Foto: mauritius images/Fotolia zketch PRÄNATALE EPIGENETISCHE PRÄGUNG Stand des Wissens Schwangerschaft, Geburt und unmittelbare Neonatalzeit sind ein kritisches Zeitfenster im Leben eines menschlichen Individuums bezüglich lebenslanger Gesundheit beziehungsweise Krankheitsdisposition. n den letzten Jahrzehnten hat sich ein Forschungsfeld rasant entwickelt, welches den Einfluss des intrauterinen Milieus auf die spätere Gesundheit des Feten untersucht. Man hat erkannt, dass metabolische (aber auch andere) pränatale Einflüsse stärker und langfristiger als angenommen die Empfänglichkeiten für Erkrankungen definieren. Im wissenschaftlichen Interesse stehen dabei einerseits metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen („Zivilisationskrankheiten“), andererseits aber auch der Einfluss von pränatalem „Stress“ auf späteres Verhalten und neurologische Entwicklung. Die Mechanismen, welche dazu führen, dass eine vorgeburtliche Situation lebenslange Spuren hinterlässt und diese sogar auf weitere Generationen „vererbt“ werden, sind mittlerweile besser verstanden. Wir sprechen heute von epigenetischen Veränderungen, fetaler Programmierung, Prägung oder funktioneller Teratologie. Dieses Phäno- I A 2040 men hat insofern an Bedeutung gewonnen, da Präventionsprogramme für medizinische Probleme (zum Beispiel Adipositas bei Kindern) bereits vorgeburtlich auf den Weg gebracht werden müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Quantität und Qualität der intrauterinen Ernährung, aber auch andere Faktoren steuern den Aktivitätsgrad der Gene. Auf epigenetischer Ebene erfolgt die Weichenstellung für spätere Gesundheit oder Krankheit. Die Mechanismen, mit denen Genaktivität beeinflusst werden kann, ohne das Genom selbst zu verändern, sind unter anderem die Methylierung von DNA-Cytosinbasen, die Veränderung der Histonstruktur und die Beeinflussung der Genexpression durch Micro-RNAs (siehe Grafik). Ein eindrucksvolles Tiermodell für einen epigenetischen Prozess sind Agouti-Mäuse. Durch die Aktivierung des Agouti-Gens kommt es zur Ausprägung eines typischen Phänotyps mit gelbem Fell, welcher zudem ein erhöhtes Risiko für Adi- positas, Diabetes und bestimmte Tumorerkrankungen aufweist. Im Wurf einer solchen Maus finden sich Nachkommen mit einer Variation von Fellfarben von Gelb (Agouti) über Zwischenstufen bis hin zur braunen Fellfarbe des Wildtyps (siehe Abbildung). Dabei korreliert die Ausprägung der Gelbfärbung des Fells eng mit dem Körpergewicht der jeweiligen Maus (2). Durch eine spezielle, methylenreiche Diät kann das Agouti-Gen deaktiviert werden. Erhält eine schwangere AgoutiMaus diese Diät, so findet sich im Wurf dieser Maus ein höherer Anteil des braungefärbten Wildtyps. Ob eine methylenreiche Diät auch einen transgenerationalen Effekt hat, wurde lange kontrovers diskutiert. Einen Hinweis auf einen solchen Effekt gab die Studie von Waterland et al., die zeigte, dass es in der 3. Generation der Nachkommen zur Rückbildung des Agouti-Phänotyps und damit auch zur Vermeidung von Adipositas und chronischen Erkrankungen kommt (4). Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 45 | 11. November 2016 MEDIZINREPORT Der Zusammenhang zwischen niedrigem Geburtsgewicht und späterer Krankheitsdisposition beim Menschen wurde in den 1980er Jahren umfassend durch die Arbeitsgruppe von Barker untersucht. Dabei zeigten Männer, die zwischen 1911 und 1930 mit niedrigem Geburtsgewicht geboren wurden, im Erwachsenenalter ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko (3). Die Ergebnisse dieser Studie weckten weltweit großes Interesse: Nach der „BarkerHypothese“ oder „Small Baby Syndrom“ kommt es aufgrund einer intrauterinen Mangelsituation (in diesem Fall wegen mütterlicher Mangelernährung) zu einer Adaptation der fetalen Stoffwechselvorgänge, was dem Feten eine besonders gute Energieausschöpfung erlaubt. Umfassende und berechtigte Kritik an „Barker-Hypothese“ Während diese Anpassungsprozesse intrauterin einen Überlebensvorteil darstellen, erhöhen sie postpartal bei normalem Nahrungsangebot das lebenslängliche Risiko für Adipositas, metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen. Zugrundeliegende Mechanismen