Sperrfrist: Redebeginn. Es gilt das gesprochene Wort. Laudatio auf Kaspar Villiger Prof. Dr. Ludwig Theodor Heuss Stellv. Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Verleihung des Freiheitspreises 2016 an Kaspar Villiger Samstag, 12. November 2016, 11.00 Uhr Paulskirche Frankfurt 1 „Die Schweiz steht nun auf dem Punkte, die Früchte ihres beharrlichen Zusammenhaltens zu ernten. In diesen Vorgängen liegen grosse Lehren für Deutschland, von dem der Bund der Eidgenossen, nur ein verkleinertes Spiegelbild ist.“1 Vermutlich stutzen sie etwas über die beiden Sätze. Aber es ist ja ein bekannter Topos: die Schweiz, ein Land das seine Früchte erntet, ein Land, auf das man mit Bewunderung, vielleicht auch Verwunderung blickt. Ein Land auch, das man offenbar nicht so richtig kennt. Ich will die Herkunft preisgeben: das Zitat entstammt der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 10. März 1848. Es waren die guten Empfehlungen an die Arbeiten der Nationalversammlung, die hier unter dem Bild einer mit zerbrochenen Fesseln, Ölzweig und Schwert bewehrten, in die Ferne blickenden Germania in der Paulskirche tagte. Es war eine Aufforderung an diesen noch im vagen liegenden Nationalstaat, den Blick gen Süden zu richten, auf ein Land, das gerade in seiner Staatlichkeit neu geschaffen wurde. In knappen 51 Tagen war damals die noch gültige Bundesverfassung, war die moderne Schweiz nach einem kurzen Bürgerkrieg entstanden. Es ist wenig bewusst: diese schweizerische Bundesverfassung übte - neben der amerikanischen - bis in einzelne Formulierungen hinein eine grosse Faszination und beträchtlichen Einfluss auf die Paulskirchenversammlung aus. Konzepte zur föderalen Kompetenzhoheit der Gliedstaaten, zu Aussenbeziehungen und Heerwesen fanden ihre wörtliche Übernahme in den Entwurf der Reichsverfassung; sogar die Institution eines den Staat leitenden Direktoriums, analog dem schweizerischen Bundesrat wurde in diesem Raum diskutiert. Allerdings, so die Interpretation eines späteren, zweifelhaften Historikers, habe man von dieser Regierungsform 2 abgesehen, da „der Deutsche Kollektiven gegenüber eher misstrauisch“ sei ... – nun ja.2 Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine zweite Vorbemerkung. Keine Sorge, es geht jetzt nicht um kontrafaktische Spekulationen. Im Gegenteil ist Ort und Anlass geschuldet, den Blick kurz auf die Entstehung der heutigen Schweiz als einem Produkt des Liberalismus zu richten. Denn Tell und den Mythen Morgartens zum Trotz: die moderne Schweiz mit ihren politischen Institutionen, ihren „checks and balances“, ihrem einzigartigen Regierungssystem, diese Schweiz, die man vielleicht ein bisschen lieben muss um sie zu verstehen, ist das legitime – und vor allem das überlebende - Kind der liberalen Bewegung von 1848. Sie ist das geglückte Realexperiment. Und es waren Liberale –auch hier: Radikale und Demokraten, - die in der Gemengelage der politischen „Kraftfelder des Freiheitlichen, des 3 , wie es unser republikanischen schweizerischen Genossenschaftlichen und des Pluralistischen“ Preisträger umschreibt, den Bundesstaat schufen. Es waren Liberale, die ihn zum Zufluchtsort vieler Männer der Paulskirche machten, und es waren, nebenbei bemerkt radikalliberale Montagnards, die sogar als einzige der preussischen Krone damals einen bleibenden Territorialverlust zufügten, nämlich das Fürstentum Neuenburg. Es war die Partei des Schweizer Freisinns – welch schöner Name – der es 1894 gelang die liberalen Strömungen zu einen. Zur gleichen Zeit notabene, in der die deutschen Liberalen zersplitterten und erst 1918, soviel Referenz an Friedrich Naumann muss sein, in der DDP wieder zusammenfanden. Der Schweizer Freisinn dagegen prägte den Staat unangefochten als dominierende, staatstragende Kraft. Das heisst: bürgerliche und wirtschaftliche Freiheiten, Föderalismus, Minderheitenschutz, aber auch die in der 3 Folge entwickelten Formen der direkten Demokratie - 1874 das Gesetzesreferendum und 1891 die Verfassungsinitiative - die heute das Aussenbild, aber auch das Selbstverständnis der Schweizer Demokratie ausmachen, sind allesamt Produkte dieser liberalen Epoche. „Der Liberalismus“, so formuliert das Historische Lexikon der Schweiz, „prägte ab 1830 die schweizerische Gesellschaft. [...] Nach 1945 nahm er wieder eine führende Rolle ein, die er auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts innehat.