Angst als Zeiterscheinung

Politik und Gesellschaft
Politik und Gesellschaft
Angst als Zeiterscheinung
Kriege, Terror und Flüchtlingselend – täglich erreichen uns Schreckensnachrichten
aus der ganzen Welt. Dies macht vielen Angst, obwohl es viel wahrscheinlicher ist,
beim Radfahren zu sterben als durch einen Terroranschlag. «gewagt» sprach mit der
Risikoforscherin Katrin Fischer über die Ängste unserer Zeit, warum diese oft unbegründet sind und über die Rolle der Medien in Zusammenhang mit diesem Thema.
vermitteln. So entstehen unbegründete und diffuse
Ängste. Viele Leute haben weder Lust noch Zeit, einen fünfseitigen Hintergrundbericht zu lesen. Sie informieren sich nicht über klassische Medien, sondern
über News- oder WhatsApp-Gruppen. Wir müssen
uns darauf einstellen, dass wir anders mit Medien
umgehen. So verlieren klassische Medien wie Zeitung und Fernsehen gegenüber den sozialen Medien
an Einfluss. Diese dürfen jedoch das Feld nicht den
sozialen Medien überlassen. Sie sollten versuchen,
den Konsumenten schneller zu erreichen, ohne an
der Seriosität und Objektivität der Berichterstattung
Frau Fischer, leben wir in einer Angstgesellschaft?
in Europa kaum Gedanken um das nackte Überleben
Die Angstthematik ist medial sehr präsent, und ge-
zu machen, niemand muss verhungern. Dennoch ist
sellschaftliche Ängste sind deutlich spürbar. Das
das Thema Angst heute viel präsenter. Ich würde je-
Wovor fürchten wir uns?
war vor einigen Jahren noch nicht der Fall. Angst ist
doch nicht sagen, dass wir in einer Angstgesellschaft
Konflikte und Katastrophen, die für uns früher weit
jedoch sehr kulturspezifisch. In Europa haben die
leben und mehr Angst haben als früher.
weg waren, rücken näher. Das syrische Regime führt
Menschen andere Sorgen als in Afrika. Dort sind exis-
Abstriche zu machen.
Krieg gegen das eigene Volk. Millionen von Men-
«Die klassischen Medien
dürfen das Feld nicht den
sozialen Medien überlassen.»
tenzielle Ängste allgegenwärtig. Sorgen, wie wir sie
Jede Zeit hat ihre Ängste, jede Angst hat ihre
schen sind auf der Flucht. Viele suchen in Europa ein
hier vor 200 Jahren hatten. Heute brauchen wir uns
Zeit – Welche Rollen spielen in diesem Zusammen-
neues Leben. Das löst Ängste und Befürchtungen aus.
hang die Medien?
Gegenüber Flüchtlingen haben wir oft grosse Vorbe-
Push-Nachrichten-Apps informieren uns in Sekun-
halte. Wir haben Angst vor dem Unbekannten und
denschnelle über Schreckliches aus der ganzen Welt.
Fremden. Viele Ängste waren in der Menschenge-
Eine sehr wichtige Rolle spielen die sozialen Medien.
schichte ein Überlebensvorteil. Auch die Angst vor
Sie sind schneller als die klassischen Medien. Ver-
dem Fremden. Heute nützt sie weniger den Ängstli-
schiedene soziale Medien informieren uns gleich-
chen als den Populisten, sagen Angstforscher. Viele
zeitig über dasselbe Ereignis. Dadurch nehmen wir
Menschen befürchten, dass mit den Flüchtlingen
haben wir das Gefühl, wir hätten die Situation un-
das Ereignis als viel bedeutsamer wahr. Diese Ver-
auch Terroristen ins Land gelangen. Dazu kommt die
ter Kontrolle. Darum haben die Leute keine Angst
stärkung alarmiert und verstärkt das Angstgefühl.
