Versicherungsmathematik - homepages.math.tu

Jochen Blath(1), Marcel Ortgiese(2) und Michael Scheutzow(1)
Versicherungsmathematik
(1)
TU Berlin und (2) U Bath
Vorlesungsmanuskript WiSe 2016/2017
Version vom 14. November 2016
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1
1.1
Begriff der Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.2
Zur Einteilung des Fachgebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.3
Aufgaben der Versicherungsmathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.4
Grundbegriffe und Notation aus der Stochastik . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.5
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
2 Grundlagen der Lebensversicherungsmathematik
2.1
2.2
9
Elementare Finanzmathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2.1.1
Verzinsung und Kapitalfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2.1.2
Bewertung von Zahlungsströmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1.3
Einschub: Funktionen von beschränkter Variation . . . . . . . . . . 20
2.1.4
Axiomatische Begründung der Barwertdefinition . . . . . . . . . . . 25
2.1.5
Äquivalenzprinzip und Deckungskapital . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Grundlagen der Lebensversicherungsmathematik . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.2.1
Sterbewahrscheinlichkeiten und Sterbetafeln . . . . . . . . . . . . . 29
2.2.2
Elemente eines Lebensversicherungsvertrags . . . . . . . . . . . . . 33
2.2.3
Das Nettodeckungskapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.2.4
Die Thielesche Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.2.5
Die Thielesche Integralgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3 Der Satz von Hattendorf
47
3.1
Nettoeinmalprämie (NEP) und Varianz des Barwerts . . . . . . . . . . . . 47
3.2
Einschub: Martingale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.3
Der Satz von Hattendorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
i
ii
INHALTSVERZEICHNIS
3.4
Erweiterungen des Modells und Bestimmung der Sterbeverteilung . . . . . 60
3.4.1
Einbeziehung der Kosten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3.4.2
Verträge mit verschiedenen Ausscheideursachen (konkurrierende Risiken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3.4.3
Schätzung von Sterbewahrscheinlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 61
3.4.4
Weitere Fragen / Probleme in der Personenversicherungsmathematik 62
A Anhang
63
A.1 Maßtheorie: eine kurze Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
A.2 Bedingte Erwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Index
67
Literaturverzeichnis
68
Kapitel 1
Einleitung
1.1
Begriff der Versicherung
Die moderne Versicherungsmathematik kann aufgefasst werden als ein Zweig der angewandten Stochastik (und darauf liegt unser Augenmerk in dieser Vorlesung), ist allerdings
auch ein Teilgebiet der sogenannten Versicherungswissenschaft, und hat damit vielfältige
Anknüpfungspunkte an weitere (etwa wirtschafts- oder rechtswissenschaftliche) Disziplinen.
Infolgedessen existieren mehrere Definitionen des Begriffes Versicherung bzw. Versicherungsvertrag.
Definition 1.1 (Farny et. al. 1988). Versicherung ist die Deckung eines im einzelnen
ungewissen, insgesamt geschätzten Mittelbedarfs auf der Grundlage des Risikoausgleichs
im Kollektiv und in der Zeit.
Eine weitere Möglichkeit:
Definition 1.2 (Wikipedia 03/2006). Eine Versicherung (bzw. ein Versicherungsvertrag)
ist die entgeltliche, rechtsverbindliche, selbständige Zusage einer Leistung für den Fall,
dass ein Ereignis, der sogenannte Versicherungsfall, eintritt (von dem ungewiss ist, ob
und wann er eintritt), wobei ein kollektiver Risikoausgleich stattfindet.
Laut [MH99] sind den meisten Definitionen drei Hauptmerkmale des Versicherungsgeschäfts gemein, und zwar
• Ungewissheit hinsichtlich des versicherten Ereignisses,
• Notwendigkeit von Risikokalkulation und Risikoausgleich,
• Finanzierung aus Entgelten.
1
2
KAPITEL 1. EINLEITUNG
Akteure sind hier mindestens der Versicherungsnehmer (VN) und der Versicherer (VR),
meist in Form eines Versicherungsunternehmens (VU). Entscheidend aus juristischer Sicht
(in Deutschland) ist weiterhin das Versicherungsvertragsgesetz (VVG).
1.2
Zur Einteilung des Fachgebiets
Die Gliederung der Versicherungsarten ist historisch gewachsen und nicht immer konsistent. Je nachdem, ob man nach dem versicherten Gegenstand oder nach Art der Versicherungsleistung unterscheidet, ergibt sich eine Einteilung in
Personen- und Sachversicherung
oder
Summenversicherung und Schadenversicherung.
Beispiele für Versicherungszweige (oder Versicherungssparten oder Versicherungsbranchen oder Versicherungsarten):
•
•
•
•
•
•
Lebensversicherung
Haftpflichtversicherung
Gebäudeversicherung
Kraftfahrzeugversicherung
Pensionsversicherung
Rückversicherung
Inkonsequenterweise unterteilt man das Fachgebiet Versicherungsmathematik oft in Personenversicherungsmathematik und Schadenversicherungsmathematik. Im Englischen hat
man es hier einfacher:
Life insurance mathematics und Non-life insurance mathematics.
1.3
Aufgaben der Versicherungsmathematik
Allgemein: Bereitstellen von Kalkülen, deren Anwendungen durch einen VR oder ein
VU einen Risikoausgleich zwischen den VN und auch in der Zeit erlaubt. Konkreter
(laut [MH99]):
•
•
•
•
Mathematische Beschreibung des versicherten Risikos
Statistisch gesicherte Erstellung von Rechnungsgrundlagen (Sterbetafeln etc.)
Tarifierung und Prämienkalkulation
Versicherungstechnische
Analyse
(Überschussermittlung,
Controlling,
Überschusszerlegung nach Ursachen, Renditeberechnungen)
1.4. GRUNDBEGRIFFE UND NOTATION AUS DER STOCHASTIK
3
• Risikoteilung VN – VU – Rück-VU
• Berechnung von Rückstellungen / Reservierungen
• Beschreibung des Zinsrisikos, Steuerung von Kapitaleinlagen, Asset-Liability management
1.4
Grundbegriffe und Notation aus der Stochastik
Wir wiederholen hier nur einige elementare Grundbegriffe, um die Notation der Vorlesung
einheitlich festzulegen.
Alle stochastischen Objekte in dieser Vorlesung sind definiert auf einem Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, F, P). Alle Zufallsvariablen sind messbare Abbildungen von diesem Wahrscheinlichkeitsraum in einen geeigneten Messraum, so dass das Urbild jeder messbaren
Menge F-messbar ist. Typischerweise ist dieser Messraum (R, B(R)), wobei B(R) die
σ-Algebra der Borel-messbaren Mengen in R bezeichnet, das heißt: B(R) ist die kleinste
σ-Algebra über R, welche alle offenen Teilmengen von R enthält. Wir versehen (R, B(R))
noch mit dem Lebesgue-Maß ` : B(R) → [0, ∞], das Intervallen ihre Länge zuordnet, also
für −∞ ≤ a < b ≤ ∞ gilt
Z
b
Z
dt = b − a,
dt =
`((a, b]) =
a
(a,b]
und dadurch eindeutig auf B(R) festgelegt ist. Man beachte die obigen beiden Schreibweisen für den Integrationsbereich des Integrals. Später wird es oft auf die Randpunkte
des Integrationsbereiches ankommen, so dass wir die zweite Schreibweise bevorzugen.
Beispiel 1.3. (aus der Lebensversicherung:) Der Sterbezeitpunkt T eines Individuums
wird modelliert als eine Zufallsvariable, d.h. eine messbare Abbildung T : Ω → [0, ∞)
(also T (ω) ∈ R für alle ω ∈ Ω sowie T −1 (B) ∈ F für alle B ∈ B([0, ∞))).
Sei nun FX die Verteilungsfunktion einer reellen Zufallsvariable (ZV) X : Ω → R, d.h.,
für x ∈ R,
FX (x) = PX ((−∞, x]) := P{X ≤ x} := P{ω : X(ω) ≤ x},
wobei das Wahrscheinlichkeitsmaß PX auf (R, B(R)) die Verteilung von X heißt. Man
schreibt auch PX = P ◦ X −1 , das Bildmaß von P unter X.
Für jede solche Verteilungsfunktion FX : R → [0, 1] gilt: FX ist monoton wachsend,
rechtsstetig und
lim FX (x) = 0, lim FX (x) = 1.
x→−∞
x→∞
4
KAPITEL 1. EINLEITUNG
Beachte die 1-1 Beziehung zwischen Wahrscheinlichkeitsmaßen auf (R, B(R)) und Verteilungsfunktionen via
FX (b) − FX (a) = PX ((a, b]),
−∞ ≤ a ≤ b ≤ ∞.
Beispiel 1.4. Für y ∈ R definieren wir das Dirac-Maß δy (dx) : B(R) → {0, 1} (also das
Maß mit Einheitsmasse in y ∈ R) für Borelmengen A ∈ B(R) durch
(
1, y ∈ A,
δy (A) :=
0, y ∈
/ A.
Man sagt auch: δy ist ein atomares Maß mit einem Atom der Masse 1 in y (oder: mit
Einheitsmasse in y). Die zugehörige Verteilungsfunktion hat einen Sprung der Höhe 1 bei
y, da F (x) = 0 für x < y und F (x) = 1 für x ≥ y. Insbesondere haben wir, für stetige
reelle Funktionen g,
Z
g(x) δy (dx) = g(y).
R
Allgemeiner gilt: Hat eine Verteilungsfunktion einen Sprung der Höhe h ∈ (0, 1] in einem
Punkt y ∈ R, so hat die zugehörige Verteilung dort ein Atom der Masse h.
Falls FX eine Wahrscheinlichkeitsdichte fX auf R besitzt, gilt
Z b
fX (x) dx,
FX (b) =
−∞
und der Erwartungswert von X (falls existent) lässt sich schreiben als
Z ∞
xf (x) dx.
E[X] =
−∞
Allgemeiner ist der Erwartungswert einer ZV X : Ω → R mit (nicht notwendigerweise
absolut stetiger) Verteilungsfunktion FX gegeben durch
Z
Z
E[X] :=
X(ω) P(dω) =
X dP
Ω
Ω
Z ∞
=
x PX (dx)
−∞
Z ∞
=
x dFX (x).
−∞
Allgemeiner gilt, dass wenn g : R → R eine messbare Funktion und X eine Zufallsvariable,
dann können wir den Erwartungswert von g(X) berechnen als
Z
Z
E[g(X)] =
g(x)PX (dx) =
g(x) dFX (x),
R
R
1.4. GRUNDBEGRIFFE UND NOTATION AUS DER STOCHASTIK
5
vorausgesetzt die linke Seite ist wohldefiniert. Existiert E[X 2 ], so ist die Varianz der ZV
X definiert durch
V(X) = E[X 2 ] − (E[X])2 = E[(X − E[X])2 ],
und analog die Kovarianz zweier ZVen X, Y (mit E[X 2 ], E[Y 2 ] < ∞) durch
C(X, Y ) = E[(X − E[X])(Y − E[Y ])] = E[XY ] − E[X]E[Y ].
Schließlich erinnern wir noch an die folgende Standardnotation. Es sei, für A ⊂ R,
(
1, für x ∈ A,
1A (x) :=
0, für x ∈
/ A,
die Indikatorfunktion der Menge A. In dieser Notation ist die Verteilungsfunktion des
Dirac-Maßes δy (dx) aus Beispiel 1.4 gegeben durch 1[y,∞) (x), x ∈ R.
Beispiel 1.5. Exponentialverteilung. Wir sagen, dass eine Zufallsvariable X exponentialverteilt mit Parameter λ > 0 ist, wenn sie die Dichte
fX (x) = λe−λx 1l{x≥0} , x ∈ R,
hat. Beispielsweise lässt sich der Erwartungswert von X dann berechnen als
Z
Z ∞
Z ∞
−λx ∞
1
−λx
E[X] =
xfX (x) dx =
xλe
dx = xe ]0 +
e−λx dx = ,
λ
R
0
0
wobei wir im letzten Schritt partielle Integration benutzt haben.
Für nicht-negative Zufallsvariablen lässt sich der Erwartungswert häufig leicht mit Hilfe
des folgenden Lemmas berechnen.
Lemma 1.6. Es sei X eine nicht-negative Zufallsvariable mit Verteilungsfunktion FX ,
dann gilt
Z ∞
E[X] =
(1 − FX (x)) dx.
0
Übungsaufgabe 1.7. Beweisen Sie Lemma 1.6.
Wir betrachten häufig Funktionen f : D → R mit Definitionsbereich D ⊂ R mit den
folgenden Eigenschaften:
• f ist nicht-fallend oder monoton wachsend, wenn
f (x) ≤ f (y) für alle x < y,
x, y ∈ D,
gilt. f ist streng monoton wachsend wenn f (x) < f (y) gilt. Analog wird nichtwachsend oder monoton fallend definiert, in dem wir f (x) ≥ f (y) fordern.
6
KAPITEL 1. EINLEITUNG
• Die Funktion f ist càdlàg (frz. für continue à droite, limite à gauche“), wenn f
”
rechtsstetig ist auf D und für jedes x ∈ D der linksseitige Grenzwert f (x−) :=
limu↑x f (x) existiert. Für eine càdlàg Funktion definieren wir
∆f (t) = f (t) − f (t−),
als die Höhe eines möglichen Sprungs an der Stelle t ∈ D.
Weitere Fakten aus Maß- und Wahrscheinlichkeitstheorie werden als Einschübe an geeigneten Stellen der Vorlesung wiederholt.
1.5
Literatur
Zur Maßtheorie und regulärer Variation:
Billingsley, P.: Probability and Measure, Wiley 1986.
Bingham, N; Goldie, C.; Teugels, J.: Regular Variation, Cambridge UP 1987.
Elstrodt, J.: Maß und Integrationstheorie, Springer 1996.
Gärtner, J.: Maßtheorie, Vorlesungsmanuskript.
Rudin, W.: Real and Complex Analysis, McGraw-Hill, 1987.
Williams, D.: Probability with Martingales, Cambridge UP 1991.
Zur Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik:
Durrett, R.: Probability: Theory and Examples, Duxbury 2004.
Feller, W.: An Introduction to Probability Theory and Its Applications, Wiley, 1966.
Grimmett, G.; Stirzaker, D.: Probability and Random Processes, Oxford UP 1982.
Krengel, U.: Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, Vieweg 1988.
Rice, J.A.: Mathematical Statistics and Data Analysis, Duxbury 1995.
Williams, D.: Probability with Martingales, Cambridge UP 1991.
Zur Versicherungsmathematik allgemein:
Schmidt, K.: Versicherungsmathematik, Springer 2001, [Sch09].
Zur Lebensversicherungsmathematik:
Gerber, H.: Lebensversicherungsmathematik, Springer 1986, [Ger86].
Koch, H.: Versicherungsmathematik, Vorlesungsmanuskript, Dortmund 2005.
Koller, M.: Stochastische Modelle in der Lebensversicherung, Springer, 2010, [Kol10].
1.5. LITERATUR
7
Milbrodt, H.; Helbig, M.: Mathematische Methoden der Personenversicherung, de
Gruyter 1999, [MH99].
Zur Sachversicherungsmathematik / Risikotheorie:
Asmussen, S.: Ruin probabilities, World Scientific Publisher 2000.
Drees, H.: Risikotheorie, Vorlesungsmanuskript, Hamburg 2005.
Embrechts, P.; Klüppelberg, C.; Mikosch, T.: Modelling Extremal Events,
Springer 1997.
Grandell, J.: Aspects of Risk Theory, Springer 1991.
Mack, T.: Schadenversicherungsmathematik, VVW Karlsruhe, 1997.
Spezielle Themen aus der Theorie stochastischer Prozesse:
Lipster, R.S.; Shiryaev, A.N.: Statistics of Random Processes II: Applications,
Springer 1978.
Rogers, L.C.G.; Williams, D.: Diffusions, Markov Processes and Martingales, Vol. 1,
Cambridge UP, 1994.
Shorack, G.; Wellner, J.: Empirical Processes with Applications to Statistics, Wiley
1986.
Spezielle Themen aus der Versicherungswissenschaft:
Farny, D.; Helte, E.; Koch, P.; Schmidt, R.: Handwörterbuch der Versicherung.
Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe, 1988.
8
KAPITEL 1. EINLEITUNG
Kapitel 2
Grundlagen der
Lebensversicherungsmathematik
Lebensversicherungsmathematik ist der prominenteste Teil der sogenannten Personenversicherungsmathematik, zu der z.B. auch Pensionsversicherungen, Ausbildungsversicherungen und Krankenversicherungen gehören. Ein Charakteristikum der Lebensversicherungsmathematik ist, dass typischerweise der Zeitpunkt des Eintretens des Versicherungsfalles
zufällig ist, wohingegen die Höhe der zu zahlenden Versicherungssumme oft deterministisch ist (im Gegensatz zur zufälligen Schadenhöhe der Schadenversicherung). Wir beginnen mit elementarem Rüstzeug.
2.1
Elementare Finanzmathematik
Lebensversicherungsverträge sind typischerweise langfristig angelegt. Eine wichtige Komponente ist daher neben dem versicherten Risiko an sich und den zugehörigen Versicherungszahlungen (also Leistungen und Prämien) auch die Art, wie diese Zahlungen
durch Verzinsung zeitlich zu bewerten sind. Wir behandeln hier deterministische Zahlungsströme und Zinsmodelle, was zur Folge hat, dass dieser Abschnitt rein maßtheoretischanalytischer Natur ist und noch keine Stochastik enthält. Allerdings werden diese Konzepte auch in den folgenden Kapiteln von Bedeutung sein, wo wir sie dann für jede Realisierung des Zufalls ( für jedes ω ∈ Ω”) anwenden.
”
2.1.1
Verzinsung und Kapitalfunktion
Als erstes müssen wir auf geeignete Art die Verzinsung von Geldbeträgen modellieren.
Definition 2.1. Eine nicht fallende rechtsstetige Funktion K : [0, ∞) → [1, ∞) mit
K(0) = 1 heißt Kapitalfunktion (oder Aufzinsungsfunktion).
9
10
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Wir verwenden Kapitalfunktionen, um Verzinsung (mit Zinseszins) zu beschreiben und
Zahlungen zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichbar zu machen (zu ‘bewerten’). So wird
etwa die Größe
A · K(t), A > 0, t ≥ 0,
interpretiert als Wert des Startkapitals A zur Zeit t. Allgemeiner gilt, dass ein Betrag A,
den man zur Zeit s ≥ 0 erhält, zur Zeit t ≥ 0 den Wert
K(t)
A,
K(s)
hat.
Bezeichnungen. Gegeben eine Kapitalfunktion K, nennen wir
• r := K(1) den Aufzinsungsfaktor (für das erste Jahr),
• i := r − 1 ist der Zinssatz (“interest”) oder der effektive Jahreszins, also der Zinszuwachs im ersten Jahr auf ein Startkapital der Höhe 1,
• und v := 1/r ist der Abzinsungsfaktor (oder Diskontierungsfaktor).
Den beiden folgenden Beispiele werden wir, wegen ihrer Einfachheit, im Folgenden noch
häufiger begegnen.
Beispiel 2.2. Diskrete Verzinsung (mit Zinseszins). Nach einem Jahr wird ein Zins der
Höhe i ≥ 0 pro Geldeinheit gezahlt. Wir setzen mit Hilfe der Gaußklammer btc := sup{k ∈
N0 ; k ≤ t},
K(t) = (1 + i)btc , t ≥ 0.
Beispiel 2.3. Bei der stetigen Verzinsung (mit Zinseszins) betrachtet man die Kapitalfunktion K definiert durch
K(t) = eδt ,
für alle t ≥ 0,
wobei δ ≥ 0 die Zinsrate oder den nominellen Zinssatz bezeichnet. In diesem Beispiel ist
dann der Aufzinsungsfaktor r = K(1) = eδ und damit der effektive Jahreszins i = eδ − 1
und der Abzinsungsfaktor v = 1r = e−δ . Offensichtlich sind nomineller und effektiver
Zinssatz nicht gleich. Ist bei der stetigen Verzinsung beispielsweise der nominelle Zinssatz
δ = 0.06, so ist der Effektivzins i = e0.06 − 1 ≈ 0.0618.