“4 Die Schweizer Liberalen sind wohl die einzige Partei Europas, die seit 168 Jahren ununterbrochen Regierungsverantwortung trägt. Welch einzigartige Situation! Der europäische Liberalismus ist wahrhaft vielfältig. In der Schweiz hat er die Institutionen und Mechanismen des Regierungssystems geschaffen, geprägt und weiterentwickelt. Er hat die Schweiz zu dem gemacht, was mir ein prominenter, hier ungenannt bleibender deutscher Sozialdemokrat einmal im Vertrauen sagte: „zum bestregierten Land der Welt“. Über die Hoffnungen der Paulskirche dagegen ist die Zeit hinweggegangen. „Unsere Märzrevolution,“ schrieb damals Karl August Varnhagen verbittert an den Luzerner Philosophen Ignaz Vital Troxler, den Mann, der mit seinem Vorschlag des föderalistischen ZweikammerSystems einer der wichtigsten Geburtshelfer der Bundesverfassung war, „Unsere Märzrevolution, ... liess alles, (...) in aller Macht, nicht eine Behörde im Lande wurde geändert.“5 Und von den Berlinern wissen wir, was als einzige Errungenschaft übrig blieb: nämlich dass nun auf der Strasse geraucht werden durfte, - sogar im Tiergarten!6 Und Ignaz Troxler und das Rauchen führen mich nun zu unserem Preisträger. 4 Meine Damen und Herren, das ungewohnte politische System, der Status ausserhalb der EU und die, im Vergleich zu allen übrigen acht Nachbarländern geschichtlich am wenigsten belastete Beziehung bringen Schweizer Politik selten in den Fokus deutscher Öffentlichkeit. Am ehesten im Umfeld besonders umstrittener oder spektakulärer Volksentscheide liest man in der deutschen Presse von den „Eidgenossen“ oder der „Alpenrepublik“ und fragt sich, wie das nun genau zu verstehen sei. Gerade darum ist der Jury so sehr zu danken und ist sie zu beglückwünschen, dass sie einmal mehr den Blick über den Tellerrand gewagt hat und heute mit Kaspar Villiger eine Persönlichkeit, eine Verkörperung des autochtonen Schweizer Liberalismus - dessen Bedeutung ich eingangs zu skizzieren versuchte – auszeichnet. Man hätte sich niemand besseren wünschen können. Kaspar Villiger, ich sage das hier mit Überzeugung, ist der bedeutendste liberale Staatsmann, den die Schweiz in den vergangenen dreissig Jahren hervorgebracht hat. Ich weiss, - mit den Superlativen ist es in der Schweiz so eine Sache. Bloss keine Lobhudelei. Die unverrückbare Maxime Schweizer Magistraten lautet „servir et disparaître“. Es gilt, zumal in der an Konkordanz orientierten Politik in einer Kollegialbehörde, hohe Leistung und Popularität stets innerhalb einer Bandbreite zu halten, die Bodenhaftung garantiert. Exzellenz blüht immer unter dem Schutz des Understatements, denn wer zu weit über seine Peers hinausragt, läuft rasch Gefahr suspekt zu werden. Da trägt die liberale Schweiz ganz egalitäre Züge. Nur ganz wenige bleiben in diesem Land eine so unbestritten anerkannte Autorität wie Kaspar Villiger und das will etwas heissen. In einer Laudatio darf man loben und dazu gibt es auch reichlich Grund. 5 Meine Damen und Herren wer einen Politiker preist, muss sein Werden und Wirken darstellen. Lassen sie mich Ihnen also den Träger des Freiheitspreises 2016 näher vorstellen. Kaspar Villiger ist Luzerner, entstammt somit eigentlich der traditionell katholisch-konservativ geprägten Zentralschweiz. Allerdings liegt das heimische Pfeffikon hart an der Grenze zum Aargau in einer ländlichen Gegend die wegen des verbreiteten Tabakanbaus auch den Namen „Stumpenland“ trägt. Er wird in eine liberale Familie unternehmerischer Männer und Frauen - ja auch Frauen!