Angst vor einer zunehmenden Islamisierung. Man
vor dem Autofahren, aber sie fürchten einen mögli-
Und: Die Schlagzeilen erscheinen Schlag auf Schlag,
hat auch Sorge, dass viele Freiheiten, die man sich in
chen Terroranschlag. Rational ist diese Angst nicht
obwohl sie selten etwas Neues enthalten, weil die
den 60er- und 70er-Jahren mühsam erkämpft hat,
begründbar. Aber es gibt verschiedene Faktoren, die
Behörden gar nicht so schnell ermitteln können. Die
beispielweise die Gleichberechtigung der Frauen,
eine Rolle spielen. Ein Faktor ist, was wir «Kontrol-
klassischen Medien dürfen das Feld nicht den sozia-
wieder verloren gehen. Die geflüchteten Menschen
le» nennen: Wir haben das Gefühl, wir könnten die
len Medien überlassen. Soziale Medien sind schnell
kosten zudem Geld, und viele Leute haben Angst um
Gefahren einschätzen, ihnen ausweichen oder sie
und greifen oft Einzelfälle auf, ohne sich darum zu
den hart erarbeiteten Wohlstand in der Schweiz.
bremsen. Diese Möglichkeit haben wir bei einem Terroranschlag nicht. In einer solchen Situation wären
kümmern, ob ein Ereignis repräsentativ ist. Ein gros-
Zur Person
Prof. Dr. Katrin Fischer (49)
ist Professorin an der Hochschule
für Angewandte Psychologie,
Fachhochschule Nordwest­schweiz.
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ses Problem ist deshalb die Objektivität. Solche Nach-
Warum haben viele Menschen mehr Angst vor einem
wir dem Geschehen wehrlos ausgesetzt. Ebenso die
richten werden bevorzugt von Benutzern geteilt, die
Terroranschlag als vor einem Autounfall?
Polizei. Es ist diese Unberechenbarkeit, die Nicht-
der gleichen Meinung sind wie die anderen Mitglie-
Es gibt Menschen, die aus Angst vor Terroranschlä-
kontrollierbarkeit, die uns Angst macht. Ein weiterer
der ihrer Newsgruppe. Dadurch werden Meinungen
gen auf Städtereisen verzichten. Die Angst, dass das
Faktor ist etwas, was wir in der Psychologie «Kata-
und Überzeugungen immer wieder bestätigt. Das
Flugzeug auf dem Reiseweg abstürzen könnte, neh-
strophenpotenzial» nennen. Ein Unglück in einem
kritische Hinterfragen bleibt auf der Strecke.
men sie viel weniger wahr. Nehmen wir einmal das
Kernkraftwerk hat ein sehr hohes Katastrophen-
Beispiel Autofahren und Terroranschlag als mögliche
potenzial, weil davon Generationen von Menschen
Also tragen Facebook und Twitter Schuld an unserer
Risikoquellen: Betrachtet man die objektiven Risi-
betroffen sein können. Deshalb bewerten wir einen
Angst?
ken, dann ist die Gefahr, mit dem Auto auf der Stre-
potenziellen Störfall in einem Atomkraftwerk als
Oftmals lesen die Benutzer auf dem Twitter-Kurz-
cke von Bern nach Paris zu verunglücken, viel grös-
viel grössere Risikoquelle als die Gefahr, bei einem
nachrichtendienst nur den Tweet. 140 Zeichen kön-
ser als die Wahrscheinlichkeit, in Paris Opfer eines
Autounfall zu sterben. Ähnlich ist es bei möglichen
nen aber unmöglich differenzierte Hintergründe
Terroranschlags zu werden. Wenn wir Auto fahren,
Terroranschlägen.
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Können unsere «Sicherheitskräfte», also Militär und
Die Zahl der Polizisten
steigt stetig an.
Über 18 000 Polizisten
sorgen Anfang 2016 in der
Schweiz für Sicherheit.
Sie sollen uns das Gefühl
Sicherheit vermitteln.
Polizei, uns tatsächlich schützen?
Gemäss der Studie «Sicherheit 2016» der ETH Zürich
blicken Schweizerinnen und Schweizer pessimistisch in die Zukunft. Der Ruf nach mehr Polizei und
Militär wird lauter. Zwei Drittel der Befragten sind
bereit, Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit
hinzunehmen, damit der Terrorismus «mit allen Mitteln» bekämpft werden kann. Die Schweiz hat einen
sehr hohen Lebensstandard und auch ein hohes Sicherheitsniveau. Schauen wir beispielsweise in den
Irak: Dort haben die meisten Menschen nichts mehr,
alles liegt in Trümmern. Existenzielle Bedrohungen
gehören dort zum Alltag. Das ist in der Schweiz anders. Aber plötzlich ereignen sich Terrorkatastrophen
auch in unserem Nachbarland Frankreich. Das wird
als sehr bedrohlich empfunden.