sind unter anderem: ● Gewebeveränderungen insulinsensitiver Organe, ● Veränderungen am Hypothalamus und ● die Verstellung neuro-endokriner Regelkreise. Obwohl epidemiologische Studien diesen Zusammenhang teilweise bestätigten (5), gibt es umfassende und berechtigte Kritik an der „Barker-Hypothese“, da es zahlreiche Einflussgrößen und Störfaktoren gibt, die diese epidemiologischen Zusammenhänge über Jahrzehnte beeinflussen. Zudem führte im Tierexperiment eine reduzierte Nahrungszufuhr während der Schwangerschaft nicht automatisch zu erhöhtem Gewicht der Neugeborenen (6). Ebenfalls ist die Relation zur Adipositas nicht klar, weil Zivilisationskrankheiten wie chronischischämische Herzerkrankung, Typ2-Diabetes und metabolisches Syndrom klar mit Adipositas verknüpft sind, aber keine Studie bislang zeigen konnte, dass ein niedriges Geburtsgewicht mit späterer Adipositas vergesellschaftet ist (7). Ein Befund, der diesen scheinbaren Widerspruch auflösen kann, ist die Beobachtung, dass nicht intrauterine Mangelernährung, sondern unmittelbare postnatale Überernährung der Trigger für späteres, fixiertes Übergewicht ist (8). Offensichtlich fällt die Ernährung unmittelbar nach der Geburt in eine besonders vulnerable und kritische Phase der Festlegung von Sättigungsverhalten, neurohumoraler Regulation des Metabolismus et cetera. Diese Erkenntnisse führten letztendlich auch zu dem Schluss, dass Stillen die mit Abstand beste Form der Ernährung des Neugeborenen darstellt und einen protektiven Effekt bezüglich Adipositas hat. Die Beeinflussung beziehungsweise Veränderung des Feten/Neonaten beschränkt sich nicht auf rein somatische oder auf den Stoffwechsel gerichtete Phänomene. So konnte gezeigt werden, dass es einen Zusammenhang zwischen der psychischen Befindlichkeit der Schwangeren und messbaren elektrophysiologischen Veränderungen am kindlichen Herzen im Sinne einer veränderten Herzerregungsleitung gibt (9). Obwohl offen ist, ob diese Veränderungen Krankheitswert besitzen und wie lange sie persistieren, gibt es einen Hinweis darauf, wie wichtig psychisches Wohlergehen in der Schwangerschaft ist. Zudem scheint es auch einen Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress während der Schwangerschaft und der Entwicklung des kindlichen Gehirns zu geben, welcher über den Cortisol-Level geregelt wird (10). Kritiker führen an dieser Stelle an, dass „gestresste“ Schwangere mit hoher Wahrscheinlichkeit auch später als Mütter gestresster sind, wodurch es unklar wird, ob die Prägung vorgeburtlich oder während der Neonatal- Quelle: Gluckmann, NEJM 2008 GRAFIK A 2042 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 45 | 11. November 2016 MEDIZINREPORT des dritte Kind das Licht der Welt durch Kaiserschnitt erblickt, ist man angehalten, den Langzeiteffekt einer nichtnatürlichen Entbindung (unabhängig von der Indikation zur Kaiserschnittentbindung) zu betrachten. Es ist mittlerweile gut belegt, dass durch Kaiserschnitt geborene Kinder später häufiger Asthma und allergische Erkrankungen entwickeln (15). Offensichtlich ist der Kontakt mit mütterlichen Vaginalkeimen bei der Passage des normalen Geburtskanals physiologisch für die „Prägung“ des kindlichen Immunsystems und die Entwicklung der eigenen Darmflora (16). US-LEITLINIE ZUR GICHT Nur Vermeidung von Rezidiven Fazit ● All diese Befunde haben die Bedeutung einer physiologischen (gesunden) Situation während der Schwangerschaft, Geburt und un- Foto: Holger Stepan zeit stattfindet. Aus tierexperimentellen Studien an Ratten, welche unmittelbar nach der Geburt einer fremden Mutter „zur Pflege“ gegeben wurden, gibt es aber deutliche Hinweise, dass die Prägung bereits vorgeburtlich erfolgt (11). Die Auswirkungen von pränatalem mütterlichem Stress werden auch umfassend im „Project Ice Storm“ untersucht. Diese kanadische Arbeitsgruppe konnte einen Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress während eines bis zu 40-tägigen Stromausfalls bei einem Eissturm im Jahr 1998 und kindlicher Adipositas beziehungsweise BMI im Alter von 13,5 Jahren zeigen. Interessanterweise zeigte sich hier auch eine veränderte Methylierung von Genen, welche in die Entstehung von Diabetes mellitus Typ 1 