- hineingeboren, die in zweiter Generation die Zigarren-Fabrik Villiger führt. Nach dem Besuch der alten Kantonsschule Aarau, - der gleichen, an der auch einstmals Albert Einstein sein Abitur nachholte - entscheidet sich Villiger für ein Studium des Maschinenbaus an der Eidgenössischen Technischen Hochschule das er 1966 mit einer Arbeit über Nukleartechnik abschliesst. Dabei, so in einem frühen Portrait, sei es „weniger die Technik an sich, als vielmehr der intellektuelle Reiz der dahinterstehenden mathematischen und physikalischen Gesetzmässigkeiten“ gewesen der ihn faszinierte.7 Das lässt sich nachvollziehen. Diese Neugier, auf dem Weg der Empirie systemische Zusammenhänge mit einem an den Naturwissenschaften geschärften Denken zu ergründen zieht sich wie ein roter Faden durch Villigers Reden und politische Schriften. Er ist ein Analytiker. Auf der Suche nach der inneren Mechanik politischer Prozesse, der konzeptionellen Ausrichtung von Institutionen mit dem Ziel den handelnden Individuen die richtigen, vor allem nicht die falschen Anreize zu setzen, kombiniert er praktische politische Erfahrung mit den Erkenntnissen moderner Verhaltensökonomie.8 Welche demokratischen 6 Strukturen, welche politischen Institutionen machen eine Gemeinschaft, einen Staat erfolgreich? Und nicht nur Institutionen, sondern vor allem: welche politische Kultur? Wie bei den Feineinstellungen eines Regelkreislaufs weiss er, dass kleine Abweichungen im institutionellen Gefüge erhebliche Auswirkungen haben und über das Erblühen oder den Niedergang staatlicher Gebilde entscheiden können, - oder auch supranationaler. Natürlich ist Villiger ein überzeugter Anhänger der direkten Demokratie der Schweiz. Sie ist in seinen staatspolitischen Essays häufig der Angelpunkt jenes filigranen Zusammenspiels das eine ganze Kaskade an Veränderungen nach sich zieht in denen sich plebiszitäre von parlamentarische Demokratien grundlegend unterscheiden. Volksabstimmungen vermitteln immer eine hohe politische Legitimität und können, man sieht das zur Zeit, leicht Kalamitäten auslösen. Deshalb, Villiger erklärt dies klar, verändert in einer direkten Demokratie das permanente Damoklesschwert eines möglichen Referendums den gesamten Gesetzgebungsprozess. Die Ergebnisse müssen letztlich immer an der Urne potenziell mehrheitsfähig sein. Unter diesem Druck hat die Schweiz das Modell der Konkordanzdemokratie entwickelt in der die Parteien keine Koalitionen bilden, sondern mit hohem Anspruch an Konsensfähigkeit gezwungen sind mehrheitsfähige Ergebnisse zu erarbeiten. Man kann keine Neuwahlen erzwingen, im Gegenteil, das Nebeneinander von regelmässigen Sachabstimmungen und Wahlen führt letztlich dazu, dass letztere weniger bedeutsam werden. Neue Impulse aus der Zivilgesellschaft finden über Initiativen, nicht über Parteien den Weg in die öffentliche Debatte. Andererseits darf die Niederlage in einer Volksabstimmung weder Parlament noch Regierung destabilisieren. Die plebiszitäre Entscheidung, den Entscheid, wie man in 7 der Schweiz in der starken Form sagt, nimmt man zur Kenntnis und geht an die Arbeit, nicht in den Wahlkampf oder zur 345. Montagsdemo auf den Schlossplatz. Die Bedeutung solcher Zusammenhänge macht Villiger in seinen Analysen genauso bewusst, wie die Tatsache dass die Angst vor Volksentscheiden genauso alt ist wie ihre mythische Verklärung. 9 Vor allem zeigt er auf, dass die direkte Demokratie niemals als singuläre Massnahme, quasi als magic bullet, taugt. Dies sei denen hierzulande zur Lektüre empfohlen, die zurzeit mit der Forderung nach reinen Verweigerungs- oder Denkzettel- oder Majorisierungsplebisziten Radau machen und dabei häufig irreführend den Zusatz „nach Schweizer Vorbild“ im Munde führen. Sie haben es nicht verstanden. In seinen politischen Analysen formuliert Villiger, ganz Ingenieur, sachlich, klar; enumeriert gerne Problemfelder und logisch abgeleitete Lösungsstrategien. Ja in der Form ist es stets, wie die NZZ einmal feststellte „eher die protestantische Nüchternheit die ihn auszeichnet, als opulent barockes Lebensgefühl der katholischen Innerschweiz“. 