Ist ein Leben in Sicherheit pures Wunschdenken?
Wir haben uns viel zu lange gedacht, dass unsere
Sicherheit unantastbar ist. Diese Illusion bricht nun
zusammen. Lange haben wir diesen ethnischen Konflikten und religiösen Kriegen zugeschaut, die weit
weg waren und uns nicht betroffen haben. Dort, wo
wir mit Risikoquellen konfrontiert sind, die wir unter Kontrolle zu haben glauben (wie etwa beim Autofahren), wollen wir selbst entscheiden. Sind es jedoch
Gefahren, die als völlig unberechenbar und unkontrollierbar wahrgenommen werden, soll jemand anderes die Kontrolle übernehmen. Wir haben das Bedürfnis, dass uns jemand beschützt. Wir fühlen uns
bedroht und erhoffen uns Schutz und Sicherheit von
der Polizei. Das Leben ist nicht gefährlicher geworden, aber wir fühlen uns vermehrt in Gefahr. Über
«Menschen verhalten sich
oft nicht logisch,
aber immer psychologisch.»
uns, einen kleinen Teil der Weltbevölkerung, können
Was ist in Ihren Augen unsere grösste Angst? Was das
fallen, verschwindend gering. Menschen verhalten
wir aussagen, dass wir in sicheren, eigentlich sehr si-
grösste Risiko?
sich oft nicht logisch, aber immer psychologisch.
cheren Verhältnissen leben.
Angst kann nicht verallgemeinert werden – sie ist
Statistisch gesehen fordern die ganz banalen Ge-
Der Staat hat bei grossen Risiken wie etwa Terroris-
sehr individuell. Es gibt aber ein paar Ängste, die alle
sundheitsrisiken die meisten Todesopfer. Wirklich
mus eine Aufklärungspflicht. Hierzu werden bereits
Menschen verspüren. In der Regel sind dies Ängste,
fürchten sollten wir also die ganz unspektaku-
Notfall-Apps in sozialen Netzwerken zur Kommuni-
die sich auf unser physisches Wohlbefinden bezie-
lären Risiken, die wir sogar freiwillig eingehen:
kation verwendet. Beim Terroranschlag von Mün-
hen: Angst vor Feuer, vor grosser Höhe und letztlich
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rauchen, Autofahren
chen im Juli nutzte die Polizei Twitter und Facebook,
die Angst vor physischer Bedrohung. Weitere Urängs-
(oder Treppensteigen).
trifft es sowieso nicht! Und dies ist keine Frage des
um mit der Bevölkerung zu kommunizieren und sie
te sind beispielweise die Angst vor dem Verlust von
Wir sollten also mehr Sport treiben, gesünder es-
Geschlechts, des Alters oder der Erfahrung. Generell
aktiv auf dem Laufenden zu halten. Diese Art von
Angehörigen, die Angst vor dem eigenen Tod und vor
sen, nicht rauchen und vielleicht mehr auf das Auto
sind wir heute nicht ängstlicher als früher. Was sich
Risikokommunikation dient jedoch nicht der Katas-
sozialem Statusverlust.
verzichten. Eine solche Verhaltensänderung würde
verändert hat, sind die mit Angst und Risiko verbun-
trophenprävention. Denn wenn Medien ausführlich
Viele Menschen fürchten sich vor Terroranschlägen.
viele Risikoquellen reduzieren. Aber wir empfin-
denen Themen und die mediale Präsenz der Ängste.
über Terrorattentate berichten, ist die Gefahr von
Betrachtet man jedoch die Statistik, ist die Wahr-
den dies nicht so und verhalten uns deshalb nicht
Nachahmertaten gross.
scheinlichkeit, einem Terroranschlag zum Opfer zu
entsprechend. Die meisten Menschen denken: Mich
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Interview: Barbara Eggimann
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