und 2 involviert sind. Die Methylierung scheint hier einen protektiven Effekt zu haben und somit möglicherweise den Stressauswirkungen entgegenzusteuern (12). Weitere Studien derselben Arbeitsgruppe belegen einen Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress und dem kindlichem Temperament, Aufmerksamkeitsstörungen, motorischer und Sprachentwicklung sowie dem IQ (13, 14). Zusätzlich hat man beobachtet, dass auch die Art der Geburt (normal oder per Kaiserschnitt) die Gesundheit des Kindes und späteren Erwachsenen beeinflusst. In Zeiten einer global steigenden Kaiserschnittrate, die dazu geführt hat, dass in Deutschland mittlerweile je- A 2044 mittelbare Postnatalperiode herausgestellt. ● Epigenetik wirkt weichenstellend und beeinflusst spätere Gesundheit oder Krankheit. ● Hier liegt die Grundlage für spätere Zivilisationserkrankungen und vor allem auch die Möglichkeit für effektive Prävention und Ge▄ sundheitsförderung. Dr. med. Susanne Schrey Prof. Dr. med. Holger Stepan Abteilung für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig Interessenkonflikt: Die Autorin Schrey erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen. @ Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit4516 oder über QR-Code. Methylenreiche Diät bewirkt bei gelben AgoutiMäusen eine Deaktivierung des Gens, so dass mehr Nachkommen normalgewichtig, gesund und mit dunklem Fell heranwachsen (2). Während Rheumatologen nach einer ersten Gichtattacke allen Patienten zu einer harnsäuresenkenden Therapie raten, gibt sich der Verband der US-Internisten zurückhaltend. Seine jetzt vorgestellte Leitlinie gibt der Vermeidung von Rezidiven („treat-to-avoid“) den Vorzug gegenüber einer generellen Prophylaxe („treat-to-target“). Während der Gichtattacke hat der Arzt zur Behandlung die Wahl zwischen Kortikosteroiden, nichtsteroidalen Antiphlogistika oder Colchicin. Umstritten ist die Frage, ob erhöhte Harnsäurewerte bereits nach einer ersten Gichtattacke medikamentös gesenkt werden sollten. Für das American College of Rheumatology (und auch für die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie) besteht daran kein Zweifel. Mit Allopurinol und Febuxostat stehen Wirkstoffe zur Verfügung, die den Harnsäurespiegel in klinischen Studien effektiv gesenkt haben. Es fehlt jedoch der eindeutige Beleg, dass dadurch auch zukünftigen Attacken vorgebeugt wird. Das American College of Physicians gibt zu bedenken, dass die Wirksamkeit einer harnsäuresenkenden Dauertherapie allein auf physiologischen Überlegungen und Beobachtungsstudien beruht. Die Leitlinie spricht sich deshalb gegen eine regelmäßige präventive Therapie aus, die in der Regel eine Harnsäurekonzentration im Blut von unter 6 mg/dl anstrebt. Selbst bei wiederholten Gichtattacken sieht die US-Leitlinie nicht automatisch eine Indikation für eine harnsäuresenkende Therapie gegeben. Diese müsse unter Nutzen-Risiko-Abwägung geprüft und mit dem Patienten besprochen werden. Der US-Fachgesellschaft schwebt eine „Treat-toAvoid“-Strategie vor, die die Behandlung auf jene Patienten beschränkt, die ohne Medikamente von Gichtattacken bedroht sind. rme Ann Intern Med. 2016 DOI: 10.7326/M16–0570 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 45 | 11. November 2016 MEDIZINREPORT LITERATURVERZEICHNIS HEFT 45/2016, ZU PRÄNATALE EPIGENETISCHE PRÄGUNG Stand des Wissens Schwangerschaft, Geburt und unmittelbare Neonatalzeit sind ein kritisches Zeitfenster im Leben eines menschlichen Individuums bezüglich lebenslanger Gesundheit beziehungsweise Krankheitsdisposition. LITERATUR 1. Gluckman PD, Hanson MA, Cooper C, Thornburg KL: Effect of in utero and earlylife conditions on adult health and disease. N Engl J Med 2008; 359: 61–73. 2. Morgan HD, Sutherland HGE, Martin DIK, Whitelaw E: Epigenetic inheritance at the agouti locus in the mouse. Nature Genetics 1999; 23; 314–8. 3. Ravelli GP, Stein ZA, Susser MW: Obesity in young me after famine exposure in utero and early infancy. N Engl J Med 1976; 295: 349–53. 4. Barker DJ, Winter PD, Osmond C, Margett B, Simmonds SJ: Weight in infancy and death from ischemic heart disease. Lancet 1989; 2: 577–80. 5. 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