10 Im Inneren aber brennt spürbare Leidenschaft. Die Leidenschaft des Liberalen für die Freiheit, für Selbstverantwortung, für das selbstverständliche staatsbürgerliche Engagement. „Eine Willensnation muss wollen!“ ruft er seinen Mitbürgern mit irritierendem Pleonasmus ins Gewissen und es ist „Zeit für eine liberale Konterrevolution.“ 11 Leidenschaft pflegt er auch im sprachlichen Ausdruck, für das präzise, auch das „träfe“, das heisst trocken-humorvoll-treffende Wort. Während seines polytechnischen Literaturgeschichte bei Studiums Karl hört Schmid, wirkungsmächtigen liberalen Intellektuellen. er dem 12 mit Begeisterung Germanisten und Dies, ebenso wie die Jugendfreundschaft zum Schriftsteller Hermann Burger, 13 dem in den 8 Brenner-Romanen sogar ein literarischer Zugang zu Kaspar Villiger zu verdanken ist, reflektiert seine Vielseitigkeit, sein breites Interesse und den weiten Bildungshorizont. Doch 1966, nach dem unerwarteten Tod des Vaters weist das Schicksal den Lebensweg. Kaspar Villiger übernimmt, 25 jährig, gemeinsam mit seinem älteren Bruder die Zigarrenfabrik, erarbeitet sich das ökonomische Rüstzeug, wird Patron am Schweizer Stammsitz. Ein innovativer Familienunternehmer der höchst erfolgreich neben den Zigarren in eine Fahrradfabrik diversifiziert – beides fordert in gewissem Sinne die Lungen heraus. Noch wichtiger aber: der Unternehmer Villiger sieht sich unmittelbar mit der Realität des ökonomischen Umfeldes und der Bedeutung wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen konfrontiert. Das politisiert ihn. Sein Impuls zum Engagement entfaltet sich im nebenberuflichen Milizprinzip. Ein solches selbstverständliches Bekenntnis zum Einbringen von beruflicher und persönlicher Kompetenz auf den unterschiedlichsten Ebenen staatlicher Organisation, auch, aber nicht nur des Militärs, ist die eigentliche Betriebswärme der Schweizer Demokratie. Villiger wird zunächst Präsident des aargauischen Arbeitgeberverbandes und dann als hauptberuflicher Unternehmer, Fabrikant nannte man das damals, Milizparlamentarier. Zunächst im Grossen Rat des Kantons Luzern und ab 1982 im eidgenössischen Parlament, dem Nationalrat wo er sich rasch den Ruf eines dossierfesten, über die Parteigrenzen geschätzten Abgeordneten erwirbt. Schon fünf Jahre später ist er der unangefochtene Anwärter seines Kantons für die kleine Kammer, den Ständerat. Villiger verstand und versteht sich immer als Unternehmer in der Politik, nicht umgekehrt. Das klingt in deutschen Ohren fast suspekt. Klaus von 9 Dohnanyi hat ja an dieser Stelle auf die Tragik der deutschen Freiheitsgeschichte hingewiesen in der das, Bildungsbürgertum bis heute den Unternehmern, den eigentlichen Vorkämpfern für Handel und wirtschaftliche Freiheit, den Impulsgebern für Fortschritt und Wohlstand, mit Skepsis oder geradezu Geringschätzung begegnet. Selbstbewusst charakterisiert dagegen Villiger zu Beginn seiner politischen Tätigkeit, dass „ein selbständiger Unternehmer im allgemeinen über eine erfreuliche politische Unabhängigkeit“ verfügen, ungestraft seine eigene Berufsorganisation ärgern, und sich „mehr als andere den Luxus der eigenen Meinung leisten“ könne.14 Freisinn eben. Diese Unabhängigkeit ist bei ihm allerdings immer mit der Einsicht verbunden, dass „das freiheitliche Wirtschaftssystem nur bestehen kann, „wenn die Mehrheit der Unternehmer im Wesentlichen verantwortlich handelt.“ „Die Mehrheit ... im Wesentlichen“, so blickt er nüchtern, nicht idealisierend auf die menschliche Natur. Gerade darum bilden Freiheit und Verantwortung ein natürliches, untrennbares Begriffspaar. Als Ordnungspolitiker stehen für ihn vor allem Fragen der Wirtschafts-, Finanz- und Bildungspolitik im Zentrum. Er gehört aber zu den Ordoliberalen, denen das schöne Wort vom „liberalen Gemeinsinn“ ohne Zögern und Vorbehalt über die Lippen kommt. Ein hinreichender Wohlstand ist für ihn stets eine Voraussetzung für Freiheit. Ein soziales Netz unabdingbarer Bestandteil einer dem Strukturwandel unterworfenen Marktwirtschaft. Markt und Staat, aber auch Markt und Moral nennt er nicht Antipoden, sondern Komplementaritäten. „Es geht also nicht“, ich zitiere ihn „um Markt oder Moral und Markt oder Staat, sondern um Markt und Staat und Moral.