Anders als in den beiden vorherigen Beispielen, können Zinssätze zeitlich schwanken. Eine
Möglichkeit dies mathematisch zu beschreiben sind Zinsintensitäten, die den infinitesimalen relativen Zuwachs der Kapitalfunktion K beschreiben.
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
11
Definition 2.4. Wenn sich die Kapitalfunktion schreiben lässt als
Z
K(t) =
k(s) ds + 1, t ≥ 0,
(2.1)
(0,t]
für eine nicht-negative, messbare Funktion k, dann heißt
φ(t) :=
k(t)
,
K(t)
t ≥ 0,
die Zinsintensität von K.
Beispiel 2.5. Ist K(t) = eδt , dann lässt sich K schreiben als
Z
K(t) =
δeδs ds + 1,
(0,t]
so dass hier k(t) = δeδt und für die Zinsintensität gilt
φ(t) =
δeδt
k(t)
= δt = δ.
K(t)
e
Die Zinsintensität ist hier also zeitlich konstant und dies erklärt damit auch die Bezeichnung von δ als Zinsrate.
Bemerkung 2.6. Hat K eine Darstellung wie in (2.1), dann ist K eine absolutstetige
Funktion auf (0, ∞) und damit insbesondere stetig auf [0, ∞). Wie die diskrete (und nicht
stetige) Kapitalfunktion in Beispiel 2.2 zeigt, lassen sich nicht alle Kapitalfunktionen auf
diese Weise schreiben. Auf diese Unterscheidung gehen wir im nächsten Abschnitt über
Zahlungsströme noch genauer ein, siehe Bemerkung 2.9.
Lemma 2.7. Erfüllt K die Darstellung (2.1), dann lässt sich K aus φ eindeutig berechnen
als
R
K(t) = e (0,t] φ(s) ds , t ≥ 0.
Beweis. Wir beschränken uns auf den Fall, dass k stetig (und K damit differenzierbar)
ist. Dann gilt
k(t)
= φ(t),
(log K(t))0 =
K(t)
und mit K(0) = 1 gilt
Z
log K(t) =
φ(s)ds,
(0,t]
wie behauptet.
12
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
In diesem Zusammenhang betrachtet man auch oft die kumulierte Zinsintensität
Z
Z
k(s)
φ(s) ds =
ds,
Φ(t) =
(0,t]
(0,t] K(s)
so dass mit Lemma 2.7 folgt:
K(t) = eΦ(t) ,
Existiert keine Zinsintensität, so setzt man
Z
Φ(t) :=
(0,t]
Φ(t) = log K(t).
1
dK(s),
K(s−)
wobei das Integral als Lebesgue-Stieltjes Integral zu verstehen und
K(s−) := lim K(u)
u↑s
der linksseitige Grenzwert ist. Hier wird sich der Leser sicher die Frage stellen, warum
man Φ allgemein so definiert. Wir verschieben die Motivation für diese Definition auf den
Abschnitt, in dem wir die analog definierte kumulierte Sterblichkeitsintensität einführen.
Auf die Definition von Lebesgue-Stieltjes Integralen gehen wir im nächsten Abschnitt
ein, siehe Definition 2.12. Auch in dieser allgemeinen Form lässt sich K mit Hilfe von Φ
darstellen, siehe [MH99, Satz 2.7].
Das folgende Beispiel zeigt, dass Φ im Allgemeinen nicht einfach log K(t) ist, wie es das
Beispiel mit Dichte nahelegen würde.
Beispiel 2.8. Betrachtet man die Kapitalfunktion K(t) = (1 + i)btc , so gilt K(s−) = 1
für s ≤ 1. Damit ist dann die kumulierte Zinsintensität zum Zeitpunkt t = 1,
Z
Z
1
dK(s) = K(1) − K(0) = i.
dK(s) =
Φ(1) =
(0,1]
(0,1] K(s−)
Hingegen ist log K(1) = log(1 + i).
Bemerkung 2.9. In der Praxis kann man die zeitliche Entwicklung von Zinsen nicht
vorhersehen. Deshalb bietet es sich an, den Zins als einen stochastischen Prozess zu modellieren. Dabei ist diese Modellierung allerdings technisch anspruchsvoll und geht über
den Umfang dieses Textes hinaus. Für den interessierten Leser verweisen wir auf [Kol10]
und [Fil09].
Auch treten neue Probleme auf, wie das folgende Beispiel zeigt. Bei der Abzinsung
bezüglich zufälliger Zinssätze ist nämlich zu beachten, dass es eine Rolle spielt, wann
man den Erwartungswert bildet. Zinst man zuerst ab und nimmt dann den Erwartungs1
wert, so multipliziert man den Anfangswert mit E[ 1+i
]. Dies ist nicht dasselbe wie wenn
1
man erst den Erwartungswert der Zinsen bildet und dann abzinst, weil man dann E[1+i]
erhält.
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
2.1.2
13
Bewertung von Zahlungsströmen
Wir benutzen nun Kapitalfunktionen, um Zahlungen zu verschiedenen Zeitpunkten zu
bewerten. Finden nicht nur einmalige Zahlungen statt, sondern zum Beispiel regelmäßige
Zahlungen (etwa Prämienzahlungen) so spricht man von sogenannten Zahlungsströmen.
Definition 2.10 (Zahlungsströme).
a) Ein gerichteter Zahlungsstrom ist eine rechtsstetige monoton wachsende Funktion
Z : [0, ∞) → [0, ∞). Sei Zg die Menge der gerichteten Zahlungsströme.
b) Sind Z1 und Z2 gerichtete Zahlungsströme, so heißt Z := Z1 − Z2 ungerichteter
Zahlungsstrom falls entweder limt→∞ Z1 (t) oder limt→∞ Z2 (t) endlich ist. Die Menge
der ungerichteten Zahlungsströme nennen wir Z.
Ist K eine Kapitalfunktion, so ist beispielsweise Z := K − 1 ein Zahlungsstrom, nämlich
der Zinszahlungsstrom. Andere (z.T. zufällige) Zahlungsströme (z.B. Renten, Anleihen,
Optionen usw.) werden auf Finanzmärkten gehandelt. Ihre Bewertung, die nicht nur die
Beträge sondern auch die Zeitpunkte der zugehörigen Zahlungen berücksichtigen muss,
erfolgt mit Hilfe der Kapitalfunktion und führt zu den Begriffen Barwert und Zeitwert.
Beispiel 2.11. Ein wichtiges Beispiel erhalten wir, wenn wir (abzählbar viele) Zahlungen
zi ≥ 0, i ∈ N0 , betrachten, die jeweils zu Zeitpunkten 0 ≤ t0 < t1 < . . . mit limj→∞ tj = ∞
eintreffen. Der entsprechende gerichtete Zahlungsstrom heißt diskrete Zeitrente und ist
definiert als
∞
X
Z(t) =
zj 1[tj ,∞) (t), t ≥ 0.
j=0
Es gilt in der Tat Z ∈ Zg , da Z endlich, monoton wachsend (wegen zi ≥ 0) und rechtsstetig
ist.
Sei K eine Kapitalfunktion. Dann ist der Wert zur Zeit 0 eines Betrags zj , den man zur Zeit
z
tj erhält, gerade K(tjj ) . Die Summe dieser abgezinsten Einzelbeträge ergibt natürlicherweise
den Gesamtwert dieses Zahlungsstroms zum Zeitpunkt 0 und ist dann also gegeben als
a(Z) :=
∞
X
j=0
zj
∈ [0, ∞].
K(tj )
Diesen Betrag nennen wir den Barwert des Zahlungsstroms Z. Wenn wir den Prozess der
Sprünge von Z mit
∆Z(t) := Z(t) − Z(t−),
definieren, dann können wir den Barwert auch schreiben als
a(Z) =
∞
X
∆Z(tj )
j=0
K(tj )
=
X ∆Z(t)
t≥0
K(t)
.
14
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Analog zum Beispiel möchten wir auch allgemeine (gerichtete und ungerichtete) Zahlungsströme mit Hilfe des Barwerts bewerten können. Dazu müssen wir eine Verbindung zur
Maßtheorie herstellen.
Definition 2.12. Verbindung zur Maßtheorie: Lebesgue-Stieltjes Integral. Es sei Z ein
gerichteter Zahlungsstrom, also eine nicht-fallende, rechtsstetige Funktion Z : [0, ∞) →
[0, ∞). Wenn wir mit B(R+ ) die Borel-σ-algebra auf R+ = [0, ∞) bezeichnen, dann können
wir ein Maß mZ auf (R+ , B(R+ )) definieren indem wir für 0 < s ≤ t,
mZ ((s, t]) := Z(t) − Z(s)
und
mZ ([0, t]) := Z(t),
(2.2)
setzen. Ein grundlegender Satz aus der Maßtheorie (siehe [Gär08, Folgerung 3.19]) besagt,
dass diese Vorschrift eindeutig ein Maß auf (R+ , B(R+ )) festlegt.
Insbesondere können wir nun gegen mZR integrieren. Dazu sei f : R+ → R eine Borelmessbare Funktion, so dass das Integral f dmZ existiert (siehe Bemerkung 2.13). Dann
können wir schreiben
Z
Z
f (s) dZ(s) :=
f dmZ .
Diese Konstruktion ist als das Lebesgue-Stieltjes Integral bekannt, welches eine Verallgemeinerung des Lebesgue-Integrals darstellt (und welches Z(t) = t entspricht). Aufgrund
dieser Definition schreiben wir auch häufig Z(ds) = dZ(s) := dmZ (s).
BemerkungR 2.13. Existenz der Integrale. Wir erinnern daran, für welche Funktionen f ,
das Integral f dmZ definiert ist (siehe jedes Buch über Maßtheorie, z.B. [Gär08,
Kapitel
R
5]). Für eine nicht-negative messbare Funktion f kann man das Integral f dmZ immer
definieren. Allerdings kann es den Wert +∞ annehmen. Für eine allgemeine messbare
Funktion f : R+ → R zerlegt man f in den Positivteil f + (s) := max{f (s), 0} und den
Negativteil f − (s) := max{−f (s), 0}. Dann definiert man das Integral als
Z
Z
Z
+
f dmZ := f dmZ − f − dmZ ,
(2.3)
falls mindestens eines der beiden Integrale auf der rechten Seite endlich ist.
Man sagt, dass f mZ -integrierbar ist, falls beide Integrale auf der rechten Seite von (2.3)
endlich sind. Dies ist also eine stärkere Bedingung, als wenn wir nur die Existenz des
Integrals fordern.
Übungsaufgabe 2.14. Für Leser mit Maßtheorie-Kenntnissen: Zeigen Sie im Detail,
dass (2.2) wirklich genügt, um eindeutig ein Maß auf (R+ , B(R+ )) festzulegen.
Diese abstrakte Konstruktion erklären wir an den folgenden konkreten Beispielen.
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
15
Beispiel 2.15. Diskrete Zeitrente mit einer einzigen Zahlung. Als Spezialfall der diskreten
Zeitrente wie in Beispiel 2.11 betrachten wir einen Zahlungsstrom, der aus einer einzigen
Zahlung z0 > 0 zum Zeitpunkt t0 besteht, d.h. Z(t) = z0 1l[t0 ,∞) (t). Was ist das zugehörige
Maß mZ ?
Um diese Frage zu beantworten, betrachten wir für 0 ≤ s < t,
z0 wenn t0 ∈ (s, t],
mZ ((s, t]) = Z(t) − Z(s) =
0 sonst.
Daraus können wir schließen, dass auf Mengen der Form (s, t] das Maß mZ mit dem Maß
z0 δt0 übereinstimmt. Wir erinnern daran, dass für Borel-messbare Mengen A ⊂ R+ , das
Diracmaß δt0 im Punkt t0 definiert ist als
1 wenn t0 ∈ A,
δt0 (A) :=
0 sonst.
Analog kann man überprüfen, dass mZ (A) = z0 δt0 (A) auch für Mengen A der Form [0, t]
für t ≥ 0 gilt. Daraus folgt die Gleichheit der Maße, mZ = z0 δt0 .
Was bedeutet nun ein Lebesgue-Stieltjes-Integral in diesem Zusammenhang? In diesem
konkreten Beispiel können wir dann auch schreiben
Z
Z
1
z0
1
dZ(s) =
z0 δt0 (ds) =
,
K(t0 )
[0,∞) K(s)
[0,∞) K(s)
da wir aus der Maßtheorie wissen, dass die Integration gegen ein Diracmaß im Punkt t0
gerade Auswertung der Funktion an der Stelle t0 bedeutet, siehe auch Beispiel 1.4.
Insbesondere sehen wir hier, dass der Barwert als Integral geschrieben werden kann
Z
z0
1
a(Z) =
=
dZ(s).
K(t0 )
[0,∞) K(s)
Aus diesem Zahlungsstrom mit einer einzigen Zahlung lassen sich additiv kompliziertere
Zahlungsströme konstruieren, dabei ist das folgende Lemma hilfreich.
Lemma 2.16. Sind Zj : [0, ∞) → R+ , j ∈ N0 , gerichtete Zahlungsströme und ist für
jedes t ≥ 0,
∞
X
Z(t) :=
Zj (t) < ∞,
j=0
dann definiert Z einen gerichteten
Zahlungsstrom. Außerdem gilt für Funktionen f :
R
R+ → R, so dass das Integral f dmZ existiert,
Z
f (s) dZ(s) =
∞ Z
X
j=0
f (s) dZj (s).
16
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Übungsaufgabe 2.17. Beweisen Sie Lemma 2.16.
Beispiel 2.18. Diskrete Zeitrente mit mehreren Zahlungen. Das vorherige Beispiel 2.15
lässt sich durch Linearität auf eine allgemeine diskrete Zeitrente fortsetzen. Gegeben sei
also ein allgemeiner Zahlungsstrom Z wie in Beispiel 2.11 als
Z(t) =
∞
X
zj 1l[tj ,∞) (t),
t ≥ 0,
j=0
mit zj ≥ 0, 0 ≤ t0 < t1 < . . . so dass Z(t) < ∞ für alle t ≥ 0. Nach dem vorherigen
Beispiel wissen wir, dass dem Zahlungsstrom zj 1l[tj ,∞) das Maß zj δtj zugeordnet wird. Mit
Hilfe der Linearität, siehe Lemma 2.16, ordnen wir also dem Zahlungsstrom Z das Maß
mZ gegeben durch
X
mZ (A) =
zj δtj (A) für alle A ∈ B(R+ ),
j≥0
zu. Für das Integral
R bezüglich dZ bedeutet dies konkret: ist f eine messbare Funktion, so
dass das Integral f dmZ existiert, dann gilt
Z
Z
f (s)dZ(s) =
f (s) dmZ (s) =
∞ Z
X
f (s)zj δtj (ds)
j=0
=
∞
X
f (tj )zj =
j=0
X
(2.4)
f (s)∆Z(s).
s≥0
1
für eine Kapitalfunktion K, dann ist f (t) fallend und nicht-negativ,
Setzen wir f (t) = K(t)
so dass das folgende Integral definiert ist und es gilt
Z
∞
X zj
1
dZ(s) =
= a(Z).
K(s)
K(t
)
j
j=0
(2.5)
Damit können wir also den Barwert als Lebesgue-Stieltjes Integral schreiben. Darauf
werden wir später noch einmal zurückkommen.
Beispiel 2.19. Absolutstetige Zahlungsströme. Ein weiteres Beispiel bei dem sich das
Lebesgue-Stieltjes-Integral sehr einfach berechnen lässt ist der Fall, wenn sich Z schreiben
lässt als
Z
Z(t) =
z(s)ds, t ≥ 0,
(2.6)
(0,t]
für eine messbare und nicht-negative Funktion z. Man beachte, dass in diesem Fall notwendigerweise Z(0) = 0 gilt. Wenn es eine solche Darstellung gibt, nennen wir Z absolutstetig
mit Dichte z.
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
17
In diesem Fall ist das zugehörige Maß mZ gegeben durch
Z
mZ (A) =
z(s)ds,
(2.7)
A
für alle Borel-messbaren Mengen A. Wir schreiben auch mZ (ds) = z(s)ds. Dies können
wir wieder überprüfen, in dem wir für A = (s, t] nehmen und dann sehen, dass
Z
mZ ((s, t]) = Z(t) − Z(s) =
z(s) ds,
(s,t]
so dass für solche Mengen die Aussage gilt. Da man dies auch für die Mengen der Form
[0, t] zeigen kann, gilt die Gleichheit für alle Borel-messbaren Mengen A.
Auch in diesem Beispiel lassen sich Integrale leicht berechnen. Wir behaupten dass für
alle f , so dass die Integrale existieren, gilt
Z
Z
f (s)dZ(s) = f (s)z(s)ds.
(2.8)
Um diese Aussage zu beweisen, betrachtet man zunächst Integranden der Form f (s) =
c1l(a,b] (s) und nutzt dann Linearkombinationen für eine geeignete Approximation von allgemeinen Integranden.
Bemerkung 2.20. Die Bezeichnung absolutstetig“ für Funktionen der Form (2.7), lässt
”
sich dadurch erklären, dass die Funktion Z genau dann absolutstetig ist, wenn das Maß mZ
absolutstetig bezüglich des Lebesgue-Maßes λ ist. Zur Erinnerung: mZ ist absolutstetig
bezüglich eines Maßes λ, in Symbolen mZ λ, wenn für alle messbaren Mengen A gilt
λ(A) = 0 =⇒ mZ (A) = 0.
Die Existenz einer Dichte z wird in diesem Fall dann durch den Satz von Radon-Nikodým
geklärt (siehe [Gär08, Thm. 9.5] oder eine beliebige Einführung in die Maßtheorie).
Bemerkung 2.21. In der Praxis werden gerichtete Zahlungsströme entweder diskret wie
in Beispiel 2.18 oder aber absolutstetig wie in Beispiel 2.19 sein. In diesen Beispielen kann
man dann auf die abstrakte maßtheoretische Konstruktion verzichten und das Integral
bezüglich dZ mit Hilfe von (2.4) bzw. (2.8) definieren. Eine weitere Möglichkeit in der
Praxis ist, dass der Zahlungsstrom sich als Summe von einem diskreten und einem absolutstetigen Zahlungsstrom darstellen lässt. In diesem Fall können wir mit der Linearität
aus Lemma 2.16 das Integral bestimmen.
Wir kehren nun zurück zu der Frage nach der Bewertung von gerichteten Zahlungsströmen,
die diesen Exkurs über Lebesgue-Stieltjes Integralen erst motiviert hat. Für eine diskrete
18
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Zeitrente haben wir in Beispiel 2.18 gesehen, dass wir den Barwert, also die Summe der
auf den Anfangszeitpunkt abgezinsten Beträge, schreiben können als
a(Z) :=
∞
X
j=0
zj
=
K(tj )
Z
[0,∞)
1
dZ(s).
K(s)
Analog kann man den Barwert des Zahlungsstrom bis einschließlich zu einer festen Zeit
t ≥ 0 definieren als
Z
X zj
1
a(Z)(t) =
=
dZ(s) ∈ [0, ∞).
K(tj )
[0,t] K(s)
0≤t ≤t
j
Möchte man den Wert der Zeitrente zur Zeit t wissen, muss man entsprechend aufzinsen
und erhält den Endwert einer Zeitrente bis zur Zeit t ≥ 0 als
Z
X K(t)
1
= K(t)
dZ(s).
s(Z)(t) :=
zj
K(tj )
[0,t] K(s)
t ≤t
j
Mit Hilfe der gerade eingeführten Lebesgue-Stieltjes Integrale lassen sich diese Definitionen auch auf allgemeine Zahlungsströme erweitern.
Definition 2.22 (Endwert und Barwert). Der Endwert eines gerichteten Zahlungsstroms
Z ∈ Zg bis (einschließlich) zur Zeit t ≥ 0 ist gegeben durch
Z
1
dZ(s).
s(Z)(t) := K(t)
[0,t] K(s)
und der Barwert bis zur Zeit t ist gegeben als
Z
a(Z)(t) :=
[0,t]
1
dZ(s).
K(s)
Der Barwert des gesamten Zahlungsstroms Z ist
Z
1
a(Z) :=
dZ(s) ∈ [0, ∞].
