden. Der US-Fachgesellschaft schwebt eine „Treat-toAvoid“-Strategie vor, die die Behandlung auf jene Patienten beschränkt, die ohne Medikamente von
Gichtattacken bedroht sind.
rme
Ann Intern Med. 2016 DOI: 10.7326/M16–0570
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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 45/2016, ZU
PRÄNATALE EPIGENETISCHE PRÄGUNG
Stand des Wissens
Schwangerschaft, Geburt und unmittelbare Neonatalzeit sind ein kritisches
Zeitfenster im Leben eines menschlichen Individuums bezüglich lebenslanger
Gesundheit beziehungsweise Krankheitsdisposition.
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