“15 Im europäischen Schicksalsjahr 1989 befindet sich die Schweiz nach einem erzwungenen Rücktritt im Bundesrat in innenpolitischen Turbulenzen. Schon als möglicher Kandidat für das Regierungsamt wird 10 Villiger als ein Politiker porträtiert, dessen Bescheidenheit, Gelassenheit, aber auch Urteilssicherheit [...] „gepaart mit dem Sinn für den Kern der Dinge“ imponiert. liberaler Protestant Mit seiner Wahl zum 99. Bundesrat kommt ein aus der katholischen Innerschweiz in die Landesregierung, blockiert damit für die Konservativen dieser Region einen Regierungssitz und beendet zugleich die seit 141 Jahren ununterbrochene Präsenz des Kantons Zürich. Fast eine kleine Revolution. „Ich bin kein Taktiker. Allerdings glaube ich zu spüren, was politisch machbar ist“, so hat er sich selbst charakterisiert. Er ist aber auch kein Pragmatiker, diesem Begriff haftet orientierungslose Konsenssuche an –, nein, er ist vielmehr ein Praktiker der Politik, der mit klarer Orientierung an liberalen Werten seinen Kurs in dieser Zeit der Umbrüche im Griff behält. Persönliche Integrität und Entschlusskraft unterstreicht Villiger durch die Tatsache, dass er der Herzblutunternehmer, nach 23 Jahren erfolgreicher Tätigkeit, sich unmittelbar nach der Wahl vollumfänglich, ohne Rückkaufsrecht von seinen Unternehmensanteilen trennt. Der Wert persönlicher Freiheit war ihm wichtiger als das Fortführen einer Familientradition. In der Schweiz werden die Ministerien nicht nach Wahlresultaten oder einer Koalitionsabsprache vergeben, sondern nach dem Ancienitätsprinzip: wer schon länger im Amt ist darf zuerst Wünsche äussern. Villiger erhielt das Militärdepartement zugewiesen. Von 1989 bis 1995 war er Verteidigungsminister. In dieser Zeit in der sich die geopolitische Bipolarität militärischer Blöcke in Europa auflöste, rang das Land um seine Identität. Denn kurz nach dem Fall der Berliner Mauer stimmte die Bevölkerung über eine Volksinitiative zur Abschaffung der 11 Armee ab – für einen Verteidigungsminister eine ziemlich essentielle Sache – und Erschütterung. das traditionsbewusste Land eine emotionale In deren Folge wurden weit über die Reform und vollständige sicherheitspolitische Neuausrichtung der Streitkräfte hinaus Themen der staats- und gesellschaftspolitischen Selbstvergewisserung und Öffnung für Villiger zentral. Gerne hätte er damals auch seinem Land den Weg, nicht in die EU, aber in den EWR gewiesen. Bei dieser legendären Abstimmung unterlag 1993 aber der liberale Mut einer nationalkonservativen Angst um Haaresbreite. Für das Jahr 1995 wurde Villiger turnusgemäss erstmals zum primus inter pares, zum Bundespräsidenten gewählt. In einer historischen Rede vor der vereinigten Bundesversammlung fand er zum 50. Jahrestag des Kriegsendes das richtige Gleichgewicht, zwischen dankbarer Erinnerung an die Generation des Aktivdienstes und kritischer Hinterfragung mutloser Facetten der Politik während des Zweiten Weltkriegs. Es steht uns als Nachgeborenen, auch als nachgeborenen Deutschen, nicht zu über die Politik der Schweiz in dieser Zeit pauschal zu urteilen oder wohlfeile Kritik zu üben. Aber das Eingeständnis, dass die Schweiz gegenüber Juden, die an der Grenze zurückgewiesen wurden, Schuld auf sich geladen hat und seine, im Namen des Bundesrates ausgesprochenen Worte des tiefen Bedauerns und der ehrlichen Entschuldigung wurden nicht nur von der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz mit grosser Genugtuung und Dankbarkeit aufgenommen.16 „Er is a Mensch“ 17 sagte Sigi Feigel, der Vorsitzende der israelitischen Cultusgemeinde