[0,∞) K(s)
Für einen ungerichteten Zahlungsstrom Z ∈ Z, der sich also als Z = Z1 − Z2 für zwei gerichtete Zahlungsströme Z1 , Z2 mit min{Z1 (∞), Z2 (∞)} < ∞ darstellen lässt, definieren
wir den Barwert als
Z
Z
1
1
a(Z) := a(Z1 ) − a(Z2 ) =
dZ1 (s) −
dZ2 (s) ∈ [−∞, ∞].
(2.9)
K(s)
K(s)
Die allgemeine Definitionen für Endwert und Barwert bis zu einer Zeit t sind analog.
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
19
Bemerkung 2.23. Um zu sehen, dass diese Begriffe wohldefiniert sind, betrachten wir
zunächst einen gerichteten Zahlungsstrom Z ∈ Zg und eine Kapitalfunktion K. Da K(t) ≥
1
1, gilt für die Kehrwertfunktion 0 ≤ K(t)
≤ 1. Außerdem ist K als rechtsstetige Funktion
1
gegen mZ definieren und
automatisch messbar. Damit können wir das Integral von K(t)
es gilt
Z
Z
1
a(Z) =
dZ(s) ≤
dZ(s) = lim Z(s).
s→∞
[0,∞) K(s)
[0,∞)
Ist also Z beschränkt, dann sind a(Z) (und damit auch a(Z)(t) und s(Z)(t)) immer
endlich. Da nach Definition Z(t) immer endlich ist, zeigt ein analoges Argument auch,
dass a(Z)(t) und s(Z)(t) immer endlich sind.
Damit ist auch der allgemeine Ausdruck (2.9) für den Barwert eines ungerichteten Zahlungsstroms wohldefiniert. Die Bedingung, dass Z1 (∞) ∧ Z2 (∞) endlich ist, bedeutet
nämlich, dass entweder Z1 oder Z2 beschränkt sind und somit entweder a(Z1 ) oder a(Z2 )
endlich sind und die Differenz wohldefiniert ist.
Bemerkung 2.24. Der zweite Teil der Definition 2.22 deutet an, wie man das Integral
bezüglich eines allgemeinen Zahlungsstrom Z ∈ Z definieren kann. Hat Z die Darstellung
Z = Z1 − Z2 für Z1 , Z2 gerichtete Zahlungsströme und ist f messbar, so kann man das
Integral definieren als
Z
Z
Z
f (s)dZ(s) = f (s)dZ1 − f (s)dZ2 (s),
vorausgesetzt beide Integrale auf der rechten Seite existieren und mindestens eines davon
ist endlich. Dabei kann man überprüfen, dass der Wert des Integrals unabhängig ist von
der speziellen Zerlegung Z1 , Z2 für Z. Es ist allerdings durchaus möglich, dass die Integrale
auf der rechten Seite für eine Zerlegung Z = Z1 − Z2 beide existieren, für eine andere
Zerlegung Z = Z̃1 − Z̃2 aber beide nicht. Im nächsten Einschub werden wir auf diese
Konstruktion zurückkommen.
Der Integralbegriff, der in Bemerkung 2.24 eingeführt wurde, führt auch zu Verallgemeinerung von klassischen Integralsätzen wie z.B. der partiellen Integration. Allerdings muss
man wegen des diskreten Anteils etwas vorsichtiger sein.
Satz 2.25 (Partielle Integration). Seien X, Y ∈ Z. Dann gilt für alle 0 ≤ a < b < ∞,
Z
Z
Y (s) dX(s) = X(b)Y (b) − X(a)Y (a) −
X(s−) dY (s).
(2.10)
(a,b]
(a,b]
Beweis. Offensichtlich sind beide Seiten in 2.10 bilinear in (X, Y ). Da wir X, Y nach
Definition je als Differenz von zwei gerichteten Zahlungsströmen schreiben können, genügt
es also die Aussage für gerichtete Zahlungsströme zu beweisen.
20
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Wir nehmen also an, dass X, Y ∈ Zg und schreiben mX und mY für die zugehörigen Maße
wie in Definition 2.12. Insbesondere ist Y (t) = mY ([0, t]) und für 0 < s < t
mY ([s, t]) = lim mY ((u, t]) = lim(Y (t) − Y (u)) = Y (t) − Y (s−).
u↑s
u↑s
Deshalb gilt nach dem Satz von Fubini
Z
Z
Z
Y (s) dX(s) =
dmY (u) dmX (s)
(a,b]
(a,b] [0,s]
Z
Z
Z
Z
dmX (s) dmY (u) +
dmX (s) dmY (u)
=
[0,a] (a,b]
(a,b] [u,b]
Z
(X(b) − X(u−)) dY (u)
= (X(b) − X(a))Y (a) +
(a,b]
Z
= (X(b) − X(a))Y (a) + X(b)(Y (b) − Y (a)) −
X(u−) dY (u)
(a,b]
Z
= X(b)Y (b) − X(a)Y (a) −
X(u−) dY (u).
(a,b]
Übungsaufgabe 2.26. Finden Sie Zahlungsströme X und Y , so dass der obige Satz
mit “X(s−)” ersetzt durch “X(s)” falsch wird. (Hinweis: Betrachten Sie zwei Funktionen
mit Sprüngen an geeigneten Stellen.)
2.1.3
Einschub: Funktionen von beschränkter Variation
Ein ungerichteter Zahlungsstrom ist eher indirekt als Differenz von zwei nicht-fallenden
Funktionen definiert. In diesem Abschnitt werden wir sehen, dass es auch eine alternative
Charakterisierung gibt, die in bestimmten Situationen einfacher zu überprüfen ist. Das
Material in diesem Kapitel ist für den restlichen Text nicht von essentieller Bedeutung,
weswegen es als Einschub gekennzeichnet ist. Aus diesem Grund werden wir auch nicht alle
Ergebnisse im Detail beweisen und verweisen als Ergänzung auf weiterführende Literatur
wie z.B. [Gär08, Els11].
Im Folgenden seien I, J reelle Intervalle.
Definition 2.27. Sei F : J → R. Dann heißt für I ⊂ J
( r
)
X
VF (I) := sup
|F (tk ) − F (tk−1 )| : r ∈ N, t0 < t1 < · · · < tr ; t0 , tr ∈ I ∈ [0, ∞]
k=1
die Variation der Funktion F auf dem Intervall I.
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
21
(i) F heißt Funktion von endlicher oder beschränkter Variation auf I, wenn VF (I) < ∞.
(ii) F heißt von beschränkter Variation, wenn VF (J) < ∞. In diesem Fall nennt man
VF (J) die Totalvariation von F .
(iii) F heißt von lokal beschränkter Variation, wenn VF (I) < ∞ für jedes beschränkte
Teilintervall I ⊂ J.
Beispiel 2.28. Ist F : J → R monoton wachsend, dann gilt für [a, b] ⊂ J
VF ([a, b]) = F (b) − F (a).
Analog gilt für eine monoton fallende Funktion F ,
VF ([a, b]) = F (a) − F (b).
Beispiel 2.29. Jede Lipschitz-stetige Funktion F : [a, b] → R, −∞ < a < b < ∞, ist von
beschränkter Variation.
Proposition 2.30. Sei wieder I ⊆ J ⊆ R.
(i) Die Menge der Funktionen von beschränkter Variation (auf J) ist ein Vektorraum
über R.
(ii) Ist F : J → R von (lokal) beschränkter Variation, dann ist F (lokal) beschränkt.
Genauer gilt
|F (b) − F (a)| ≤ VF ([a, b]).
(iii) Für F, G : J → R gilt VF +G (I) ≤ VF (I) + VG (I).
(iv) Für F : J → R, b ∈ J, I1 = [a, b] oder (a, b], I2 = [b, c] oder [b, c) mit I1 ∪ I2 ⊂ J gilt
VF (I1 ∪ I2 ) = VF (I1 ) + VF (I2 ).
Übungsaufgabe 2.31. Beweisen Sie Proposition 2.30.
Nun betrachten wir den Fall J = R und definieren für F : R → R von lokal beschränkter
Variation auf J,
VF ([0, x]) für x ∈ [0, ∞),
VF (x) :=
−VF ([x, 0]) für x ∈ (−∞, 0).
Proposition 2.32. Mit der obigen Notation gilt, dass VF (0) = 0 und VF ist monoton
wachsend. Außerdem ist VF nicht-negativ auf [0, ∞) und nicht-positiv auf (−∞, 0). Ist F
zusätzlich rechtsstetig, so ist auch VF rechtsstetig.
Übungsaufgabe 2.33. Beweisen Sie Proposition 2.32.
22
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Satz 2.34. Eine Funktion F : R → R ist von (lokal) beschränkter Variation genau
dann wenn F = F+ − F− für zwei (lokal) beschränkte monoton wachsende Funktionen
F+ , F− : R → R.
Beweis. ‘⇐’ Angenommen F lässt sich darstellen als F = F+ − F− für zwei (lokal)
beschränkte monoton wachsende Funktion F+ , F− . Nach Beispiel 2.28 wissen wir, dass
F+ und −F− von (lokal) beschränkter Variation sind. Damit folgt aus Proposition 2.30,
dass F als Summe auch von (lokal) beschränkter Variation ist.
‘⇒’ Wir nehmen an, dass F von (lokal) beschränkter Variation ist und definieren
1
F+ := (VF + F ),
2
1
und F− := (VF − F ).
2
(2.11)
Offensichtlich gilt F = F+ − F− . Weiter sind F+ , F− (lokal) beschränkt (da VF nach
Annahme und F wegen Proposition 2.30(ii) (lokal) beschränkt sind). Zu zeigen ist also
nur noch, dass F+ , F− monoton wachsend sind. Dazu wähle man a, b ∈ R mit b > a. Dann
gilt nach Definition und der Additivität der Variation, siehe Proposition 2.30(iv),

 VF ([0, b]) − VF ([0, a]) falls 0 ≤ a ≤ b,
VF ([0, b]) + VF ([a, 0]) falls a ≤ 0 ≤ b
VF (b) − VF (a) =

−VF ([b, 0]) + VF ([a, 0]) falls a ≤ b ≤ 0
= VF ([a, b]).
Daraus folgt, dass
i
1h
VF (b) − VF (a) + F (b) − F (a)
2
i
1h
= VF ([a, b]) + F (b) − F (a)
2
i
1h
≥ VF ([a, b]) − |F (b) − F (a)| ≥ 0,
2
F+ (b) − F+ (a) =
wobei wir im letzten Schritt Proposition 2.30(ii) genutzt haben. Analog argumentiert man
für F− .
Bemerkung 2.35. Die obige Zerlegung von F heißt auch Jordan-Zerlegung.
Die Zerlegung in (2.11) ist minimal im folgenden Sinne. Ist F = F1 − F2 mit F1 , F2
monoton wachsend, dann gilt für alle t ≥ 0,
F+ (t) − F+ (0) ≤ F1 (t) − F1 (0) und F− (t) − F− (0) ≤ F2 (t) − F2 (0),
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
23
denn nach Definition (2.11) gilt
1
F+ (t) − F+ (0) = (VF (t) + F (t) − F (0))
2
1
≤ VF1 (t) + V−F2 (t) + F1 (t) − F2 (t) − (F1 (0) − F2 (0))
2
1
= F1 (t) − F1 (0) + F2 (t) − F2 (0)) + F1 (t) − F2 (t) − (F1 (0) − F2 (0))
2
= F1 (t) − F1 (0),
wobei wir für die erste Ungleichung Proposition 2.30(iii) und für die vorletzte Umformung
VF = V−F und Beispiel 2.28 ausgenutzt haben. Die zweite Aussage folgt analog.
Korollar 2.36. Jede rechtsstetige Funktion von (lokal) beschränkter Variation lässt sich
als Differenz zweier rechtsstetiger, (lokal) beschränkter und monoton-wachsender Funktionen schreiben.
Beweis. Dies folgt aus der expliziten Darstellung (2.11) von F+ und F− , die nach der
zweiten Aussage von Proposition 2.32 jeweils rechtsstetig sind.
Bemerkung 2.37. Zusammenhang mit Zahlungsströmen. Gegeben sei ein Zahlungsstrom
Z ∈ Z. Dann gibt es nach Definition zwei gerichtete Zahlungsströme, also zwei monoton
wachsende und rechtsstetige Funktionen Z1 , Z2 , so dass Z = Z1 − Z2 . Setzen wir Z als
eine Funktion auf R fort in dem wir Z(t) = 0 für t < 0 definieren (analog für Z1 , Z2 ),
dann können wir wie folgt die gerade entwickelte Theorie nutzen: Zunächst stellen wir
fest, dass nach Korollar 2.36 Z von lokal beschränkter Variation ist.
Aber wir erhalten auch ein alternatives Kriterium für einen ungerichteten Zahlungsstrom.
Gegeben sei eine rechtsstetige Funktion Z von lokal beschränkter Variation mit Z(t) =
0 für alle t < 0. Dann besagt das Korollar, dass es eine Darstellung Z = Z+ − Z−
gibt, wobei Z+ , Z+ rechtsstetige monoton wachsende Funktionen sind. Damit Z wirklich
ein ungerichteter Zahlungsstrom ist, müssen Z+ , Z− gerichtete Zahlungsströme sein, sie
dürfen also nur positive Werte annehmen. Dies können wir durch die Addition einer
geeigneten Konstante zu Z+ und Z− erreichen. Seien also wie in (2.11), Z+ = 12 (VZ + Z)
und Z− = 21 (VZ − Z) eine mögliche Zerlegung. Dann definieren wir für t ≥ 0,
1
1
Z1 (t) = Z+ (t) + |Z(0)| und Z2 (t) = Z− (t) + |Z(0)|,
2
2
und setzen Z1 (t) = Z2 (t) = 0 für t < 0. Wir behaupten, dass diese nur positiv Werte
annehmen. In der Tat folgt dies aus der Monotonie wenn Z1 (0) und Z2 (0) positiv sind.
Ist Z(0) ≥ 0, dann ist
1
Z1 (0) = (VZ (0) + Z(0) + |Z(0)|) = Z(0) ≥ 0
2
24
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
und
1
Z2 (0) = (VZ (0) − Z(0) + |Z(0)|) = 0.
2
Ist Z(0) < 0 dann können wir analog schließen, dass Z1 (0) = 0 und Z2 (0) = −Z(0) > 0.
Damit sind Z1 und Z2 gerichtete Zahlungsströme.
Abschließend müssen wir für diese Zerlegung noch die Bedingung min{Z1 (∞), Z2 (∞)} <
∞ überprüfen, welche nicht automatisch aus den Eigenschaften rechtsstetig und lokal von
beschränkter Variation folgt.
Wie es sich im vorherigen Kapitel in Definition 2.22 schon angedeutet hat, können wir
mit Hilfe der obigen Zerlegung nun vielen Funktionen von (lokal) beschränkter Variation
sogenannte signierte Maße zuordnen. Anders als Maße nehmen diese auch negative Werte
an, aber per Definition kann man sie immer in die Differenz zweier Maße zerlegen, von
denen mindestens eines endlich ist.
Definition 2.38. Sei F : R → R rechtsstetig und von lokal beschränkter Variation auf
[0, ∞). Sei F = F+ − F− wie in Korollar 2.36. Dann definieren wir (σ-endliche) Maße
m+ , m− eindeutig auf (R, B(R)) durch
m+ ((a, b]) := F+ (b) − F+ (a),
m− ((a, b]) := F− (b) − F− (a),
−∞ ≤ a ≤ b ≤ ∞.
Wir setzen
m := m+ − m−
sofern eines der beiden Maße m+ , m− endlich ist. In diesem Falle ist m das eindeutige auf
(R, B(R)) definierte, F zugeordnete signierte Maß.
Nützlich sind signierte Maße unter anderem deshalb, weil sie unseren bisherigen Integralbegriff auf natürliche Weise verallgemeinern.
Definition 2.39. Sei F rechtsstetig und von lokal beschränkter Variation auf R. Für
messbare Funktionen f : R → R und A ∈ B(R) setzen wir
Z
Z
1A (t)f (t) dF (t)
f (t)dF (t) =
A
[0,∞)
Z
Z
:=
1A (t)f (t) m+ (dt) −
1A (t)f (t) m− (dt),
[0,∞)
[0,∞)
sofern die letzte Zeile wohldefiniert (d.h. mindestens eines der Integrale endlich) ist. Wir
bezeichnen die linke Seite als Lebesgue-Stieltjes Integral von f bezüglich F bzw. m.
Bemerkung 2.40. Diese Definition verallgemeinert die Definition 2.12 des LebesgueStieltjes Integral für gerichtete Zahlungsströme und die Erweiterung aus Definition 2.22.
Wie in Bemerkung 2.37 müssen wir dafür nur den Zahlungsstrom Z mit Z(t) = 0 für
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
25
t < 0 fortsetzen. Genauso setzen wir in der Zerlegung Z = Z1 − Z2 die gerichteten (und
damit positiven) Zahlungsströme Z1 und Z2 auch entsprechend fort mit Z1 (t) = Z2 (t) = 0
für alle t ≥ 0. Dann ist das Maß m+ , das wir mit F + = Z1 aus Definition 2.38 erhalten,
gerade gleich dem Maß mZ1 aus (2.2). Hier sehen wir auch, dass die Voraussetzung m+
oder m− endlich gerade der Bedingung min{Z1 (∞), Z2 (∞)} < ∞ entspricht.
Bemerkung 2.41. Viele Resultate der klassischen Integrationstheorie haben eine analoge
Formulierung für Lebesgue-Stieltjes-Integrale. Man muss jedoch auf Atome achtgeben.
Das sieht man z.B. am Satz über die partielle Integration, siehe Theorem 2.25.
2.1.4
Axiomatische Begründung der Barwertdefinition
Im vorherigen Kapitel haben wir als Bewertung eines Zahlungsstroms Z ∈ Z bezüglich
einer Kapitalfunktion K den Barwert
Z
1
dZ(s),
a(Z) :=
[0,∞) K(s)
eingeführt. Die Definition haben wir als natürliche Erweiterung des Beispiels einer diskreten Zeitrente motiviert. Als alternative Herangehensweise betrachten wir nun den Begriff
der Bewertung von einer abstrakten Warte aus. Als weiterführende Literatur verweisen
wir auf [MH99, S. 40 ff.].
Definition 2.42. Eine Bewertung von Zahlungsströmen ist eine Abbildung
W : [0, ∞) × Z → [−∞, ∞].
Wir nennen W (t, Z) den Wert des Zahlungsstromes Z zur Zeit t. W heißt regulär, wenn
die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
• (Endlichkeit)
W (t, Z) ∈ R,
t ≥ 0, Z ∈ Zg
mit Z(∞) < ∞,
• (Sensitivität)
W (t, εu ) 6= 0,
t, u ≥ 0,
εu := 1[u,∞) ,
• (Additivität) Für alle Z1 , Z2 ∈ Z so dass auch Z1 + Z2 ∈ Z, soll gelten
W (t, Z1 + Z2 ) = W (t, Z1 ) + W (t, Z2 ),
für alle t ≥ 0,
• (Monotone Stetigkeit) Aus Z := supn∈N Zn ∈ Zg , Zn ∈ Zg folgt
W (·, Z) = sup W (·, Zn ),
n∈N
26
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
• (Unmittelbarkeit) Die Abbildung
u 7→ W (t, εu )
ist rechtsstetig für alle t ≥ 0,
• (Konsistenz) Für alle u ≥ 0 und Z ∈ Zg mit Z(∞) < ∞, soll gelten
W (·, Z) = W (·, W (u, Z)εu ).
Bemerkung 2.43. Die Konsistenzforderung besagt, dass man jeden Zahlungsstrom ohne
Wertänderung durch eine Einmalzahlung zu irgendeinem Zeitpunkt u ≥ 0 ersetzen kann,
wobei der gezahlte Betrag genau der Wert von Z zum Zeitpunkt u sein muss.
Für Unmittelbarkeit kann man äquivalent auch Rechtsstetigkeit von t 7→ W (t, εu ) für alle
festen u fordern.
Satz 2.44 (Norberg 1990).
[0, ∞) × Z,
(i) Sei K eine Kapitalfunktion. Dann definiert W
W (t, Z) = K(t)a(Z) ∈ [−∞, ∞]
:
(2.12)
eine reguläre Bewertung.
(ii) Andererseits gilt: Ist W eine reguläre Bewertung, dann existiert genau eine Kapitalfunktion K, die die obige Bedingung (2.12) erfüllt. Diese ist gegeben durch
K(t) := W (t, 1[0,∞) ).