über Villiger und meinte damit, was alle empfanden: es bedurfte der moralischen Autorität eines Kaspar Villiger um ein solches Schuldeingeständnis öffentlich auszusprechen, ohne damit in einem 12 durch die Diskussion der Geschichte aufgewühlten Land neue Gräben aufzuwerfen. Ende 1995, nach einer erneuten Vakanz im Bundesrat, übernahm Villiger – nun konnte er wählen – das Finanzdepartement. Hier waren sein ordnungspolitisches Denken, seine unternehmerischen Fähigkeiten, seine wirtschaftlichen Kenntnisse und sein Kommunikationstalent erst recht gefragt. Als Stichworte erwähnt seien die Debatte um nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Banken, der erfolgreiche Abschluss eines Zinsbesteuerungsabkommen mit der EU und das notwendige Handeln beim Grounding der Swissair Doch über die Aufgaben des politischen Alltags hinaus sind es vor allem zwei erfolgreiche Grossprojekte, mit denen das liberale Denken und Handeln Villigers bleibende Spuren hinterlassen hat. Mit Villigers Amtsantritt als Finanzminister wurde die finanzielle Sanierung des Bundeshaushaltes zur vordringlichsten Aufgabe. Das jährliche strukturelle Defizit bemass sich damals auf 5 bis 9 Milliarden, bei Gesamtausgaben von rund 40 Milliarden Franken. Anstatt um einzelne Haushaltstitel im Parlament zu feilschen suchte er einen nachhaltigen, liberalen und konzeptionellen Ansatz zur Lösung dieser Schieflage. So gelang es ihm zuerst, in langwierigen Verhandlungen mit allen Parteien und wesentlichen Interessengruppen eine bindende Ausgabenbegrenzung festzuschreiben. Mit einem Strauss im Voraus definierter, alle Interessengruppen gleichermassen treffender Sanktionen, im Falle einer Überschreitung, wurde die kohärente Strategie verfolgt das strukturelle Defizit des Bundes zum Verschwinden zu bringen. Das Programm war so erfolgreich dass bereits im Jahre 13 2000 statt des budgetierten Fehlbetrages wieder ein Gewinn von 4,5 Milliarden verbucht werden konnte, worauf sich umgehend die Begehrlichkeiten der Politiker aller Couleurs ankündigten. Das Schumpeter zugeschriebene Diktum schien sich zu bewahrheiten, wonach „ein Hund eher ein Wurstlager anlegt, als ein demokratisches Parlament spart“. Dies antizipierend überführte Villiger seine glaubwürdige und erfolgreiche Finanzpolitik in die Erarbeitung der ersten in der Verfassung festgeschriebenen Schuldenbremse. Das heisst in eine globale Vorgabe, die restriktiv genug ist um Budgetdisziplin einzufordern und ausreichende Flexibilität aufweist um auf Konjunkturschwankungen reagieren zu können. Mit anderen Worten: in Zeiten guter Konjunktur müssen zwingend Überschüsse erwirtschaftet werden damit in schlechten Zeiten auch konjunkturelle Impulse gesetzt werden können.18 Diese Schuldenbremse, wurde, und hier erkennt man die grossen Stärken der direkten Demokratie, in einer Volksabstimmung mit überwältigenden 85 % Ja-Stimmen angenommen, was, „auch dem letzten Hinterbänkler klarmachte, dass es wie früher nicht mehr weitergehen konnte.“ Seit 2003 wird die Schuldenbremse bei der Budgetierung des Bundes eingesetzt. Dank des inhärenten Mechanismus, dass Defizite getilgt werden, Überschüsse aber bestehen bleiben haben seither die Bruttoschulden des Bundes um 20% auf 104 Milliarden Franken abgenommen und die Verschuldungsquote sank von 26 auf 16% des BIP.19 So sieht eine nachhaltige, verantwortungsvolle, eben liberale Finanzpolitik aus. In Anlehnung an das erfolgreiche Modell ist zurzeit übrigens eine Schuldenbremse für die Rentenkasse in der parlamentarischen Beratung. Lars Feld hat das Bonmôt schon einmal gebraucht: Die Schuldenbremse, die heute als Erfolgsmodell um die Welt geht: wer hat sie erfunden? 