Beweis. (i) Alle Eigenschaften lassen sich direkt nachrechnen, nur für die monotone Stetigkeit muss man etwas arbeiten (siehe Übungsaufgabe und [MH99], S. 41f). Wir beweisen
exemplarisch die Konsistenzforderung. Gegeben einen Zahlungsstrom Z, betrachten wir
den Zahlungsstrom Z̃ = W (u, Z)εu der einer Einmalzahlung von W (u, Z) zum Zeitpunkt
u entspricht. Nach Beispiel 2.15 ist das zu Z̃ gehörige Maß mZ̃ = W (u, Z)δu und damit
ist
Z
Z
W (u, Z)
W (u, Z)
1
dZ̃(s) =
δu (ds) =
.
a(Z̃) =
K(s)
K(u)
[0,∞)
[0,∞) K(s)
Somit ist wie gefordert
W (t, W (u, Z)εu ) = W (t, Z̃) = K(t)a(Z̃) = K(t)
W (u, Z)
= K(t)a(Z).
K(u)
(ii) Siehe [MH99], S. 41 ff.
Übungsaufgabe 2.45. Vervollständigen Sie den Beweis von Teil (i) und zeigen Sie Endlichkeit, Sensitivität, Additivität und Unmittelbarkeit für W (t, Z) = K(t)a(Z).
2.1. ELEMENTARE FINANZMATHEMATIK
2.1.5
27
Äquivalenzprinzip und Deckungskapital
Wir haben gesehen wie man einen einzelnen Zahlungsstrom bewertet. In diesem Abschnitt
untersuchen wir, wie man zwei unterschiedliche Zahlungsströme vergleicht.
Definition 2.46. Sei K eine Kapitalfunktion. Z1 , Z2 ∈ Z heißen äquivalent (bezüglich
K), wenn beide denselben endlichen Barwert haben, d.h. a(Z1 ) = a(Z2 ) ∈ R.
Offensichtlich stimmen für äquivalente Zahlungsströme die diskontierten Werte für jeden
gemeinsamen Bezugszeitpunkt t ≥ 0 überein:
Z
Z
dZ2 (s)
dZ1 (s)
K(t)a(Z1 ) = K(t)
= K(t)
= K(t)a(Z2 ).
[0,∞) K(s)
[0,∞) K(s)
Wichtig ist auch der Vergleich anhand von zur Zeit t > 0 noch ausstehenden Zahlungen.
Definition 2.47. Seien ZL , ZP ∈ Zg mit a(ZL ) ∧ a(ZP ) < ∞. Dann wird zu jedem
Zeitpunkt t ≥ 0 das prospektive Deckungskapital von (ZL , ZP ) definiert durch
Z
Z
dZP (s)
dZL (s)
V (t) := K(t)
−
.
[t,∞) K(s)
[t,∞) K(s)
Hier wird ZP (P steht für Prämie) als der Zahlungsstrom eines Kunden an ein Unternehmen (zum Beispiel eine Bank oder einen Versicherer) interpretiert und ZL entspricht
den Leistungen an den Kunden. V (t) ist dann also der Betrag, den das Unternehmen zur
Zeit t vorhalten muss um die noch ausstehenden Forderungen erfüllen zu können, wenn
die Verzinsung durch K bestimmt wird. Deshalb sagen wir auch:
• Ist V (t) ≥ 0 für alle t ≥ 0, dann heißt (ZL , ZP ) Sparplan. Ein typisches Beispiel
ist ein Vertrag bei dem ein Kunde sein Geld auf ein Sparkonto legt und es nach 5
Jahren mit Verzinsung wieder abhebt.
• Ist V (t) ≤ 0 für alle t ≥ 0, so heißt (ZL , ZP ) Kreditvertrag und −V (t) Restschuld
zur Zeit t.
Beispiel 2.48. Ein Kunde legt einen Betrag von A = 10000 Euro bei einer Bank mit einer
Verzinsung von δ = 0.05 an. Wenn wir die Verzinsung stetig mit K(t) = eδt modellieren,
welchen Betrag muss dann die Bank nach 5 Jahren zurückzahlen?
Der Prämienzahlungsstrom besteht in diesem Fall aus einer einzigen Zahlung zur Zeit 0,
also
ZP (t) = A für alle t ≥ 0,
während die Bank
ZL (t) = B1l[5,∞) (t),
28
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
für unbekanntes B bezahlen muss. Die beiden Zahlungsströme sollen äquivalent sein, so
dass gelten muss
Z
1
B
A = a(ZP ) = a(ZL ) =
dZL (s) =
.
K(5)
[0,∞) K(s)
Das bedeutet also, dass wie erwartet B = K(5)A = e5·0,05 10000.
In diesem einfachen Beispiel kann man auch das prospektive Deckungskapital zur Zeit
t ≥ 0 berechnen als

Z
für t = 0,
 0
Z
1
1
B
K(t) K(5) für t ∈ (0, 5],
dZL −
dZP =
V (t) = K(t)

[t,∞) K(s)
[t,∞) K(s)
0
für t > 5.
Im Gegensatz dazu ist das retrospektive Deckungskapital der Zeitwert zur Zeit t der bis
zu dieser Zeit aufgelaufenen Verpflichtungen.
Definition 2.49. Seien ZL , ZP ∈ Zg mit a(ZL ) ∧ a(ZP ) < ∞. Dann wird zu jedem
Zeitpunkt t ≥ 0 das retrospektive Deckungskapital von (ZL , ZP ) zur Kapitalfunktion K
definiert durch
Z
Z
dZL (s)
dZP (s)
(r)
−
.
V (t) := K(t)
[0,t) K(s)
[0,t) K(s)
Lemma 2.50. Sind ZL , ZP äquivalente gerichtete Zahlungsströme zur selben Kapitalfunktion K, so gilt
(r)
V (t) = V (t) t ≥ 0.
Beweis. Aus dem Äquivalenzprinzip a(ZL ) = a(ZP ) folgt
Z
Z
dZP (s)
dZL (s)
−
V (t) = K(t)
[t,∞) K(s)
[t,∞) K(s)
Z
Z
dZL (s)
dZP (s)
− a(ZP ) +
= K(t) a(ZL ) −
[0,t) K(s)
[0,t) K(s)
Z
Z
dZP (s)
dZL (s)
= K(t)
−
= (r) V (t),
[0,t) K(s)
[0,t) K(s)
wie behauptet.
Definition 2.51 (Rendite). Sei Z ∈ Z mit Zerlegung Z = ZP − ZL für ZP , ZL ∈ Zg .
Wir nennen i die Rendite (oder Effektivzins) von Z, wenn es einen Zinssatz i ≥ 0 gibt, so
dass bezüglich der Kapitalfunktion K(t) := (1 + i)t die Barwerte a(ZP ) und a(ZL ) gleich
sind. Gibt es mehrere solche i, dann definieren wir die Rendite als den kleinsten solchen
Zinssatz.
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
29
Beispiel 2.52. Es sei ZP der Zahlungsstrom der einer Zahlung π zur Zeit tP und ZL der
Zahlungsstrom der einer Zahlung A zur Zeit tL entspricht. Dann sind also
ZP = π1l[tP ,∞)
und ZL = A1l[tL ,∞) .
Außerdem sind dann die Barwerte bezüglich K(t) = (1 + i)t dann gegeben durch
a(ZP ) =
π
(1 + i)tP
und a(ZL ) =
A
.
(1 + i)tL
Werden diese gleichgesetzt, dann können wir nach i auflösen und erhalten wenn tL 6= tP ,
1
A t −t
A
L
P
=⇒ i =
− 1.
(1 + i)tL −tP =
π
π
Damit i die Rendite sein kann, muss i ≥ 0 gelten. Das bedeutet, dass wenn tL > tP ,
dann muss A ≥ π und wenn tL < tP , dann muss A ≤ π sein. Dies ist eine sehr natürliche
Bedingung: der erste Fall entspricht z.B. der Situation, dass ein Kunde den Betrag π
zur Zeit tP bei einer Bank anlegt. Nur wenn der Kunde einen höheren Betrag A zu dem
späteren Zeitpunkt tL zurückhält, ist dies ökonomisch sinnvoll. Analog würde tL < tP
einem Kredit der Bank an den Kunden entsprechen.
Übungsaufgabe 2.53. Die so definierte Rendite existiert nicht immer und ist nicht
notwendigerweise eindeutig. Geben Sie je ein Beispiel.
Bemerkung 2.54. Arbeitet man mit zufälligen Zahlungsströmen, so verwendet man zur
Definition der Rendite die Erwartungswerte der (dann zufälligen) Barwerte.
2.2
2.2.1
Grundlagen der Lebensversicherungsmathematik
Sterbewahrscheinlichkeiten und Sterbetafeln
Wir betrachten zunächst den einfachsten Fall: ‘Ein einzelnes unter einem Risiko stehendes
Leben’. Risiko bedeutet in diesem Kapitel immer: Todesfallrisiko. Einer Person wird zur
Zeit 0 ein LVV (Lebensversicherungsvertrag) angeboten. Wenn x das Lebensalter dieser
Person bezeichnet, dann wird die restliche Lebensdauer als Zufallsvariable Tx auf dem
Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, F, P) angesehen, die Werte in (0, ∞) annimmt.
In unserer Modellierung setzen wir voraus, dass die Verteilung von Tx bekannt sei:
F (t) = FTx (t) = P{Tx ≤ t} =: t qx ∈ [0, 1],
Weiterhin nehmen wir an, dass
F (0) = 0
und
lim F (t) = 1.
t→∞
t ≥ 0.
30
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Die Bedingung F (0) = 0 bedeutet, dass die Person zur Zeit 0 noch nicht verstorben ist,
während die letzte Bedingung bedeutet, dass Tx fast sicher endlich ist.
Da das aktuelle Lebensalter x in unserer Modellierung oft als fixiert angenommen wird,
lassen wir den Index x häufig weg und schreiben T := Tx .
Wir definieren tmax als das maximale Restalter, welches wir dem Versicherten mit unserer
Modellierung durch F zuordnen, also
tmax = sup{t ≥ 0 : F (t) < 1} = sup{t ≥ 0 : P{T > t} > 0} ∈ (0, ∞].
Mathematisch ist dies das essentielle Supremum von T .
Oft verwendet man auch anstelle von F die Überlebensfunktion
F̄ := 1 − F : R → [0, 1],
t 7→ F̄ (t) = P{Tx > t} =: t px .
Machmal verwendet man statt F̄ den Buchstaben S (“survival function”).
Definition 2.55. Hat die Verteilungsfunktion F von T die Dichte f , dann heißt
t 7→
f (t)
=: λ(t),
1 − F (t)
t ∈ (0, tmax ),
die Sterblichkeitsrate (hazard rate) oder Sterblichkeitsintensität zur Zeit t. Allgemeiner
definiert man die kumulierte Sterblichkeitsrate
Z
1
Λ(t) :=
dF (u), t ≥ 0.
(2.13)
[0,t] 1 − F (u−)
Man beachte, dass Λ(t) für alle t ≥ 0 erklärt, aber eventuell ∞ ist. Man sieht sofort, dass
im Fall der Existenz einer Dichte f die Gleichung
Z
Λ(t) =
λ(s) ds
[0,t]
gilt. Warum man im Fall der Nichtexistenz einer Dichte die Funktion Λ so definiert wie
oben angeben, wird erst bei der Vorbereitung des Satzes von Hattendorf klar.
Bemerkung 2.56. Bestimmung der Sterbewahrscheinlichkeiten aus der Sterblichkeitsrate. Sei F wieder die Verteilungsfunktion einer nichtnegativen Zufallsgröße mit Dichte f
(Lebensdauerverteilung) und essentiellem Supremum tmax . Wenn die Sterblichkeitsrate λ
gegeben ist durch
f (t)
, t ∈ (0, tmax ),
λ(t) =
1 − F (t)
dann gilt für die Überlebensfunktion F̄ (t) := 1 − F (t),
F̄ 0 (t) = −λ(t)F̄ (t), t ∈ (0, tmax ) und F̄ (0) = 1.
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Abbildung 2.1: Auszug aus der Sterbetafel 2008 / 2010 Deutschland, männlich
1
x
qx
px
`x
dx
ex
0
1
2
3
4
0,00386398
0,00032621
0,00020848
0,00014144
0,00013513
0,99613602
0,99967379
0,99979152
0,99985856
0,99986487
100
99
99
99
99
000
614
581
560
546
386
32
21
14
13
77,51
76,81
75,83
74,85
73,86
5
6
7
8
9
0,00010559
0,00010775
0,00008690
0,00008292
0,00008603
0,99989441
0,99989225
0,99991310
0,99991708
0,99991397
99
99
99
99
99
533
522
512
503
495
11
11
9
8
9
72,87
71,88
70,89
69,89
68,90
10
11
12
13
14
0,00008093
0,00008859
0,00010938
0,00010208
0,00016439
0,99991907
0,99991141
0,99989062
0,99989792
0,99983561
99
99
99
99
99
486
478
469
458
448
8
9
11
10
16
67,90
66,91
65,91
64,92
63,93
15
16
17
18
19
0,00020418
0,00026401
0,00034528
0,00052013
0,00050828
0,99979582
0,99973599
0,99965472
0,99947987
0,99949172
99
99
99
99
99
432
412
385
351
299
20
26
34
52
50
62,94
61,95
60,97
59,99
59,02
..
.
..
.
..
.
..
.
..
.
40
41
42
43
44
0,00132067
0,00145275
0,00157761
0,00184013
0,00205067
0,99867933
0,99854725
0,99842239
0,99815987
0,99794933
818
689
547
393
214
129
142
154
179
199
..
.
..
.
..
.
..
.
..
.
80
81
82
83
84
0,06701564
0,07438098
0,08156355
0,08925716
0,09982976
0,93298436
0,92561902
0,91843645
0,91074284
0,90017024
..
.
..
.
..
.
97
97
97
97
97
51
48
44
40
37
614
155
573
938
284
..
.
3
3
3
3
3
459
582
636
654
722
..
.
38,73
37,78
36,84
35,89
34,96
7,71
7,22
6,76
6,32
5,89
31
32
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Die eindeutige Lösung dieser linearen Differentialgleichung ist
Z t
λ(s) ds = exp(−Λ(t)),
F̄ (t) = exp −
0
woraus sich dann auch F berechnen lässt.
Um die Verteilungsfunktion F empirisch zu bestimmen, nutzt man in der Praxis häufig
sogenannte Sterbetafeln, siehe Abbildung 2.2.1. Darin werden die empirisch beobachteten einjährigen Sterbewahrscheinlichkeiten festgehalten. Weiterhin enthalten diese weitere
Grundgrößen, die Kommutationszahlen.
Besonders wichtig sind die folgenden Größen:
k px
px
k qx
qx
`x
:=
:=
:=
:=
P{k < Tx }
1 px
P{Tx ≤ k}
1 qx
dx
ex
die k-jährige Überlebenswahrscheinlichkeit eines x-Jährigen
die einjährige Überlebenswahrscheinlichkeit eines x-Jährigen
die k-jährige Sterbewahrscheinlichkeit eines x-Jährigen
die einjährige Sterbewahrscheinlichkeit eines x-Jährigen
(erwartete) Anzahl der das Alter x erreichenden Personen,
häufig auf Basis `0 = 100.000
(erwartete) Anzahl der im Lebensjahr x Sterbenden
Restlebenserwartung eines x-Jährigen
Es gibt noch weitere Kommutationszahlen, die jedoch keine so anschauliche Interpretation
mehr haben, sondern lediglich Hilfsgrößen sind.
Basierend auf den Sterbetafeln gab es auch verschiedene Ansätze die Sterbewahrscheinlichkeiten durch analytische Sterbegesetze zu beschreiben. Analytische Lebensdauerverteilungen haben den Vorteil, dass man leicht mit ihnen rechnen kann. Früher hoffte man,
einfache, allgemeingültige Formeln im Sinne eines Naturgesetzes zu finden. Dieser naive
Ansatz führt im Allgemeinen jedoch nicht zu brauchbaren Resultaten. Nützlich können
diese Verteilungen sein, wenn die Datenlage spärlich ist, da dann nur wenige Parameter
zu schätzen sind.
Beispiel 2.57. Einige analytische Lebensdauerverteilungen. In der folgenden Tabelle geben wir einige klassische Beispiele für Sterblichkeitsgesetze. Wir geben nur die Sterblichkeitsraten an. Wie in Bemerkung 2.56 lassen sich daraus leicht die entsprechenden
Verteilungsfunktionen F herleiten.
λ(t)
Parameter
1
,
tmax −t
ct
0 ≤ t ≤ tmax , tmax = 86
b, c > 0
a, b, c > 0
γ > −1
be
a + bect
ktγ
De Moivre (1724)
Gompertz (1825)
Makeham (1860)
Weibull (1939)
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
2.2.2
33
Elemente eines Lebensversicherungsvertrags
Zu beachten ist, dass die Auszahlungszeitpunkte des LVV zufällig sind und wir deshalb
zufällige Zahlungsströme betrachten müssen.
Definition 2.58 (Stochastischer Prozess). Eine Familie von reellen Zufallsvariablen
{Xt , t ≥ 0} auf (Ω, F, P) heißt stochastischer Prozess. Weiter verlangen wir in dieser
Vorlesung, dass die Pfade
t 7→ Xt (ω)
für P-fast alle ω ∈ Ω rechtsstetig sind mit linksseitigen Grenzwerten (sog. “càdlàg”-Pfade).
Definition 2.59. Ein zufälliger Zahlungsstrom auf (Ω, F, P) ist ein stochastischer Prozess
{Xt , t ≥ 0}, dessen Pfade P-fast sicher Elemente von Z sind.
Wir beschränken uns hier auf die wichtigsten Begrifflichkeiten und benötigen nicht die allgemeine Theorie stochastischer Prozesse, mehr dazu zum Beispiel in [Kle08, Kapitel 9.1].
Sei Xt , t ≥ 0 ein zufälliger Zahlungsstrom. Also ist für P-fast jedes ω ∈ Ω die Abbildung
t 7→ Xt (ω) rechtsstetig und lokal von beschränkter Variation. Insbesondere können wir
“pfadweise”, also für fast jedes ω, klassische Lebesgue-Stieltjes-Integrale zuordnen.
Definition 2.60. Sei {Xt , t ≥ 0} ein zufälliger Zahlungsstrom auf (Ω, F, P). Für jede
Funktion F : R × Ω → R definieren wir
Z
F (s, ω) dXs (ω), ω ∈ Ω
in dem üblichen Sinne sofern das Integral für jedes ω ∈ Ω existiert.
Definition 2.61. Die einen Lebensversicherungsvertrag (LVV) und die Rechnungsgrundlagen bestimmenden Größen sind:
• F Verteilungsfunktion der restlichen Lebensdauer T mit F (0)
limt→∞ F (t) = 1,
=
0 und
• τ ∈ (0, tmax ] Endzeitpunkt des Vertrages,
• Y := min(T, τ ) (zufälliger) Leistungszeitpunkt,
• das Auszahlungsspektrum ist eine nicht-negative, messbare Funktion t 7→ A(t). Zum
Zeitpunkt Y wird an den Versicherungsnehmer der Betrag A(Y ) bezahlt. Für τ = ∞,
setzen wir A(τ ) = 0 zur Vereinfachung der Notation.
• Kapitalfunktion K, die zur Diskontierung verwendet wird,
• die kumulierte Prämie oder Prämienfunktion Π(t), t ≥ 0, eine wachsende, rechtsstetige Funktion Π : R → R+ , Π(t) = 0 für t < 0, wobei Π(t) die Summe aller bis
zur Zeit t eingezahlten Prämien darstellt.
34
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Alle Größen außer T (und damit Y ) seien bekannt und deterministisch. Genauer legt das
Versicherungsunternehmen das Auszahlungsspektrum A fest und die Kapitalfunktion K
und die Verteilung F sind als bekannt vorausgesetzt. Wie wir sehen werden kann man
dann (auf mehrere Arten) die Prämie Π festlegen. Da aber der Auszahlungszeitpunkt
zufällig ist, sind die wirklichen Zahlungsströme zufällig und werden wie folgt definiert.
Definition 2.62. Der (gerichtete) Leistungsstrom eines LVV ist gegeben als
ZL (t) = A(Y )1l[Y,∞) (t).
Der (gerichtete) Prämienstrom ist definiert als
(
Π(t)
t<Y
ZP (t) =
Π(Y −) t ≥ Y.
Insbesondere wird zum Zeitpunkt Y keine Prämie mehr bezahlt. Der zu einem LVV
gehörige (zufällige) Zahlungsstrom ist gegeben als Differenz aus dem Leistungsstrom ZL
und dem Prämienstrom ZP .
Bemerkung 2.63. Spezialfälle.
• τ = ∞. Reine Todesfallversicherung (lebenslängliche Deckung, ‘whole life’),
• τ < ∞, A(τ ) = 0, temporäre Todesfallversicherung (Risikoversicherung, ‘term insurance’),
• τ < ∞ und A(t) = 0 wenn t < τ : Reine Erlebensfallversicherung, (‘pure endowment’),
• τ < ∞ und A(t) > 0 für t ≤ τ : gemischte Versicherung, Kapitallebensversicherung
(‘endowment’), gemischte Versicherung = temporäre Todesfallversicherung + reine
Erlebensfallversicherung.
Die Frage, der wir in diesem Kapitel nachgehen wollen ist, wie der Prämienstrom Π(t), t ≥
0 gewählt werden soll. Dabei werden zunächst Kosten oder ein möglicher Risikozuschlag
nicht mit in Betracht gezogen. Wie in Kapitel 2.1 betrachten wir dazu den Barwert zu
den eben definierten Zahlungsströmen.
Definition 2.64. Der (zufällige) Barwert eines LVV ist (aus Sicht des Versicherungsnehmers (VN))
B = a(ZL ) − a(ZP )
Z
Z
1
1
dZL (s) −
dZP (s)
=
[0,∞) K(s)
[0,∞) K(s)
Z
Z
1
1
=
A(Y )δY (ds) −
dΠ(s)
[0,∞) K(s)
[0,Y ) K(s)
Z
A(Y )
1
=
−
dΠ(s).
K(Y )
[0,Y ) K(s)
(2.14)
(2.15)
(2.16)
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
35
Er entspricht also wie üblich der diskontierten Auszahlung abzüglich der diskontierten
Prämie. Da Y ≤ T < ∞ fast sicher, ist auch der Barwert fast sicher endlich.
Anders als im Kapitel 2.1 können wir im Allgemeinen keine deterministische Funktion Π
finden, so dass B = 0. Stattdessen fordern wir für eine ‘faire’ Prämie nur, dass E[B] = 0
ist.
Definition 2.65. Eine Prämienfunktion Π(t), t ≥ 0 heißt Nettoprämienfunktion,
wenn
i
h
A(Y )
E[B] = 0 (insbesondere muss E|B| < ∞ sein). Außerdem nennen wir E K(Y ) den (erhR
i
1
warteten) Leistungsbarwert und E [0,Y ) K(s) dΠ(s) den (erwarteten) Prämienbarwert.
Für die Nettoprämienfunktion gilt das Äquivalenzprinzip, das im Fall zufälliger Zahlungsströme so formuliert werden kann: die erwarteten diskontierten Leistungen und die erwarteten diskontierten Prämien sollen identisch sein.
Bemerkung 2.66. Neben der Nettoprämie betrachtet man auch die sogenannte Bruttoprämie, die zusätzlich Verwaltungskosten, Gewinnmargen und Sicherheitszuschläge mit
einbezieht. Mehr dazu im Kapitel 3.4.1.
Der erwartete Barwert E[B] lässt sich für gegebene Kenngrößen explizit berechnen. Wir
setzen ab jetzt immer voraus, dass der Leistungsbarwert endlich ist.
Lemma 2.67. Falls die Integrale auf der rechten Seite endlich sind, dann gilt
Z
Z
A(τ )
1 − F (s)
A(s)
dF (s) +
(1 − F (τ −)) −
dΠ(s),
E[B] =
K(τ )
K(s)
[0,τ )
[0,τ ) K(s)
(2.17)
wobei der erste Term der rechten Seite den Leistungsbarwert im Todesfall bezeichnet, der
zweite Term den Leistungsbarwert im Erlebensfall und der letzte Term der Prämienbarwert
ist.
Die einzige Stelle bei der man bei der Berechnung von E[B] vorsichtig sein muss, ist beim
Einsetzen von Y = min{T, τ }. Da dieses Problem auch später auftauchen wird, halten
wir die Umrechnung in folgender Bemerkung fest.
Bemerkung 2.68. Verteilungsfunktion von Y . Wir schreiben FY für die Verteilung von
Y = min{T, τ }. Für 0 ≤ t < τ , gilt
FY (t) = P{Y ≤ t} = P{T ≤ t} = F (t).
Für t ≥ τ gilt,
FY (t) = P{Y ≤ t} = 1.
36
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Insbesondere gilt wegen der Stetigkeit von Maßen
P{Y = τ } = lim P{Y ∈ (s, τ ]} = lim P{Y ≤ τ } − P{Y ≤ s}
s↑τ
s↑τ
= lim(1 − F (s)) = 1 − F (τ −).
s↑τ
Für die zugehörigen Maße kann man schreiben
FY (ds) = 1l{s<τ } F (ds) + (1 − F (τ −))δτ (ds).
Damit lässt sich der Barwert aus (2.17) auch schreiben als
Z
Z
1 − F (s)
A(s)
dFY (s) −
dΠ(s).
E[B] =
K(s)
[0,τ )
[0,τ ] K(s)
Beweis von Lemma 2.67. Um auf die ursprünglichen Kenngrößen zurückzukommen,
müssen wir Y = min{T, τ } einsetzen, wie schon in Bemerkung 2.68 angedeutet. Dabei
folgt aus der Definition des Barwerts
Z
A(Y )
1
E[B] = E
−E
dΠ(s)
K(Y )
[0,Y ) K(s)
Z
E[1l{s<Y } ]
A(Y )
A(Y )
=E
1[0,τ ) (Y ) + E
1l{Y =τ } −
dΠ(s)
K(Y )
K(Y )
K(s)
[0,∞)
Z
Z
A(s)
A(τ )
P{Y > s}
=
dF (s) +
P{Y = τ } −
dΠ(s)
K(τ )
K(s)
[0,τ ) K(s)
[0,∞)
Z
Z
A(s)
1 − F (s)
A(τ )
=
dF (s) +
(1 − F (τ −)) −
dΠ(s),
K(τ )
K(s)
[0,τ ) K(s)
[0,τ )
wie behauptet.
Bemerkung 2.69. Mit der Formel (2.17) kann man E[B] berechnen, und zwar analytisch
für einige spezielle Quintupel (A, K, F, τ, Π), numerisch oder per Monte-Carlo Simulation.
Dazu simuliere man sehr viele (unabhängige) Realisierungen von Y auf dem Rechner (etwa
n Mal). Wenn die Ergebnisse die Beobachtungen y1 , . . . yn sind, dann berechnet
man nun
P
jeweils den Barwert Bi für i ∈ {1, . . . , n}. Schließlich konvergiert dann n1 ni=1 Bi f.s. gegen
E[B] (vorausgesetzt dass E[|B|] < ∞) nach dem starken Gesetz der großen Zahlen.
Eine (rechnerisch) besonders einfache Möglichkeit eine Nettoprämie zu wählen, also so
dass E[B] = 0 gilt, erhält mit einer Einmalzahlung zum Zeitpunkt 0.
Definition 2.70. Π̃ ≥ 0 heißt Nettoeinmalprämie (NEP), wenn Π(t) ≡ Π̃, t ≥ 0 eine
Nettoprämienfunktion ist.
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
37
Beispiel 2.71. Die Nettoeinmalprämie (NEP) berechnet sich durch
A(Y )
,
Π̃ = Leistungsbarwert = E
K(Y )
siehe auch Formel (2.17). Die entsprechende Prämienfunktion ist
A(Y )
Π(t) = Π̃ = E
, t ∈ [0, ∞).
K(Y )
Im Spezialfall A(t) ≡ A, K(t) = eδt gilt
Π̃ = A · E e−δY = A ·
Z
e−δs dFY (s).
[0,∞)
Das letzte Integral ist die sogenannte Laplace-Transformation von FY . Zur Bestimmung
der NEP benötigt man also nur noch Informationen über die Verteilung von Y . Damit
beschäftigen wir uns später.
Übungsaufgabe 2.72. Berechnen Sie die Nettoeinmalprämie für eine exponentialverteilte Restlebensdauer (Parameter λ > 0) explizit und interpretieren Sie die Abhängigkeit
des Ergebnisses von den Parametern δ und λ.
Natürlich ist die Nettoeinmalprämie nicht die einzige Möglichkeit eine Nettoprämie zu
wählen. Eine besonders einfache Möglichkeit ist, in regelmäßigen Zeitintervallen eine konstante Prämie zu zahlen.
Definition 2.73. Die laufende konstante vorschüssige Prämie Π zu Zeitpunkten 0 = t0 <
t1 < . . . < tN −1 < τ für N ∈ N ist
Π(t) =
N
−1
X
π1l[tk ,∞) ,
k=0
wobei π so gewählt ist, dass Π(t) eine Nettoprämienfunktion ist. Die Zahl π ≥ 0 ist
dadurch eindeutig bestimmt. Die Bezeichnung ‘vorschüssig’ bezieht sich darauf, dass die
Prämie für den Zeitraum [tk , tk+1 ], k ∈ {0, . . . , N − 2} und [tN −1 , ∞) immer am Anfang
des Intervalls bezahlt wird. Der Spezialfall N = 1 ist die NEP. Man kann auch den Fall
von unendlich vielen Zahlungszeitpunkten t0 < t1 < ... betrachten.
Es ist auch möglich, die Prämie an das Todesfallrisiko des Versicherungsnehmers anzupassen. Dies erlaubt die natürliche Prämie.
Definition 2.74. Die natürliche Prämie Π (zahlbar zu Zeitpunkten 0 = t0 < t1 < . . . <
tN −1 < τ mit tN = τ und N ∈ N ∪ {∞}) ist so gewählt, dass zum Zeitpunkt tk eine
Prämie
hZ
i
1
πk = K(tk ) E
dZL (s) | T > tk .
(tk ,tk+1 ] K(s)
38
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
gezahlt wird, welche gerade dem zu Periodenbeginn erwarteten Barwert der Versicherungsleistung im Intervall (tk , tk+1 ] entspricht. Wegen unserer Annahme, dass tmax = sup{t ≥
0 : F (t) < 1} ≥ τ gilt, sind die bedingten Erwartungen wohldefiniert. Dabei nehmen wir
an, dass im Fall τ < ∞ auch N < ∞ gilt. Der entsprechende Zahlungsstrom ist
Π(t) =
N
−1
X
πk 1l[tk ,∞) (t),
t ≥ 0.
k=0
Proposition 2.75. Die einzelnen Zahlungen der natürlichen Prämie lassen sich berechnen als
Z
A(s)
K(tk )
dFY (s), k = 0, . . . , N − 1.
πk =
1 − F (tk ) (tk ,tk+1 ] K(s)
Außerdem ist die natürliche Prämie eine Nettoprämie.
Beweis. Das zu ZL gehörende Maß ist A(Y )δY . Damit lässt sich der bedingte Erwartungswert in der Definition 2.74 berechnen als
hZ
i
K(tk )
1
πk =
E
dZL (s)1l{T >tk }
P{T > tk }
(tk ,tk+1 ] K(s)
K(tk )
A(Y )
=
E[
1lY ∈(tk ,tk+1 ] ]
1 − F (tk ) K(Y )
Z
A(s)
K(tk )
=
dFY (s).
1 − F (tk ) (tk ,tk+1 ] K(s)
Für die Bestimmung des Prämienbarwerts gilt damit nach einer Rechnung, die analog ist
zu Lemma 2.67,
hZ
E
[0,∞)
N
−1
i Z
X
1 − F (tk )
1
1 − F (s)
dZP (s) =
dΠ(s) =
πk
K(s)
K(s)
K(t
k)
[0,τ )
k=0
N
−1
X 1 − F (tk ) K(tk ) Z
A(s)
=
dFY (s)
K(t
k ) 1 − F (tk ) (tk ,tk+1 ] K(s)
Zk=0
h A(Y ) i
A(s)
=
dFY (s) = E
,
K(Y )
(0,τ ] K(s)
welches der Leistungsbarwert ist. Damit ist Π eine Nettoprämie.
2.2.3
Das Nettodeckungskapital
Das Äquivalenzprinzip bestimmt den Nettoprämienstrom nicht eindeutig, sondern nur
dessen (erwarteten) Barwert. Wir haben schon einige bekannte Nettoprämienströme, wie
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
39
z.B. die Nettoeinmalprämie, die laufende konstante und die natürliche Prämie kennengelernt. Wir untersuchen nun die Frage, wie sich der “Wert” eines LVV im Laufe der Zeit
ändert.
Wir betrachten nur Nettoprämien, so dass der erwartete Barwert zur Zeit 0 gleich null ist.
Wie bei äquivalenten Zahlungsströmen im deterministischen Fall geht aber die zu Vertragsbeginn vorhandene Ausgeglichenheit der erwarteten Nettoprämien- und Leistungsbarwerte in der Regel mit der Zeit verloren. Die zur Zeit t > 0 erwartete aufgezinste
Differenz bezeichnet man als das prospektive Nettodeckungskapital zur Zeit t.
Zur Erinnerung: Wir definieren tmax als das maximale Restalter, welches wir dem Versicherten mit unserer Modellierung durch F zuordnen, also
tmax = sup{t ≥ 0 : F (t) < 1} = sup{t ≥ 0 : P{T > t} > 0} ∈ (0, ∞].
Mathematisch ist dies das essentielle Supremum von T .
Definition 2.76. Das (erwartete) prospektive Nettodeckungskapital (NDK) V (t) eines
LVV zur Zeit t < tmax ist der erwartete Barwert (zur Zeit t) aller zukünftigen Leistungen
abzüglich aller zukünftigen (Netto)-Prämien unter der Bedingung T > t, also
Z
1
A(Y )
1l{t≤Y } −
dΠ(s) T > t .
V (t) = K(t) E
K(Y )
[t,Y ) K(s)
Bemerkung 2.77. Die Bedingung t < tmax garantiert, dass F (t) < 1 und wir in der
Definition auf ein Ereignis mit positiver Wahrscheinlichkeit bedingen. Für t = 0 gilt
aufgrund der Annahme F (0) = 0,
Z
1
A(Y )
1l{0≤Y } −
dΠ(s) T > 0
V (0) = K(0)E
K(Y )
[0,Y ) K(s)
Z
A(Y )
1
=E
−
dΠ(s)
K(Y )
[0,Y ) K(s)
= E[B] = 0,
da Π eine Nettoprämie ist.
Interpretation. Den Betrag V (t) muss das Versicherungsunternehmen zur Zeit t für den
LVV zurückstellen (‘reservieren’), um zukünftige Leistungen bedienen zu können. Meist
ist V (t) > 0 für 0 < t < τ . Aus Sicht des Versicherungsnehmers (VN) entspricht V (t)
dem Nettorückkaufwert, also dem Guthaben des Versicherungsnehmers bei dem Lebensversicherungsunternehmen.
Das Nettodeckungskapital lässt sich mit Hilfe der Kenngrößen des Vertrags berechnen.
40
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Lemma 2.78. Für eine Nettoprämie Π und das prospektive Nettodeckungskapital V gilt
für alle 0 ≤ t < τ (= tmax ∧ τ ),
Z
Z
A(s)
1 − F (s)
K(t)
A(τ )
V (t) =
dF (s) +
(1 − F (τ −)) −
dΠ(s) .
1 − F (t)
K(τ )
K(s)
(t,τ ) K(s)
[t,τ )
(2.18)
Ist tmax > τ , dann gilt
V (τ ) = A(τ )
und V (t) = 0
für alle t ∈ (τ, tmax ).
Insbesondere gilt
lim
t↑τ
V (t)
A(τ )
V (τ )
=
=
.
K(t)
K(τ )
K(τ )
Beweis. Für t < τ (= τ ∧ tmax ) gilt T > t genau dann wenn Y > t und deshalb können
wir die bedingte Erwartung schreiben als
Z
i
h A(Y )
1
1
1l{t≤Y } −
dΠ(s) 1{T >t}
V (t) = K(t)E
K(Y )
P{T > t}
[t,Y ) K(s)
Z
Z
K(t)
A(s)
1 − F (s)
=
dFY (s) −
dΠ(s)
1 − F (t)
K(s)
(t,τ ] K(s)
[t,τ )
Z
Z
K(t)
A(s)
A(τ )
1 − F (s)
dF (s) +
(1 − F (τ −)) −
dΠ(s) ,
=
1 − F (t)
K(τ )
K(s)
(t,τ ) K(s)
[t,τ )
wobei wir im letzten Schritt Bemerkung 2.68 benutzt haben.
Für τ < t < tmax gibt es keine Zahlungen mehr, so dass offensichtlich V (t) = 0 gilt. Ist
tmax > τ dann folgt für t = τ aus T > t, dass Y = τ und damit
V (τ ) = K(τ )
A(τ )
= A(τ ).
K(τ )
Ist tmax > τ (und damit insbesondere τ < ∞), dann sieht man insbesondere, dass
lim
t↑τ
V (t)
1 − F (τ −) A(τ )
A(τ )
V (τ )
= lim
=
=
.
t↑τ
K(t)
1 − F (t) K(τ )
K(τ )
K(τ )
Lemma 2.79. Für eine Nettoprämie Π lautet die retrospektive Darstellung des Nettodeckungskapitals
Z
Z
K(t) A(s)
1 − F (s)
V (t) =
−
dF (s) +
dΠ(s) ,
1 − F (t)
K(s)
[0,t] K(s)
[0,t)
für alle t < τ (= min{τ, tmax }).
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
41
Beweis. Wegen Lemma 2.67 gilt
Z
A(s)
A(τ )
1 − F (s)
0 = EB =
dF (s) +
(1 − F (τ −)) −
dΠ(s)
K(τ )
K(s)
[0,τ ) K(s)
[0,τ )
Z
Z
A(s)
A(s)
A(τ )
=
dF (s) +
dF (s) +
(1 − F (τ −))
K(τ )
[0,t] K(s)
(t,τ ) K(s)
Z
Z
1 − F (s)
1 − F (s)
dΠ(s) −
dΠ(s).
−
K(s)
K(s)
[t,τ )
[0,t)
Z
Damit folgt aus (2.18)
V (t)
(1 − F (t))
=−
K(t)
Z
[0,t]
A(s)
dF (s) +
K(s)
Z
[0,t)
1 − F (s)
dΠ(s),
K(s)
und so die retrospektive Darstellung.
2.2.4
Die Thielesche Differentialgleichung
Die Dynamik des Nettodeckungskapitals hat Thorvald Thiele (Dänemark) bereits 1875
in einer unveröffentlichten Note mit Hilfe einer Differentialgleichung untersucht. Zur Herleitung dieser Thieleschen Differentialgleichung müssen wir spezielle Annahmen an die
Kenngrößen treffen. Wir erinnern zunächst daran, dass τ ≤ tmax gilt und nehmen an, dass
K, F, Π absolutstetig sind in dem Sinne, dass
Z
t
Z
k(s) ds + 1,
K(t) =
0
t
Z
f (s) ds,
F (t) =
t
π(s)ds,
Π(t) =
(2.19)
0
0
für alle t < τ , wobei wir annehmen, dass π, k, f sogar stetige nicht-negative Funktionen
R+ → R+ sind. Insbesondere sind F, K, Π nun stetig differenzierbar mit Ableitungen
F 0 = f, K 0 = k und Π0 = π. Die Annahmen vor allem an Π sind unrealistisch, da sie
praktisch nicht umzusetzen sind. Allerdings kann man sich diese Darstellung als eine
Approximation von regelmässigen Zahlungen (zum Beispiel monatlich) über einen langen
Zeitraum (beispielsweise über 20 Jahre) vorstellen.
Satz 2.80. Wir nehmen an, dass die Kenngrößen K, F, Π (2.19) für stetige, nicht-negative
Funktionen k, f, π : R+ → R+ erfüllen. Sei A : R+ → R+ stetig auf [0, τ ). Dann erfüllt
das Nettodeckungskapital V die Thielesche Differentialgleichung
V 0 (t) = φ(t)V (t) + π(t) + λ(t)(V (t) − A(t)),
wobei φ(t) =
k(t)
K(t)
die Zinsintensität und λ(t) =
f (t)
1−F (t)
t ∈ [0, τ ),
die Sterblichkeitsintensität ist.