14 Es wäre aber nicht Villigers Art, wenn er die Schuldenbremse nicht in ein breites Konzept einer kohärenten Finanzpolitik eingebettet hätte. Das noch grössere und komplexere Reformprojekt, das mit seinem Namen verbunden ist, ist die grosse Föderalismusreform der Schweiz: die „Neugestaltung der Aufgabenteilung und des Finanzausgleichs“ (NFA). Das ist ein Terrain, auf dem man sich verirren kann, wenn ein liberaler Kompass fehlt. Das in Villigers Amtszeit in gleichberechtigter Zusammenarbeit von Bund und Kantonen erarbeitete Modell hat aber sein Ziel erreicht. Es hat das seit jenem kühnen Wurf von 1848 spielende, föderalistisch wettbewerbliche Prinzip der Schweiz der Gegenwart angepasst, ohne einer Zentralisierung Vorschub zu leisten. Das Primat der Subsidiarität galt als Richtschnur. Bei der Entflechtung und Neuzuteilung der Aufgaben war die Stossrichtung klar: von 31 Verbundaufgaben gingen 6 in die alleinige Verantwortung des Bundes aber 15 in die der Kantone über. Innerstaatliche Kompetition um die besten Lösungswege ist das Ziel. Hier sei daran erinnert, dass in der Schweiz neben dem Bund auch die Kantone und Gemeinden Steuern, nicht nur Unternehmenssteuern, sondern auch Einkommens- (und Vermögens)steuern von natürlichen Personen, mit lokal unterschiedlichen Steuersätzen erheben. Das ist der politisch autonom gestaltbare Faktor für Standortattraktivität und damit innerstaatlichen Wettbewerb. Gleichzeitig liegt hierin die Voraussetzung des fiskalischen Äquivalenzprinzips. Das heisst eine von einer Ebene benötigte oder gewünschte Aufgabe, wird von dieser entschieden, durchgeführt und auch finanziert. Das sichert Effizienz. Dass das Privileg dieser Freiheit auch Haftung bedeutet, wurde am berühmten Beispiel der Gemeinde Leukerbad deutlich, die Ende der neunziger Jahre wegen zu hoher Verschuldung bankrottging, ohne dass der Kanton die Schulden 15 übernommen hätte. Die Gemeinde hat noch heute den höchsten Steuerfuss im Kanton und zahlt noch immer ab. Eine Erfahrung, die andere vorsichtig werden liess. Natürlich benötigt auch dieses System einen Finanzausgleich, zwischen starken und schwachen Gliedstaaten. Dabei gelang es über die Definierung eines sogenannten „Ressourcenpotenzials“, also der potenziell fiskalisch ausschöpfbaren Wertschöpfung ein Mass für die Wirtschaftskraft zu finden, die den Anreiz für Wettbewerb auf einer fairen Basis erhält. Transfermittel stehen den Nehmerkantonen zur freien Verfügung um einen möglichst effizienten Einsatz gemäss der individuellen politischen Prioritäten sicher zu stellen. Auch dieses Projekt hat im vergangenen Jahrzehnt seine Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit unter Beweis gestellt. 20 Es gilt unter Experten als beispielhaftes wettbewerbliches Föderalismusmodell. Ein Schelm wer jetzt an ein liberales Europa denkt. Nach 15 Jahren im Bundesrat und einem zweiten Präsidialjahr, in dem er die Schweiz als 190. Mitgliedsstaat in die Vereinten Nationen führte, trat Villiger 2003 zum Ende der Legislaturperiode von seinem Amt zurück. „Kein inszenierter Knalleffekt, keine wahltaktischen Pirouetten, kein selbstgefälliges Ego-Marketing“ schrieb die NZZ. Er blieb sich treu und versprach aus der Öffentlichkeit zu verschwinden; eben: servir et disparaître. Als Pendler zwischen Politik und Wirtschaft kehrte Villiger, nach einiger Zeit, nochmals zu letzterer zurück. Er wurde Verwaltungsrat bei Swiss Re, Nestlé, und bei der AG für die Neue Zürcher Zeitung, übrigens auch diese nicht nur inhaltlich eine besondere Institution des Schweizer Liberalismus: kein Inhaber darf mehr als 1% des Kapitals besitzen und überhaupt kann nur Aktionär werden kann, wer Mitglied der 16 FDP ist oder sich zumindest schriftlich zur freisinnig-demokratischen Grundhaltung bekennt. Das liberale Bürgertum leistet sich seine Zeitung. Mitten in den Turbulenzen der Finanzkrise erreichte Villiger aber nochmals „der Ruf des Vaterlandes“. Wiederum war es seine moralische Autorität, ja personifizierte Integrität, die gebraucht wurde um als Verwaltungsratspräsident einer knapp dem Konkurs entgangenen UBS den Neuanfang zu sichern und die Bank in ruhigeres Gewässer zu steuern. Wohlwissend um das Risiko und die Gefahr seine persönliche Reputation aufs Spiel zu setzen übernahm er „als