42
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Beweis. Setzt man die spezielle Form der Kenngrößen in die retrospektive Darstellung
des Nettodeckungskapitals aus Lemma 2.79 ein (siehe auch Beispiel 2.19), so erhält man
K(t) V (t) =
−
1 − F (t)
Z
t
0
A(s)
f (s) ds +
K(s)
Z
t
0
1 − F (s)
π(s) ds ,
K(s)
(2.20)
für alle t < τ . Damit ist V differenzierbar und wir erhalten durch Wiedereinsetzen
von (2.20)
f (t)
A(t)
1 − F (t)
K(t)
V (t)
+
−
f
(t)
+
π(t)
V
(t)(1
−
F
(t))
+
K(t) (1 − F (t))2
1 − F (t)
K(t)
K(t)
k(t)
f (t)
= V (t)
+ π(t) +
V (t) − A(t) .
K(t)
1 − F (t)
V 0 (t) = k(t)
Durch Einsetzen von φ(t) =
k(t)
K(t)
und λ(t) =
f (t)
1−F (t)
erhalten wir das erwünschte Ergebnis.
Übungsaufgabe 2.81. Zeigen Sie, dass das zugehörige Anfangswertproblem eindeutig
lösbar ist. [Ansatz: Methode der Variation der Konstanten.]
Mit Hilfe der Thieleschen Differentialgleichung lässt sich der Prämienstrom, bzw. die
Prämienintensität in zwei natürliche Komponenten zerlegen. Es gilt
π(t) = V 0 (t) − φ(t)V (t) + (A(t) − V (t))λ(t).
Damit folgt für die Prämienintensität
π(t) = π s (t) + π r (t),
wobei
Sparkomponente:
Risikokomponente:
(2.21)
π s (t) := V 0 (t) − φ(t)V (t),
π r (t) := (A(t) − V (t))λ(t).
Aus den Dichten ergeben sich natürlich die entsprechenden Prämienfunktionen als
s
Z
Π (t) =
t
s
r
Z
π (u) du und Π (t) =
0
t
π r (u) du.
0
Der Name Risikokomponente erklärt sich wie folgt: Falls der Todesfall zum Zeitpunkt t
eintritt, dann muss der Versicherer den Betrag A(t) zahlen. Damit entspricht A(t) − V (t)
dem unmittelbar riskierten Kapital (welches auch negativ sein kann). Für die Dichte der
Risikoprämie wird diese Differenz dann noch mit der Sterblichkeitsintenstität multipliziert.
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
43
Bemerkung 2.82. Falls A(τ ) = 0 ist, dann kann man auch in der Situation von Satz 2.80
eine stetige natürliche Prämie definieren. Das stetige Analogon von Definition 2.74 erhalten wir, wenn wir
f (s)
A(s),
π nat (s) := λ(s)A(s) =
1 − F (s)
setzen. Dann gilt mit A(τ ) = 0 nach Lemma 2.78
Z
Z
K(t) A(s)
1 − F (s) nat
V (t) =
f (s) ds −
π (s) ds = 0,
1 − F (t) (t,τ ) K(s)
K(s)
[t,τ )
für alle t ∈ [0, τ ).
In diesem Fall gilt also V = V 0 = 0 und die Prämie besteht aus einer reinen Risikokomponente
F 0 (t)
= A(t)λ(t) = π r (t).
π nat (t) = A(t)
1 − F (t)
2.2.5
Die Thielesche Integralgleichung
In der Praxis sind Π, F, K häufig nicht differenzierbar, deshalb kann die Thielsche Differentialgleichung nicht direkt angewandt werden. Allerdings gibt es eine Integralgleichung
die allgemeiner gilt.
Wie vorher definieren wir die kumulierte Sterblichkeitsrate als
Z
1
Λ(t) =
dF (s).
[0,t] 1 − F (s−)
Satz 2.83 (Thielesche Integralgleichung). Es gilt für alle t < τ ,
Z
Z
1
A(u) − V (u)
V (t)
=
dΠ(s) −
dΛ(u).
K(t)
K(u)
[0,t) K(s)
(0,t]
(2.22)
Bemerkung 2.84. In den letzten Jahrzehnten wurden sehr allgemeine Integralgleichungen für weitaus komplexere Modelle hergeleitet, auf die wir hier jedoch nicht eingehen
können. Siehe [MH99] für weitere Informationen.
Unter der Bedingung dass K, F, Π stetig differenzierbar sind, folgt diese Gleichung aus
der Thieleschen Differentialgleichung aus Satz 2.80. Als Vorbereitung für den Beweis des
allgemeinen Falls brauchen wir das folgende Lemma, eine Verallgemeinerung der bekannten Kettenregel aus der Analysis, das in verallgemeinerter Form in der stochastischen
Analysis von zentraler Bedeutung ist.
44
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Lemma 2.85 (Itô Lemma). Sei G eine rechtsstetige Funktion von lokal beschränkter
Variation auf [0, ∞) und sei h : R → R stetig differenzierbar. Dann ist (h(G(t)))t≥0 auch
von lokal beschränkter Variation und für 0 ≤ s < t gilt
Z
h0 (G(u−))dG(u)
h(G(t)) = h(G(s)) +
(s,t]
(2.23)
X
+
h(G(u)) − h(G(u−)) − h0 (G(u−))(G(u) − G(u−)).
s<u≤t
Beweisidee. Sei A die Klasse aller Funktionen h aus C 1 die (2.23) erfüllen. Dann ist A
ein Vektorraum, der die Funktion h = idR enthält. Mit Hilfe der partiellen Integration,
Satz 2.25, kann man zeigen, dass das Produkt von zwei Funktionen in A wieder in A
liegt. Insbesondere sind alle Polynome in A. Damit kann man ein beliebiges h ∈ C 1 durch
Polynome approximieren und so zeigen dass (2.23) gilt. Die vollständigen Details des
Beweises findet man z.B. in [RW00, Thm. IV 18.4].
Beweis von Satz 2.83. Als ersten Schritt zeigen wir, dass für alle 0 < s ≤ t mit F (t) < 1,
gilt
Z
1
1
1
1
=
+
dF (u)
1 − F (t)
1 − F (s)
(s,t] 1 − F (u) 1 − F (u−)
Z
(2.24)
1
1
+
dΛ(u).
=
1 − F (s)
(s,t] 1 − F (u)
1
Diese Aussage folgt aus dem Itô Lemma 2.85 wenn man G(t) = F (t) und h(x) = 1−x
2
wählt. Allerdings muss man, da h nur C auf [0, 1) ist, vorsichtig argumentieren (in dem
man z.B. für festes t, F̃ (u) = F (u ∧ t) definiert, h̃ stetig differenzierbar mit h̃(x) = h(x)
für alle 0 ≤ x ≤ F (t) wählt und dann das Lemma auf h̃ und F̃ anwendet). Dann gilt
Z
1
1
1
=
+
dF (u)
2
1 − F (t)
1 − F (s)
(s,t] (1 − F (u−))
X h
1
1
F (u) − F (u−) i
+
−
−
1 − F (u) 1 − F (u−)
(1 − F (u−))2
s<u≤t
Z
1
1
=
+
dF (u)
2
1 − F (s)
(s,t] (1 − F (u−))
Z
1
1
1
+
−
dF (u)
1 − F (u−)
(s,t] 1 − F (u−) 1 − F (u)
Z
1
1
1
=
+
dF (u)
1 − F (s)
(s,t] 1 − F (u) 1 − F (u−)
Damit folgt die Aussage (2.24).
2.2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
45
Die Aussage des Satzes folgt nun aus der retrospektiven Darstellung des Nettodeckungskapitals, die besagt dass
Z
Z
V (t)
1
1
A(y)
1 − F (s)
=−
dFY (y) +
dΠ(s).
(2.25)
K(t)
1 − F (t) (0,t] K(y)
1 − F (t) [0,t) K(s)
Es gilt, wenn wir zunächst (2.25) anwenden und dann den Satz von Fubini, dass
Z
Z
Z
V (u)
1
A(s)
dΛ(u) = −
dFY (s)dΛ(u)
(0,t] K(u)
(0,t] 1 − F (u) (0,u] K(s)
Z
Z
1
1 − F (s)
dΠ(s)dΛ(u)
+
K(s)
(0,t] 1 − F (u) [0,u)
Z
Z
A(s)
1
1
=−
dF (u)dFY (s)
(0,t] K(s) [s,t] 1 − F (u) 1 − F (u−)
Z
Z
1 − F (s)
1
1
+
dF (u)dΠ(s)
K(s)
[0,t)
(s,t] 1 − F (u) 1 − F (u−)
Z
A(s)
1
1
=−
−
dFY (s)
1 − F (s−)
(0,t] K(s) 1 − F (t)
Z
1 − F (s)
1
1
+
−
dΠ(s)
K(s) 1 − F (t) 1 − F (s)
[0,t)
(2.26)
Dabei haben wir im letzten Schritt (2.24) genutzt und zusätzlich, dass
Z
1
1
1
1
1
F (s) − F (s−)
dF (u) =
+
−
1 − F (s) 1 − F (s−)
1 − F (t) 1 − F (s)
[s,t] 1 − F (u) 1 − F (u−)
1
1
−
,
=
1 − F (t) 1 − F (s−)
wobei die erste Gleichung aus (2.24) folgt, indem man das Integral über [s, t] zerlegt in eines über [s, s] und über (s, t]. Nun können wir aus (2.26) zusammen mit der retrospektiven
Darstellung (2.25) folgern, dass
Z
Z
Z
V (u)
V (t)
A(s)
1
dΛ(u) =
+
dΛ(s) −
dΠ(s),
K(t)
(0,t] K(u)
(0,t] K(s)
[0,t) K(s)
woraus die Aussage (2.22) direkt folgt.
Bemerkung 2.86. Im Fall τ < tmax gilt die Thielesche Integralgleichung auch für t = τ .
Bildet man nämlich beidseitig den Grenzwert t ↑ τ , so folgt die Gleichheit für t = τ wegen
Lemma 2.78, da zwar Λ{τ } größer als Null sein kann, der Integrand im zweiten Integral
aber an der Stelle τ wegen Lemma 2.78 Null ist.
46
KAPITEL 2. GRUNDLAGEN DER LEBENSVERSICHERUNGSMATHEMATIK
Kapitel 3
Der Satz von Hattendorf
In diesem Kapitel werden wir uns mit der Varianz des Barwerts eines LVV beschäftigen.
In Kapitel 3.1 werden wir sehen, dass die Nettoeinmalprämie (unter gewissen Voraussetzungen) die Varianz über alle möglichen Nettoprämien minimiert. Im Hauptresultat
dieses Kapitels, dem Satz von Hattendorf, werden wir eine allgemeine Formel für die
Varianz angeben. Bevor wir diesen Abschnitt 3.3 formulieren und beweisen, müssen wir
einiges an Vorarbeit leisten. Insbesondere führen wir in Abschnitt 3.2 das Konzept des
Martingals ein, welches ein zentrales Hilfsmittel der moderne Stochastik darstellt und
besonders elegante Beweise ermöglicht. Als Voraussetzung benötigen wir die (allgemeine)
bedingte Erwartung: im Anhang A.2 wiederholen wir die Definition und die wichtigsten
Eigenschaften.
3.1
Nettoeinmalprämie (NEP) und Varianz des Barwerts
Wir benutzen weiterhin die Bezeichnungen des letzten Kapitels. Bei Nettoprämien gilt
nach dem Äquivalenzprinzip E[B] = 0, aber was ist mit der Varianz V(B)? Diese sollte
im Interesse des Versicherungsunternehmens möglichst klein sein. Diese Frage wird uns
zum Schluss des Kapitels über Lebensversicherungsmathematik und später wieder in der
Risikotheorie beschäftigen. Hier zunächst ein kleines Resultat zum ‘Aufwärmen’.
A(t)
fallend. Dann ist unter allen NettoProposition 3.1. Sei t ≥ 0 und t 7→ K(t)
prämienfunktionen {Π(t), t ≥ 0} die Varianz V(B) am kleinsten, wenn der Prämienstrom
{Π(t)} konstant ist d.h.
Π(t) = Π̃, für alle t ≥ 0,
also die Nettoeinmalprämie Π̃ aus Bemerkung 2.71.
47
48
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
Bemerkung 3.2. Der Spezialfall des konstanten Auszahlungsspektrums A(t) ≡ A ist in
dieser Proposition enthalten, da K(t), t ≥ 0 wachsend ist.
Zum Beweis des Satzes benötigen wir eine einfache Korrelationsungleichung.
Lemma 3.3. Sei X eine Zufallsvariable auf (Ω, F, P). Seien f, g : R → R wachsend mit
E[|f (X)|], E[|g(X)|] < ∞. Dann gilt
E[f (X)g(X)] ≥ E[f (X)]E[g(X)].
Beweis von Lemma 3.3. Zunächst beachte, dass aufgrund der Monotonie für alle y ≥ x
gilt
f (y) − f (x) g(y) − g(x) ≥ 0.
Die Ungleichung gilt aber auch für alle y < x! Daher setze man zunächst für x die ZV
X ein und bilde den Erwartungswert, anschließend setze man für y ebenfalls X ein und
bilde den Erwartungswert erneut. Ausmultiplizieren liefert dann das Ergebnis.
Beweis von Proposition 3.1. Wir definieren zunächst zur Abkürzung
Z
A(t)
1
Ā(t) :=
, Π̄(t) :=
dΠ(s).
K(t)
[0,t) K(s)
Wegen K(0) = 1 ist Ā(t) ≤ A(0) für alle t ≥ 0 nach Voraussetzung, und damit ist Ā(Y )
eine beschränkte Zufallsvariable, also V(Ā(Y )) < ∞. Wir unterscheiden nun zwei Fälle:
entweder ist V(Π̄(Y )) = ∞ oder V(Π̄(Y )) < ∞ (beide Fälle können auftreten). Im ersten
Fall gilt V(B) = V(Ā(Y ) − Π̄(Y )) = ∞. Wir betrachten nun den zweiten Fall. Dann gilt
mit der Definition 2.64 und den üblichen Rechenregeln für die Varianz
V(B) = V(Ā(Y ) − Π̄(Y ))
= V(Ā(Y )) + V(Π̄(Y )) − 2 Cov(Ā(Y ), Π̄(Y )).
(3.1)
Zur Erinnerung: Cov(X, Z) := E[XZ] − E[X]E[Z] bezeichnet die Kovarianz von zwei
Zufallsvariablen.
Wenn Π(t) ≡ Π̃, dann ist auch Π̄(Y ) ≡ Π̃ = Π(0) und deterministisch. Somit folgt
V(B) = V(Ā(Y )).
Wir betrachten nun den Fall, dass Π(t) nicht konstant ist. Offensichtlich ist Π̄ monoton
wachsend und mit Lemma 3.3 angewendet auf −Ā (wachsend) und Π̄ (wachsend) folgt
Cov(Ā(Y ), Π̄(Y )) = E[Ā(Y )Π̄(Y )] − E[Ā(Y )]E[Π̄(Y )]
= E[−Ā(Y )]E[Π̄(Y )] − E[−Ā(Y )Π̄(Y )] ≤ 0
Damit folgt aus (3.1), dass (in beiden Fällen) V(B) ≥ V(Ā(Y )) ist.
Übungsaufgabe 3.4. Zeigen Sie anhand eines Beispiels, dass der Satz durch Weglassen
der Voraussetzung an das Auszahlungsspektrum falsch wird! Hinweis: Reine Erlebensfallversicherung.
3.2. EINSCHUB: MARTINGALE
3.2
49
Einschub: Martingale
Wir betrachten wieder den Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, F, P). Im Gegensatz zu den letzten Abschnitten betrachten wir nun nicht mehr nur einzelne Zufallsvariablen, sondern
ganze Familien von Zufallsvariablen auf (Ω, F, P), die wir als stochastischen Prozess interpretieren. Hier zunächst eine Vorbereitung.
Definition 3.5 (Filtration). Eine Familie von σ-Algebren F = {Ft , t ≥ 0} auf (Ω, F)
heißt Filtration, falls für jedes t ≥ 0 gilt, dass Ft ⊂ F und für alle 0 ≤ s < t < ∞,
Fs ⊂ Ft .
Definition 3.6 (Adaptierter stochastischer Prozess). Ein stochastischer Prozess {Xt }
auf (Ω, F, P) heißt {Ft }-adaptiert, falls jedes Xt messbar ist bezüglich Ft .
Bemerkung 3.7. Setzt man Ft := σ{Xs : 0 ≤ s ≤ t} für alle t ≥ 0, so ist {Ft }
die sogenannte kanonische Filtration des Prozesses {Xt }. Interpretation: Ft enthält alle
Information über den Prozess {Xt }, die bis zum Zeitpunkt t erhältlich ist. Genauer: alle
Ereignisse bezüglich {Xt }, von denen wir zum Zeitpunkt t entscheiden können, ob sie
eingetreten sind oder nicht.
Definition 3.8 (Martingal). Ein {Ft }-adaptierter stochastischer Prozess {Xt } heißt
{F}t }- Martingal, falls E[|Xt |] < ∞ für alle t ≥ 0 und für alle 0 ≤ s < t
E[Xt |Fs ] = Xs
f.s.
E[Xt |Fs ] ≥ Xs
f.s.,
Gilt für alle 0 ≤ s < t lediglich
so heißt {Xt } Submartingal und im Falle der umgekehrten Ungleichung Supermartingal.
Unmittelbar aus der “tower property” folgt
Korollar 3.9. Sei {Xt } ein {Ft }-Martingal. Dann gilt für alle t ≥ 0,
E[Xt ] = E[X0 ].
Ist X0 = 0 f.s., so gilt für jedes t ≥ 0 also E[Xt ] = 0 fast sicher.
Martingale sind zentral in der Theorie stochastischer Prozesse und insbesondere auch in
der Finanzmathematik. Man kann sie als Formalisierung des Begriffs des “fairen Spiels”
betrachten.
50
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
Beispiel 3.10. Summe von fairen Münzwürfen. Angenommen, man spielt folgendes
Spiel. Nach einer jeweils unabhängig exponentialverteilten Wartezeit wirft man eine ‘faire’
Münze (d.h. die W-keit jeder Seite ist 1/2). Kommt ‘Kopf’, so erhält man 1 Euro, kommt
‘Zahl’, so muss man einen Euro bezahlen. Bei einem Startguthaben von k ∈ N Euro ist
der Prozess des eigenen Guthabens dann gegeben durch
Xt =
n(t)
X
Yi + k,
t ≥ 0,
i=1
wobei die Y1 , Y2 , . . . unabhängig identisch verteilte Zufallsvariablen sind mit
P(Yi = −1) = P(Yi = 1) = 1/2.
und n(t) die Anzahl der Würfe bis zum Zeitpunkt t bezeichnet. Den Prozess {Xt }t≥0
nennt man auch einfache, symmetrische Irrfahrt (in stetiger Zeit). Er ist ein Martingal
(einfache Übungsaufgabe). Typische Frage: “Geht man sicher pleite”? Wie lange dauert
es bis zum “Ruin”, also wann ist zum ersten mal Xt = 0? Mehr zu solchen Fragen in der
zweiten Hälfte der Vorlesung.
Beispiel 3.11. Sei X eine ZV mit E[|X|] < ∞ und (Ft )t≥0 eine Filtration. Setze für
t ≥ 0,
Mt := E[X | Ft ].
Aus der ‘tower property’ folgt, für 0 ≤ s ≤ t, f.s.,
Ms = E[X | Fs ] = E[E[X | Ft ] | Fs ] = E[Mt | Fs ].
Außerdem ist
(3.2)
E E[X | Fs ] ≤ E[E[|X| | Fs ]] = E|X|,
und damit ist {Mt } ein {Ft }-Martingal. Diese einfache Eigenschaft benötigen wir später
noch.
Lemma 3.12 (Orthogonale Zuwächse). Ist {Mt } ein {Ft }-Martingal in L2 , d.h. E[Mt2 ] <
∞ für alle t ≥ 0, dann gilt für 0 ≤ s ≤ t ≤ u ≤ v
Cov(Mv − Mu , Mt − Ms ) = 0,
die Zuwächse sind also unkorreliert.
Beweis. Mit Hilfe der ‘tower property’ folgt
E[(Mt − Ms )(Mv − Mu )] = E[E[(Mt − Ms )(Mv − Mu ) | Fu ]]
= E[(Mt − Ms )E[(Mv − Mu ) | Fu ]]
= 0.
Da die Zuwächse zentriert sind, folgt die Behauptung.
3.3. DER SATZ VON HATTENDORF
51
Lemma 3.13 (Pythagoras). Sei {Mt } ein Martingal in L2 . Dann gilt, für 0 ≤ s ≤ t,
E[(Mt − Ms )2 ] = E[Mt2 − Ms2 ].
Übungsaufgabe 3.14. Beweisen Sie Lemma 3.13.
3.3
Der Satz von Hattendorf
Der Satz von Hattendorf und insbesondere sein Beweis sind eine schöne Anwendung von
Martingalmethoden und elementarer stochastischer Integration in der Versicherungsmathematik.
Sei wieder T der Todeszeitpunkt mit Verteilungsfunktion F, F (0) = 0, und Y := min{T, τ }
mit Verteilungsfunktion FY , wobei τ ∈ [0, tmax ]. Sei {Nt } ein Zählprozess mit genau einem
Sprung der Höhe 1 zur Zeit Y , also
Nt := 1[0,t] (Y ) = 1{Y ≤t} ,
t ≥ 0.
Das erste Ziel ist es, {Nt } durch Subtrahieren eines geeigneten anderen Prozesses zu
einem Martingal zu machen, damit wir die Martingaltechniken aus dem vorherigen Kapitel
anwenden können.
Sei {Ft } die kanonische Filtration von {Nt } also für t ≥ 0 gegeben durch
Ft = σ{1[0,s] (Y ), 0 ≤ s ≤ t} = σ(Y ∧ t, 1{Y =t} ).
Die Filtration enthält also zur Zeit t genau die Information, mit der man entscheiden
kann, ob und gegebenenfalls wann Y bis zur Zeit t eingetreten ist oder nicht.
Wir erinnern daran, dass die kumulierte Sterblichkeitsintensität (für Y ) als
Z
1
dFY (u),
ΛY (t) =
(0,t] 1 − FY (u−)
definiert ist.
Übungsaufgabe 3.15. Man zeige, dass limt↑τ ΛY (t) = ∞ gilt genau dann wenn entweder
τ = ∞ oder sowohl τ < ∞ als auch FY (τ −) = 1 gilt.
Proposition 3.16. Für t ≥ 0, sei Nt = 1l[0,t] (Y ), dann ist
Z
Mt = Nt −
dΛY (u),
[0,t∧Y ]
ein {Ft }t≥0 -Martingal. Weiter ist t →
7 Mt rechtsstetig und E[Mt ] = 0 für alle t ≥ 0. Im
Fall τ < ∞ ist t 7→ Mt (fast sicher) stetig in τ .
52
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
Bemerkung 3.17. Die Aussage dieser Proposition lässt sich auf allgemeinere
Zählprozesse (also wachsende, stückweise konstante Prozesse, die rechtsstetig und adaptiert sind und die bei jedem Sprung jeweils um eine Einheit nach oben springen) verallgemeinern. Dahinter steckt die Idee, dass man den Prozess durch Subtraktion eines
geeigneten Prozesses At so kompensieren kann, dass die Differenz ein Martingal ist. Deshalb nennt man den Prozess
Z
1
dFY (u), t ≥ 0.
ΛY (t ∧ Y ) :=
[0,t∧Y ] 1 − FY (u−)
auch den Kompensator zu Nt . Für die allgemeine Theorie verweisen wir auf [RW00, Kapitel VI].
Bemerkung 3.18. Wir erinnern uns, dass für Y = T ∧ τ gilt
F (t) t < τ,
FY (t) =
1
t ≥ τ.
Deshalb hat im Fall τ < ∞ und F (τ −) < 1 die Funktion FY einen Sprung der Höhe
1 − F (τ −) in τ bzw. dFY hat in τ ein Atom der Masse 1 − F (τ −). Insbesondere gilt
Z
1
dFY (s)
∆ΛY (τ ) = lim ΛY (τ ) − ΛY (τ − h) = lim
h↓0
h↓0 (τ −h,τ ] 1 − FY (s−)
Z
1
dFY (s) = 1.
=
{τ } 1 − FY (s−)
Ist τ < ∞ und F (τ −) = 1, dann ist ∆ΛY (τ ) = 0.
Zum Beweis von Proposition 3.16 benötigen wir das folgende Hilfslemma.
Lemma 3.19. Sei A ein Teilintervall von (s, ∞) für ein s < τ . Dann gilt unter den
Voraussetzungen von Proposition 3.16
P{Y ∈ A | Fs } := E[1l{Y ∈A} | Fs ] =
P{Y ∈ A}
1l{Y >s} .
1 − FY (s)
(3.3)
Beweis. Wir müssen zeigen dass der Ausdruck auf der rechten Seite in (3.3) die Definition der bedingten Erwartung aus Satz A.1 erfüllt. Zunächst stellen wir fest, dass diese
Zufallsvariable Fs -messbar ist. Nun erzeugt das schnittstabile Mengensystem {Y > r},
r ≤ s, die σ-Algebra Fs . Also müssen wir den zweiten Teil der Definition nur für Mengen
dieser Form überprüfen. Wir betrachten,
Z
P{Y ∈ A}
P{Y ∈ A}
dP =
P{Y > r; Y > s}
1l{Y >s}
P{Y > s}
P{Y > s}
{Y >r}
Z
= P{Y ∈ A} =
1l{Y ∈A} dP,
{Y >r}
da nach Voraussetzung A ⊂ (s, ∞) und somit {Y ∈ A} ∩ {Y > r} = {Y ∈ A}. Dies zeigt
den zweiten Teil der Definition der bedingten Erwartung.
3.3. DER SATZ VON HATTENDORF
53
Beweis von Proposition 3.16. Die Rechtsstetigkeit von {Mt } folgt aus der Rechtsstetigkeit
von {Nt } und dem Stetigkeitssatz für Maße . Die Stetigkeit in τ ist klar wenn Y < τ und
sonst folgt sie aus Bemerkung 3.18. Da für Martingale E[Mt ] = E[M0 ] konstant ist in
t ≥ 0 und E[M0 ] = 0 (da M0 = 0), gilt E[Mt ] = 0 (siehe Korollar 3.9).
Es bleibt zu zeigen, dass
Z
Mt = Nt −
Z
dΛY (u) = 1l[0,t] (Y ) −
[0,t∧Y ]
1l[u,∞) (Y )dΛY (u),
t ≥ 0,
[0,t]
ein Martingal ist. Wir zeigen zuerst die Integrierbarkeit. Für t > 0 gilt
E|Mt | ≤ E1l[0,t] (Y ) + EΛY (Y ∧ t)
Z
= FY (t) + E
1l[0,Y ] (u)dΛY (u)
(0,t]
Z
1
dFY (u) = 2FY (t) ≤ 2.
= FY (t) +
P{Y > u}
1 − FY (u)
(0,t]
Falls t ≥ τ , dann gilt dass Mt = Mτ , also ist (Mt )t≥τ konstant und Fτ -messbar. Deshalb
müssen wir nur für alle s < t ≤ τ zeigen dass E[Mt | Fs ] = Ms f.s. gilt. Mit Hilfe des
Satzes von Fubini erhalten wir
Z
E[Mt | Fs ] = E[1l[0,s] (Y )|Fs ] − E[1l(s,t] (Y )|Fs ] −
E[1l[u,∞) (Y ) | Fs ] dΛY (u)
[0,t]
Z
= 1l[0,s] (Y ) −
E[1l[u,∞) (Y ) | Fs ] dΛY (u)
[0,s]
Z
+ E[1l(s,t] (Y )|Fs ] −
E[1l[u,∞) (Y ) | Fs ] dΛY (u)
(s,t]
Z
= Ms + E[1l(s,t] (Y )|Fs ] −
E[1l[u,∞) (Y ) | Fs ] dΛY (u).
(s,t]
Wir müssen also zeigen, dass die letzten beiden Summanden zusammen 0 ergeben. Aus
Lemma 3.19 und der Definition der kumulierten Sterblichkeitsintensität ΛY folgt aber,
dass
Z
Z
P{Y ∈ [u, ∞)}
dΛY (u)
E[1l[u,∞) (Y ) | Fs ] dΛY (u) =
1l{Y >s}
1 − FY (s)
(s,t]
(s,t]
Z
1
1 − FY (u−)
= 1l{Y >s}
dFY (u)
(s,t] 1 − FY (s) 1 − FY (u−)
P{Y ∈ (s, t]}
= 1l{Y >s}
= E[1l(s,t] (Y )|Fs ],
P{Y > s}
wobei wir im letzten Schritt erneut Lemma 3.19 angewandt haben. Damit ist (Mt )t≥0 ein
Martingal.
54
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
Beispiel 3.20. Angenommen τ = ∞ und T ist exponentialverteilt zum Parameter 1
(reine Todesfallversicherung). Dann ist auch Y exponentialverteilt, und es gilt
F (t) = FY (t) = 1 − exp(−t),
λY (t) =
exp(−t)
= 1.
1 − (1 − exp(−t))
Damit ist
(
1−Y
du =
−t
Z
Mt = 1[Y,∞) (t) −
(0,t∧Y ]
falls Y ≤ t,
falls Y > t.
ein Martingal. Man kann auch direkt nachrechnen, dass
Z
t
(1 − u) exp(−u) du
E[Mt ] = −tP{t < Y } +
0
= −t exp(−t) + 1 − exp(−t) + t exp(−t) + exp(−t) − 1 = 0,
in Übereinstimmung mit der Martingaleigenschaft und Proposition 3.16.
Übungsaufgabe 3.21. Ein Kompensator mit Sprüngen. Sei {Nt } wieder der Zählprozess
mit genau einem Sprung zur Zeit T . Die Verteilung von T habe jeweils ein Atom mit Masse
1/2 zu den Zeiten 1 und 2. Der Kompensator von {Nt } ist dann gegeben durch den bei
T gestoppten wachsenden rechtsstetigen Prozess mit Sprüngen der Höhe 1/2 und 1 bei
Zeiten 1 und 2.
Proposition 3.22. Für {Mt } wie in Proposition 3.16 gilt E[Mt2 ] < ∞ für alle t ≥ 0 und
2
Z
E[(Mt − Ms ) ] =
(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u),
(s,t]
wobei ∆ΛY (u) := ΛY (u) − ΛY (u−).
R
Beweis. Nach Definition gilt Mt = 1l[Y,∞) (t) − (0,t] 1l(0,Y ] (u) dΛY (u). Bei den folgenden
Rechnungen muss man etwas aufpassen, da erstmal nicht klar ist, ob die auftretenden
Erwartungswerte endlich sind. Wir sehen aber im Laufe der Berechnungen, dass alle auftretenden Erwartungswerte endlich sind und damit die Formeln gerechtfertigt sind.
3.3. DER SATZ VON HATTENDORF
55
Es gilt
Z
h
2 i
E[(Mt − Ms ) ] = E 1l[Y,∞) (t) − 1l[Y,∞) (s) −
1l(0,Y ] (u) dΛY (u)
(s,t]
Z
h
2 i
= E 1l{Y ∈(s,t]} −
1l{u≤Y } dΛY (u)
(s,t]
hZ
i
= E[1l{Y ∈(s,t]} ] − 2E
1lY ∈(s,t] 1l{u≤Y } dΛY (u)
(s,t]
hZ Z
i
+E
1l{u≤Y } 1l{v≤Y } dΛY (u) dΛY (v)
(s,t] (s,t]
Z
= FY (t) − FY (s) − 2
P{Y ∈ [u, t]} dΛY (u)
(s,t]
Z Z
+
P{Y ≥ max{u, v}} dΛY (u) dΛY (v).
2
(s,t]
(3.4)
(s,t]
Wir betrachten nun das letzte Integral in (3.4) separat. Man beachte, dass zunächst nicht
klar ist, ob es endlich ist. Wenn es endlich ist, dann ist nach der Cauchy-Schwarz’schen
Ungleichung auch das vorletzte Integral in (3.4) endlich und damit auch E[(Mt − Ms )2 ]
und E[Mt2 ] (wegen M0 = 0). Mit Fubini im zweiten Schritt erhalten wir
Z Z
P{Y ≥ max{u, v}} dΛY (u) dΛY (v)
(s,t] (s,t]
Z Z
Z Z
=
P{Y ≥ v} dΛY (u) dΛY (v) +
P{Y ≥ u} dΛY (u) dΛY (v)
(s,t] (s,v]
(s,t] (v,t]
Z Z
Z Z
=
P{Y ≥ v} dΛY (v) dΛY (u) +
P{Y ≥ u} dΛY (u) dΛY (v)
(s,t] [u,t]
(s,t] (v,t]
Z Z
Z
=2
(1 − FY (v−)) dΛY (v) dΛY (u) −
(1 − FY (u−))∆ΛY (u) dΛY (u).
(s,t]
[u,t]
(s,t]
Dabei müssen wir uns noch davon überzeugen, dass der letzte Ausdruck nicht von der
Form ∞ − ∞ ist, was erst einmal nicht klar ist. Wir berechnen daher beide Ausdrücke
getrennt. Wenn wir die Definition von ΛY ( du) = 1−FY1(u−) dFY (u) einsetzen, so bekommen
wir
Z Z
2
(1 − FY (v−)) dΛY (v) dΛY (u)
(s,t] [u,t]
Z Z
=2
dFY (v) dΛY (u)
(s,t] [u,t]
Z
=2
P{Y ∈ [u, t]} dΛY (u)
(s,t]
Z
FY (t) − FY (u−)
=2
dFY (u) ≤ 2.
1 − FY (u−)
(s,t]
56
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
und, wegen ∆ΛY (u) ≤ 1,
Z
(s,t]
(1 − FY (u−))∆ΛY (u) dΛY (u)
Z
∆ΛY (u) dFY (u) ≤ 1.
=
(s,t]
Wenn wir die jeweils vorletzten Ausdrücke für das letzte Integral in (3.4) einsetzen, erhalten wir schließlich
Z
Z
2
∆ΛY (u) dFY (u) =
(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u).
E[(Mt − Ms ) ] = FY (t) − FY (s) −
(s,t]
2
+
(s,t]
+
Proposition 3.23. Sei f ∈ L (R , B(R ), (1 − ∆ΛY ) dFY ), also f : [0, ∞) → R messbar
mit
Z
f 2 (u)(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u) < ∞.
[0,∞)
Dann gilt
"Z
2 #
f (u) dMu
E
Z
f 2 (u)(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u).
=
[0,∞)
(3.5)
[0,∞)
Bemerkung 3.24. Proposition 3.23 besagt mit anderen Worten, dass die Abbildung
Z
f 7→
f (u) dMu
[0,∞)
eine lineare Isometrie
L2 (R+ , B(R+ ), (1 − ∆ΛY ) dFY ) → L2 (Ω, F, P).
ist. Ein analoges Resultat spielt in der allgemeinen Theorie der stochastischen Integration
eine entscheidende Rolle, siehe zum Beispiel [Kle08, Satz 25.4].
Beweisskizze. Zunächst beweisen wir das Resultat für Treppenfunktionen. Sei also zuerst
f=
k
X
ej 1(tj ,tj+1 ] ,
k ∈ N,
e1 , . . . , ek ∈ R,
0 ≤ t1 < · · · < tk+1 .
j=1
Dann gilt
h Z
E
f (u) dMu
2 i
k
h X
2 i
=E
ej (Mtj+1 − Mtj )
[0,∞)
j=1
=
k
k X
X
ej el E[(Mtj+1 − Mtj )(Mtl+1 − Mtl )]
j=1 l=1
=
k
X
j=1
e2j E[(Mtj+1 − Mtj )2 ],
3.3. DER SATZ VON HATTENDORF
57
aufgrund der unkorrelierten Zuwächse eines Martingals, siehe Lemma 3.12. Mit Proposition 3.22 folgt nun, dass
h Z
E
f (u) dMu
2 i
=
[0,∞)
k
X
e2j
j=1
Z
=
Z
(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u)
(tj ,tj+1 ]
k
X
e2j 1l(tj tj+1 ] (u)(1 − ∆ΛY (u) dFY (u)
(0,∞) j=1
Z
=
f 2 (u)(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u),
(0,∞)
wobei wir im letzten Schritt benutzt haben, dass die Intervalle (tj , tj+1 ] disjunkt sind.
Für allgemeine Funktionen f ∈ L2 (R+ , (1 − ∆ΛY (u)) dFY (u) folgt der Satz durch Approximation in L2 mittels Treppenfunktionen.
Zur Risikobetrachtung benötigen wir den Begriff des Verlusts (aus Sicht des Versicherungsunternehmens). Erinnerung: Der Barwert eines LVV war definiert durch
Z
1
A(Y )
B=
−
dΠ(s),
K(Y )
[0,Y ) K(s)
und nach dem Äquivalenzprinzip war E[B] = 0. Wir nehmen nun immer an, dass
h A(Y ) i
<∞
E
K(Y )
.
Definition 3.25. Der Verlust {L(t), t ≥ 0} des Versicherungsunternehmens bis zur Zeit
t ≥ 0 ist
L(t) := E[B | Ft ].
Der auf diese Weise sehr elegant definierte Verlust ist also der bedingte erwartete Barwert,
gegeben die Information, ob Y bis zur Zeit t eingetreten ist oder nicht. Damit ist das
folgende intuitiv klar.
Proposition 3.26. Es gilt, für t ≥ 0,
( A(Y ) R
1
− [0,Y ) K(s)
dΠ(s)
)
R
L(t) = K(Y
V (t)
1
− [0,t) K(s) dΠ(s)
K(t)
falls Y ≤ t,
falls Y > t.
Beweis. Der Beweis funktioniert genau wie in Lemma 3.19 mit Hilfe von Fallunterscheidung, der Definition der bedingten Erwartung und der Definition des prospektiven Deckungskapitals und ist eine Übungsaufgabe.
58
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
Bemerkung 3.27. Fasst man {L(t)}t≥0 als stochastischen Prozess auf, so ist er ein {Ft }Martingal mit L(0) = 0 und limt→∞ L(t) = B f.s..
Eine andere, ebenfalls elegante Charakterisierung des Verlustes erfolgt mit Hilfe von
Martingalen und stochastischer Integration.
Proposition 3.28. Es gilt, unter den obigen Voraussetzungen, für alle t ≥ 0,
Z
A(u) − V (u)
dMu .
L(t) =
K(u)
(0,t]
Insbesondere ist t 7→ L(t) rechtsstetig.
Beweis. Das Martingal {Mt } ist f.s. von beschränkter Variation. Es gilt also nach Definition der Lebesgue-Stieltjes-Integrale
Z
Z
A(u) − V (u)
A(Y ) − V (Y )
A(u) − V (u)
dMu =
1[Y,∞) (t) −
dΛY (u)
K(u)
K(Y )
K(u)
(0,t]
(0,t∧Y ]
( A(Y )
R
V (Y )
(u)
− K(Y
− (0,Y ] A(u)−V
dΛY (u)
falls Y ≤ t
K(Y )
)
K(u)
R
=
(u)
− (0,t] A(u)−V
dΛY (u)
falls Y > t.
K(u)
Zu zeigen ist nach Proposition 3.26, da im Fall τ < ∞ L(t) und das Integral bezüglich M
stetig in t = τ und konstant für t > τ sind, dass für t < τ gilt:
Z
Z
V (t)
1
A(u) − V (u)
−
dΠ(s) = −
dΛY (u).
K(t)
K(u)
[0,t) K(s)
(0,t]
Die obige Gleichung ist aber gerade die Thielesche Integralgleichung, siehe Satz 2.83, und
das Resultat folgt.
Bemerkung 3.29. Wir haben nun drei Charakterisierungen des Verlustes. Die erste
ergibt sofort die Martingaleigenschaft. Die zweite stellt sicher, dass der Verlust mit unserer
Intuition übereinstimmt. Und die dritte ist nützlich, da sie uns erlaubt die Isometrie aus
Proposition 3.23 anzuwenden.
Wir definieren nun noch den Verlust innerhalb einer festen Versicherungsperiode. Man
kann auch mit zufälligen Zeiten arbeiten, dann benötigt man den Begriff der Stoppzeit,
auf den wir hier jedoch nicht eingehen wollen.