Mann für die nationalen Emotionen“ diese Aufgabe letztlich als staatsbürgerliche Pflicht - und erst nachdem er seine Vergütung auf einen Bruchteil des Üblichen heruntergehandelt hatte. Ja, zur Freiheit gehört Mut. Kaspar Villiger hat ihn wiederholt bewiesen. Trotz neuer Unbill gelangen Beruhigung und Turnaround, auch wenn, wie Villiger rückblickend feststellte, er sich „neben der wirtschaftlichen noch eine stärkere Veränderung der Unternehmenskultur“ gewünscht hätte. Bevor er allerdings 2012 den Stab an seinen Nachfolger Axel Weber weiterreichte, liess eine Aktion die Handschrift Villigers auch in diesem Unternehmen spüren. Aus Anlass ihres Jubiläums begründete die noch kurz zuvor von Staat und Nationalbank gerettete Bank eine mit über 100 Millionen Franken ausgestattete Stiftung zur Verständnisses von Wirtschaft und Gesellschaft. Förderung 21 des Ein Center of Economies in Society, eine Spritze für Exzellenzforschung mit fünf neuen Lehrstühlen. Auch das ist Orientierung an Werten, an denen des ehrbaren Kaufmanns: der mit einem an Tugenden ausgerichteten Handeln langfristiges Vertrauen schafft und gleichzeitig zu Innovation und Weiterentwicklung unserer freiheitlichen Gesellschaft beiträgt. 17 In Kaspar Villiger ehren wir einen umsichtigen politischen Handwerker, einen tätigen Gärtner im Weinberg der Freiheit, der es verstand in der Politik seines Landes immer wieder der Freiheit Raum und der Selbstverantwortung Nachdruck zu verschaffen. Wir ehren einen politischen Denker, der die empirische Erfahrung des politischen Alltags zu kohärenten Regeln und Thesen verdichtet und liberale Konzepte zur Praxisreife führte. Indem wir ihn ehren preisen wir auch was wir hierzulande zu häufig vermissen: das leidenschaftliche Engagement des Unternehmers für die res publica, nicht um des Vorteils willen, sondern aus der Selbstverständlichkeit des citoyens. Politische Analysen, liberale Argumente und Neues aus der Stiftungswelt: Beilage Nr. 70 zur Allgemeinen Zeitung. Leitartikel Blicke auf die Zeitereignisse. 10. 3. 1848 Megerle, Karl: Die Bundesverfassung der Schweiz vom 12. September 1848 und die Verfassung der Paulskirche. Dissertation. Osiandersche Buchhandlung Tübingen 1922 3 Villiger, Kaspar: Eine Willensnation muss wollen. Die politische Kultur der Schweiz: zukunfts- oder Auslaufmodell? Verlag Neue Zürcher Zeitung: Zürich 2009. 4 Historisches Lexikon der Schweiz. Schwabe Verlag: Basel 2001- 2014. 5 Karl August Varnhagen von Ense an Ignaz Paul Vital Troxler, in: 1848 Augenzeugen der Revolution. Hsg von Peter Goldammer, Rütten & Loening, Berlin 1973. 6 K. Pawek. Raucher, hört die Signale. 19. September 1997;DIE ZEIT, 39/1997 7 NZZ 28./29.1.1989 8 Villiger, Kaspar: Demokratie und konzeptionelles Denken. Verlag Neue Zürcher Zeitung: Zürich 2015. 9 Villiger, Kaspar: Eine Willensnation muss wollen. Die politische Kultur der Schweiz: zukunfts- oder Auslaufmodell? Verlag Neue Zürcher Zeitung: Zürich 2009. 10 dito 11 NZZ 29.6.2015: soziale Kälte contra liberalen Gemeinsinn. 12 Schmid, Karl: Unbehagen im Kleinstaat, Artemis: Zürich 1963. 13 Burger, Hermann: Brenner 1: Brunsleben, Brenner 2: Menzenmang. Hanser (Nagel & Kimche): München 2014. 14 NZZ 28./29.1. 1989 15 „Moral, Moralismus und Markt“, in: Villiger, Kaspar: Pendler zwischen Wirtschaft und Politik: Essays und Reden, Stämpfli: Bern 2014. 16 Villiger, Kaspar: Zukunft gestalten statt ängstlich verharren. Liberalismus in der Verantwortung. Ausgewählte Reden 1989-2003. Verlag Neue Zürcher Zeitung: Zürich 2004. 17 NZZ 30.10.2003 18 Beljean, Tobias: Schuldenbremse – konjunkturverträgliche Konsolidierung des Bundeshaushalts. Die Volkswirtschaft 11-2001: 34-37. 19 https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/32874.pdf 20 Taboga, Svetlana und Utz, Pascal: Nationaler Finanzausgleich – ein Grundpfeiler des Föderalismus unter der Lupe. Die Volkswirtschaft 10-2014: 38-41. 21 NZZ 20.04.2012 1 2 18
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