Definition 3.30. Seien 0 = t0 < t1 < t2 < . . . Zeitpunkte des Beginns bzw. Endes von
Versicherungsperioden. Dann setzen wir
Li := Lti − Lti−1 ,
i = 1, 2, . . .
für den Verlust innerhalb der i-ten Versicherungsperiode.
3.3. DER SATZ VON HATTENDORF
59
Elementare Varianzbetrachtungen hatten wir schon im letzten Abschnitt für die Nettoeinmalprämie angestellt. Der Satz von Hattendorf ermöglicht nun jederzeit die Berechnung
der Varianz des Verlustes und des Barwertes eines LVV.
Satz 3.31 (Satz von Hattendorf). Für den Verlust eines LVV unter dem
Äquivalenzprinzip gilt
1) E[Lt ] = 0 und E[Li ] = 0 für alle t ≥ 0 und i ∈ N.
Ist zudem für alle t ≥ 0
Z [0,t]
A(u) − V (u)
K(u)
2
(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u) < ∞,
so gilt weiter:
2) Für alle i < j, k ∈ N, j 6= k, gilt E[Lj+1 |Ftj ] = 0 und Lj , Lk sind unkorreliert (auch
gegeben Fti ).
3) Für die Varianz des Verlustes gilt
2
Z A(u) − V (u)
(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u).
V(L(t)) =
K(u)
[0,t]
4) Für die Varianz des Barwerts gilt
2
Z
A(u) − V (u)
V(B) =
(1 − ∆ΛY (u)) dFY (u) ∈ [0, ∞].
K(u)
[0,∞)
(3.6)
(3.7)
Beweis. Die ersten beiden Eigenschaften folgen aus der Martingaleigenschaft von {Lt },
dem Äquivalenzprinzip und der Integrabilitätsbedingung.
Für 3) und 4) wende Proposition 3.23 an auf die Funktion
f (u) =
A(u) − V (u)
1[0,t]
K(u)
beziehungsweise
f (u) =
A(u) − V (u)
.
K(u)
Bemerkung 3.32. In seiner ersten Formulierung aus dem Jahre 1868 stellte Hattendorf
zunächst nur die Unkorreliertheit des Verlustes innerhalb verschiedener Versicherungsperioden fest. Die Gesamtvarianz des Verlustes lässt sich in die Summe der Varianzen in
den einzelnen Versicherungsperioden aufspalten. Näheres dazu in [MH99, S. 500f].
Der Satz von Hattendorf hat eine lange Geschichte und geht zurück u.a. auf Hattendorf
1868, siehe [MH99].
60
3.4
3.4.1
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
Erweiterungen des Modells und Bestimmung der
Sterbeverteilung
Einbeziehung der Kosten.
Für einen LVV entstehen Kosten für Verwaltung, Werbung, Transaktionen, Nachforschungen bei Todesfällen usw. Sei bei einem Versicherungsvertrag C(t) der Barwert der Kosten,
die anfallen, wenn der VN zur Zeit Y = τ ∧ T den Wert t annimmt. Eine Prämienfunktion
Π(t), t ≥ 0 heißt ausreichende Prämie, wenn der erwartete Leistungsbarwert plus E[C(Y )]
gleich dem Prämienbarwert ist. Man kann – formal – Π zerlegen in
Π(t) = Πnetto (t) + Πkosten (t)
und sich vorstellen, dass zwei Konten geführt werden: ein “Nettokonto” (so wie bisher)
und ein Kostenkonto. Oft wird das Verischerungsunternehmen intern so kalkulieren, dass
zunächst Πnetto (t) ≡ 0 ist, bis das Kostenkonto ausreichend gefüllt ist. Von dem Kostenkonto werden beim Tod des VN K(t)C(t) abgezogen (und das evtl. Defizit wird durch die
anderen Kostenkonten gedeckt). Formal ist das Kostenkonto dasselbe wie ein Nettokonto,
nur dass die Auszahlung bei Tod des VN nicht an diesen, sondern an das Verischerungsunternehmen ausgezahlt wird. Das Gesamt (Brutto-) Deckungskapital
Vbrutto (t) = V (t) + Vkosten (t), t ≥ 0,
heißt ausreichendes Deckungskapital.
Alternativ kann man sich vorstellen, dass es nur ein Konto gibt und so gerechnet wird,
als wäre die Auszahlung nicht A(t), sondern
Ã(t) := A(t) + K(t)C(t),
wovon aber nur A(t) an den VN ausgezahlt wird und das Versicherungsunternehmen
K(t)C(t) einbehält.
Wenn die Kosten als vom Todesfall unabhängig angesetzt werden und C(t) ≡ C, dann
kann man das Nettokonto auch bei −C starten lassen.
3.4.2
Verträge mit verschiedenen Ausscheideursachen (konkurrierende Risiken)
Angenommen, im LVV werden verschiedene Ausscheideursachen betrachtet und die Auszahlung hängt von der Ausscheideursache ab (z.B. Unfalltod, Tod durch andere Ursache,
Invalidität). Sei T der (zufällige) Ausscheidezeitpunkt ab Vertragsbeginn (T > 0 f.s.) und
wenn n ∈ N die Anzahl der Ausscheideursachen bezeichnet, dann sei I ∈ {1, . . . , n} die
(zufällige) Ausscheideursache.
3.4. ERWEITERUNGEN DES MODELLS UND BESTIMMUNG DER STERBEVERTEILUNG61
Wenn der Vertrag spätestens zur Zeit τ < ∞ endet (“Erlebensfall”), dann werten wir das
auch als eine Ausscheideursache. Für jede solche definieren wir
Fi (t) = P{T ≤ t, I = i}
n
X
F (t) = P{T ≤ t} =
Fi (t)
i=1
Z
Λi (t) =
[0,t]
1
dFi (s).
Fi (∞) − Fi (s−)
Wenn ein VN zur Zeit t aus dem Grund I = i ausscheidet, dann erhält er Ai (t) (und
später nichts mehr). Prämien werden nur bis T (ausschließlich) bezahlt. Der Unterschied
zwischen T und Y verschwindet in diesem Setup. Wir setzen
Z
1
AI (T )
−
dΠ(s).
B=
K(T )
[0,T ) K(s)
Im
Pnweiteren ändert sich kaum etwas, nur wird Y durch T ersetzt und A(y)dFY (y) durch
i=1 Ai (y)dFi (y). Zum Beispiel gilt für die prospektive Darstellung des NDK
!
Z
Z
n
X
Ai (y)
1 − F (s)
K(t)
dFi (y) −
dΠ(s) ,
V (t) =
1 − F (t)
K(s)
(t,∞) i=1 K(y)
[t,∞)
vgl. mit (2.18).
3.4.3
Schätzung von Sterbewahrscheinlichkeiten
Wir betrachten speziell die Frage, wie man für ein x > 0 die einjährige Sterbewahrscheinlichkeit qx aus den Daten schätzt (z.B. ein Lebensversicherungsunternehmen aus
den Daten der Versicherten).
Hier: n beobachtete Personen (hier n = 8), nummeriert von 1, . . . , n. Person i stand in
der Altersspanne [si , ti ], x ≤ si < ti ≤ x + 1 unter Beobachtung. Es sei bekannt, ob
Person i zum Zeitpunkt ti gestorben war oder aus anderen Gründen nicht mehr ‘unter
Beobachtung stand’ (z.B. Auswanderung, Kündigung des Vertrages). Bei nicht sehr großen
x (etwa 1 ≤ x ≤ 80) ist es naheliegend davon auszugehen, dass die Sterbeintensität im
Intervall [x, x+1] konstant ist (etwa gleich µx ). Statt qx kann man dann auch µx schätzen.
Es gilt
1
qx = 1 − e−µx , µx = log
.
1 − qx
Sei
n
X
E=
(ti − si )
i=1
62
KAPITEL 3. DER SATZ VON HATTENDORF
die ‘Exposure’ = Gesamtlebenszeit aller Personen unter Beobachtung. Sei D die Anzahl
der Todesfälle. Wenn µx die wahre Sterberate ist, dann sollte die Anzahl der Todesfälle
Poisson(µx E)-verteilt sein, und damit die Zeit zwischen zwei Todesfällen exp(µx ). Der
Maximum-Likelihood (ML) Schätzer µ̂x ist diejenige Zahl µx ≥ 0, für die
Pµx {D Todesfälle } = e−µx E
(µx E)D
D!
(3.8)
maximal wird. Im Fall D = 0 setzen wir µx = 0. Ableiten nach µx ergibt
i
1 h −µx E
e
DµxD−1 E D − Ee−µx E (µx E)D = 0
D!
g.d.w. µx =
D
.
E
Also
µ̂ =
3.4.4
D̂
,
E
D
q̂x = 1 − e− E .
Weitere Fragen / Probleme in der Personenversicherungsmathematik
• Versicherung auf mehrere Leben. Wenn zum Beispiel bei Ehepaaren der erste Partner
zur Zeit T1 stirbt und der Überlebende zur Zeit T2 , dann erhält der Überlebende
von T1 bis T2 eine Monatsrente von 1000 Euro. Barwert?
Problem: T1 und T2 sind abhängig! Sobald ihre gemeinsame Verteilung bekannt ist,
geht im Prinzip alles wie vorher.
• Rentenversicherung. Ist im Prinzip dasselbe wie eine Summe von Erlebensfallversicherungen zu jedem Rentenzahlungszeitpunkt.
• Wie schätzt man laufende Veränderungen der Lebensdauerverteilung?
• Selektion / Antiselektion. Die Lebensdauerverteilung der Versicherten bei einer LV
entspricht oft nicht derjenigen der Gesamtbevölkerung.
Positive Selektionseffekte: Gesundheitsprüfung.
Antiselektion: Kranke Personen haben ein größeres Interesse am Abschließen einer
LV!
Aufgabe: finde aussagekräftige Segmente. Oft kombiniert mit Methoden des Scoring.
• Prämien werden bis Y gezahlt. Auszahlung erfolgt zur Zeit τ : Terme-fixe Versicherung, Ausbildungsversicherung.
Anhang A
Anhang
A.1
Maßtheorie: eine kurze Wiederholung
A.2
Bedingte Erwartung
Der Begriff der bedingten Erwartung ist zentral in der Wahrscheinlichkeitstheorie und
insbesondere für die Theorie der Martingale. Wir folgen [Wil91] in dieser Einführung.
Sei (Ω, F, P) ein Wahrscheinlichkeitsraum und sei G ⊂ F eine Unter-σ-Algebra von F.
Wir beginnen die Konstruktion der bedingten Erwartung mit einem einfachen Beispiel.
Seien X, Z ZVen auf (Ω, F, P), die nur endlich viele unterschiedliche Werte x1 , . . . , xm und
z1 , . . . , zn , n, m ∈ N annehmen. Die elementare bedingte Wahrscheinlichkeit
P{X = xi | Z = zj } :=
P{X = xi , Z = zj )
P{Z = zj }
und die elementare bedingte Erwartung
E[X | Z = zj ] =
m
X
xi P{X = xi | Z = zj }
i=1
setzen wir als bekannt voraus.
Sei nun Y := E[X | Z] eine Zufallsvariable, und zwar die bedingte Erwartung von X
gegeben Z, definiert durch


falls ω ∈ {ω : Z(ω) = z1 },
y1 := E[X | Z = z1 ]
Y (ω) = y2 := E[X | Z = z2 ]
falls ω ∈ {ω : Z(ω) = z2 },


...
63
64
ANHANG A. ANHANG
Y ist also wieder zufällig, aber konstant auf den Elementen der Partition von Ω, gegeben
durch
{{Z = z1 }, {Z = z2 }, . . . , {Z = zn }},
wobei
{Z = z1 } ∪ {Z = z2 } ∪ · · · ∪ {Z = zn } = Ω.
Die von Z erzeugte Unter-σ-Algebra σ(Z) von F ist genau die Potenzmenge der Partition
{{Z = z1 }, {Z = z2 }, . . . , {Z = zn }}. Da Y auf diesen Mengen konstant ist, ist Y ebenfalls
σ(Z)-messbar.
Wir können sagen: Y ist die beste Approximation von X durch auf der Partition (gegeben
durch Z) stückweise konstante Funktionen.
Darüber hinaus gilt für alle j ∈ {1, . . . n}
Z
Y dP = yj P{Z = zj } = E[X | Z = zj ]P{Z = zj }
{Z=zj }
=
m
X
xi P{X = xi | Z = zj }P{Z = zj }
i=1
=
m
X
Z
xi P{X = xi , Z = zj } =
X dP.
{Z=zj }
i=1
Wir nehmen diese Beobachtung als Ausgangspunkt zur Definition der bedingten Erwartungen für allgemeine integrierbare Zufallsvariablen und σ-Algebren G ⊂ F.
Satz A.1. Sei X eine ZV auf (Ω, F, P) mit E[|X|] < ∞. Sei G ⊂ F eine Unter-σ-Algebra
von F. Dann existiert eine ZV Y , messbar bezüglich G, mit E[|Y |] < ∞, so dass
Z
Z
Y dP =
X dP
G
G
für alle G ∈ G. Die Zufallsvariable Y =: E[X | G] heißt Version der bedingten Erwartung
von X gegeben G und ist eindeutig (bis auf fast sichere Gleichheit).
Spezialfall: Ist G die triviale σ-Algebra {∅, Ω}, so ist E[X | G] ≡ E[X].
Beweisskizze. Den vollständigen Beweis für die Existenz von Y und Eindeutigkeit von Y
bis auf “Version” (d.h. für zwei Versionen Y1 , Y2 der bedingten Erwartung von X gegeben
G gilt P{Y1 = Y2 } = 1) findet man in [Wil91, Kapitel 9].
Für Zufallsvariablen X mit E[X 2 ] < ∞ folgt der Beweis mit etwas Hilbertraum-Theorie.
Nach Voraussetzung ist dann X ∈ L2 (Ω, F, P), dem Raum aller F-messbaren Funktionen
A.2. BEDINGTE ERWARTUNG
65
deren zweites Moment endlich ist. Da G ⊂ F, ist L2 (Ω, G, P) dann ein abgeschlossener
Unterraum. Beide Räume sind Hilberträume mit dem Skalarprodukt
hX1 , X2 i := E[X1 X2 ],
X1 , X2 ∈ L2 (Ω, F, P) bzw. L2 (Ω, G, P).
Wegen der Existenz orthogonaler Projektionen gibt es ein Y ∈ L2 (Ω, G, P), so dass
E[(X − Y )2 ] = inf{E[(X − W )2 ] : W ∈ L2 (Ω, G, P)},
und
hX − Y, Zi = 0 für alle Z ∈ L2 (Ω, G, P).
(A.1)
Nun gilt, für G ∈ G, dass Z := 1G ∈ L2 (Ω, G, P), sowie mit obigem Y und (A.1),
Z
Z
Y dP = E[Y Z] = E[XZ] =
X dP.
G
G
Also ist Y eine (Version der) bedingten Erwartung von X gegeben G.
Für allgemeine integrierbare ZVen X verwende man eine geeignete Approximation durch
ZVen in L2 (Ω, F, P).
Interpretation. Für quadratintegrable X ist Y die orthogonale Projektion von X auf
L2 (Ω, G, P) und damit der beste kleinste Quadrate Schätzer von X, der G-messbar ist.
Satz A.2 (Eigenschaften der bedingten Erwartung.). Sei X eine ZV auf (Ω, F, P) mit
E[|X|] < ∞ und seien G, H Unter-σ-Algebren von F. Dann gilt
a) Ist Y irgendeine Version von E[X|G], so gilt E[X] = E[Y ].
b) Ist X messbar bzgl. G, so ist E[X|G] = X fast sicher.
c) Linearität: E[· | G] ist linear.
d) Positivität: X ≥ 0 impliziert E[X|G] ≥ 0 fast sicher.
e) Monotone Konvergenz: Falls 0 ≤ Xn ↑ X, dann E[Xn |G] ↑ E[X|G] fast sicher.
f ) Majorisierte Konvergenz: Falls |Xn (ω)| ≤ V (ω) ∀n und E[V ] < ∞, und Xn → X
f.s., dann auch E[Xn |G] → E[X|G] fast sicher.
g) Jensen: c : R → R konvex, E[|c(X)|] < ∞, dann E[c(X)|G] ≥ c(E[X|G]) fast sicher.
h) ‘Tower property’: H Unter-σ-Algebra von G, dann gilt
E[E[X|G] | H] = E[X|H] fast sicher.
66
ANHANG A. ANHANG
i) Bekanntes herausziehen: Ist Z messbar bzgl. G und E[|ZX|] < ∞, so gilt
E[ZX|G] = ZE[X|G] fast sicher.
j) Unabhängigkeit: Ist X unabhängig von H, so gilt
E[X|H] = E[X] fast sicher.
Für einen Beweis dieses Satzes verweisen wir auf [Wil91, S.88 ff].
Literaturverzeichnis
[Asm00]
S. Asmussen. Ruin probabilities, volume 2 of Advanced Series on Statistical
Science & Applied Probability. World Scientific Publishing Co. Inc., River Edge,
NJ, 2000.
[Bil68]
P. Billingsley. Convergence of probability measures. John Wiley & Sons, Inc.,
New York-London-Sydney, 1968.
[Dur10]
R. Durrett. Probability: theory and examples. Cambridge Series in Statistical and Probabilistic Mathematics. Cambridge University Press, Cambridge,
fourth edition, 2010.
[EKM97] P. Embrechts, C. Klüppelberg, and T. Mikosch. Modelling extremal events,
volume 33 of Applications of Mathematics (New York). Springer-Verlag, Berlin,
1997.
[Els11]
J. Elstrodt. Maß- und Integrationstheorie. Springer-Lehrbuch. Springer-Verlag,
Berlin, 7. edition, 2011.
[Fel68]
W. Feller. An introduction to probability theory and its applications. Vol. I.
Third edition. John Wiley & Sons, Inc., New York-London-Sydney, 1968.
[Fel71]
W. Feller. An introduction to probability theory and its applications. Vol. II.
Second edition. John Wiley & Sons, Inc., New York-London-Sydney, 1971.
[Fil09]
D. Filipović. Term-structure models. Springer Finance. Springer-Verlag, Berlin,
2009. A graduate course.
[FS04]
H. Föllmer and A. Schied. Stochastic Finance. An introduction in discrete time.
2nd revised and extended ed. de Gruyter, Berlin, 2004.
[Gär08]
J. Gärtner. Mass- und Integrationstheorie. 2008. Vorlesungsskript (online
erhältlich), TU Berlin.
[Geo09]
Hans-Otto Georgii. Stochastik: Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie
und Statistik. de Gruyter, 4. edition, June 2009.
67
68
LITERATURVERZEICHNIS
[Ger86]
H.-U. Gerber. Lebensversicherungsmathematik. Springer-Verlag, Berlin, 1986.
[Gra91]
Jan Grandell. Aspects of risk theory. Springer Series in Statistics: Probability
and its Applications. Springer-Verlag, New York, 1991.
[Kle08]
A. Klenke. Wahrscheinlichkeitstheorie. Berlin: Springer, 2., korrigierte auflage
edition, 2008.
[Kol10]
M. Koller. Stochastische Modelle in der Lebensversicherung. Springer, Berlin,
2010.
[MH99]
H. Milbrodt and M. Helbig. Mathematische Methoden der Personenversicherung. Walter de Gruyter, Berlin, 1999.
[Mik10]
Thomas Mikosch. Non-Life Insurance Mathematics: An Introduction with the
Poisson Process. Springer Berlin Heidelberg, 2nd edition, 2010.
[Ric06]
John Rice. Mathematical statistics and data analysis. Cengage Learning, 2006.
[RSST99] T. Rolski, H. Schmidli, V. Schmidt, and J. Teugels. Stochastic processes for
insurance and finance. Wiley Series in Probability and Statistics. John Wiley
& Sons, Ltd., Chichester, 1999.
[RW00]
L. C. G. Rogers and D. Williams. Diffusions, Markov Processes and martingales, volume 2. Cambridge University Press, 2000.
[Sch09]
K. D. Schmidt. Versicherungsmathematik. Springer, Berlin, 2009.
[Wil91]
David Williams. Probability with Martingales. Cambridge University Press,
1991.