Arzneimitteltherapiesicherheit – Modelle der

MEDIZIN
EDITORIAL
Arzneimitteltherapiesicherheit –
Modelle der interprofessionellen
Zusammenarbeit
Petra A. Thürmann
Editorial zu den
Beiträgen:
„Inter–
professionelles
Medikationsmanagement
multimorbider
Patienten:
eine Clusterrandomisierte
Studie
(WestGem Studie)“
von Juliane
Köberlein-Neu
et al.
und
„Medikation
und Adhärenz
nach stationärer
Entlassung“
von Claudia
Greißling et al.
auf den folgenden
Seiten
Klinische
Pharmakologie,
Universität
Witten/Herdecke,
Philipp Klee-Institut
für Klinische
Pharmakologie,
HELIOS
Universitätsklinikum
Wuppertal:
Prof. Dr. med.
Thürmann
A
rzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) umfasst
den gesamten Prozess von der Verordnung bis
hin zur Applikation und stellt somit eine Erweiterung
des regulatorischen Begriffs der Arzneimittelsicherheit dar (1). Es werden nicht nur die pharmakologischen Risiken eines Arzneimittels adressiert, sondern
die Risiken in der Prozesskette verschiedener Handelnden, das heißt Ärzte- und Apothekerschaft, Pflegekräfte, aber auch Patienten, Angehörige und andere
Personen, die im Medikationsprozess involviert sein
können. Gerade multimorbide Patienten erhalten viele
verschiedene Medikamente, oftmals von unterschiedlichen Verordnern, deren Wechsel- und Nebenwirkungen kaum noch überschaubar sind. Moßhammer et al.
(2) haben diese Problematik kürzlich beleuchtet und
die Algorithmen und Tools zur Reduktion und Verbesserung einer unangemessenen Multimedikation untersucht.
Multiprofessioneller Ansatz
Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker
sowie Pflegekräfte kennen genau die Abläufe, die in ihrem eigenen Bereich und an den Schnittstellen fehlerträchtig sind. Mit diesem Verständnis ist es eine logische Konsequenz, dass Versuche der Optimierung und
Verbesserung der AMTS eines Zusammenwirkens verschiedener Personen und Professionen bedürfen. Voraussetzungen hierfür sind wiederum das gegenseitige
Verstehen, die Formulierung von Erwartungen an den
jeweils anderen Partner und die Kenntnis und Wertschätzung der Expertise der jeweils anderen Professionen. Ganz wesentlich ist hierbei nicht nur das Zusammenbringen mehrerer Professionen (multiprofessionell), sondern die interprofessionelle Kommunikation
und Kooperation. Alle Versuche der Implementierung
neuer Abläufe müssen als komplexe Interventionen betrachtet und als solche in methodisch anspruchsvollen
Studien getestet werden (3).
Köberlein-Neu et al. untersuchten in der WestGemStudie, ob ein Medikationsreview durch einen Apotheker im ambulanten Bereich zu einer Verbesserung
der Medikationsqualität führen kann (4). Die Medikationsqualität, das heißt indikationsgerechte Verordnung, Abwesenheit von unerwünschten Wechselwirkungen, korrekte Dosierungen und Verträglichkeit
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 44 | 4. November 2016
wurde anhand des Medication Appropriateness Index
(MAI), einem validierten Score, gemessen. Es handelt sich um eine methodisch hochwertige Studie in
einem klar definierten Setting. Im Modell wird ein
Hausbesuch durch eine Pflege- und Wohnberatung
vorgenommen und ein Medikationsreview durch einen Apotheker durchgeführt. Die bereits heute schon
oftmals geübte Kommunikation zwischen Apotheker
und Arzt – die nun auch durch den Medikationsplan
(5) notwendig ist – erfolgte nicht direkt, sondern aus
dargelegten Gründen durch eine dritte Profession.
Zwei wichtige Fragen sollten nach dieser Studie beantwortet werden:
● Führt eine Verbesserung des MAI-Scores auch automatisch zu weniger Nebenwirkungen und besserer Lebensqualität für die Patienten?
● Ist diese sehr zeitaufwendige Intervention in den
Deutschen Versorgungskontext überführbar?
Zur ersten Frage sind die Ergebnisse bisheriger
systematischer Übersichtsarbeiten leider enttäuschend. Bisher konnte keine Studie belegen, dass eine komplexe Intervention im ambulanten Bereich,
die zu einer Verbesserung der Medikationsqualität
(meist anhand des MAI erfasst) führt, auch eine Zunahme der Lebensqualität, Reduktion von Arztbesuchen, Krankenhausaufnahmen oder gar Abnahme
der Mortalität bewirkt (6, 7). Wichtiger erscheint es
fast, die Möglichkeit der Übertragung solcher Projekte in den Alltag zu analysieren. Auf die zweite
Frage findet man im vorliegenden Beitrag noch keine konkrete Antwort, denn es muss noch das Patientenkollektiv identifiziert werden, das von einer solch
aufwendigen Intervention am meisten profitiert. Erst
dann wird man über die Umsetzung eines Medikationsreviews durch den Apotheker und die entsprechende Finanzierbarkeit einer solchen Leistung diskutieren.
Medikation an Schnittstellen
Greißing und Kollegen befassen sich mit einem bekannten Problem: der Medikation an den Schnittstellen
ambulant – stationär – ambulant (8). Patienten ohne aktuellen Medikationsplan sind eine Herausforderung für
den aufnehmenden Krankenhausarzt, während ein zu
spät eintreffender Entlassungsbrief den niedergelasse-
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MEDIZIN
nen Kollegen vor ein Rätsel stellen kann. Eine Handlungsempfehlung hierzu wurde bereits im Jahr 2012
vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin
herausgegeben (9).
In der hier beschriebenen Studie wurde ebenfalls
komplex und von zwei Gesundheitsprofessionen interveniert. Ein Bestandteil war eine elektronische Medikationserfassung nach Arzneimittelanamnese durch
den Stationsarzt, Umstellung auf Hausliste und Rückumstellung bei Entlassung. Allein dadurch lässt sich
ein erheblicher Anteil von Friktionen und Missverständnissen zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten vermeiden. Der Patient muss hierbei mitgenommen werden, denn seine weißen, gelben, runden und ovalen Tabletten werden munter gewechselt,
in der Studie wurde ihm dies sicher gut erklärt – die
Realität sieht oftmals anders aus. Ein weiterer Bestandteil sind verschiedene Module, die als Leistungen von klinischen Pharmazeuten erbracht wurden.
Dies ist ein zusätzliches Element, welches zur AMTS
beiträgt. In diesem Ablauf hatte der Patient seine gewohnten Ansprechpartner, ergänzt um einen klinischen Pharmazeuten im Team. Sowohl Krankenhausärzte als auch die Patienten haben von diesem zusätzlichen Service profitiert. Aber auch hier stellt sich die
Frage nach der Relevanz der verhinderten Probleme
im Hinblick auf messbare Ergebnisse wie Re-Hospitalisierung, Lebensqualität, Nebenwirkungen und zusätzliche ambulante Arztbesuche. Und für die Umsetzung in die Praxis wird man sich der Frage stellen
müssen, wer diese zusätzlichen Stellen finanziert.
Sollten sich die vermiedenen Versorgungslücken und
verhinderten gefährlichen Medikationsumstellungen
als relevant herausstellen, und davon kann man zumindest nach Literaturlage ausgehen, so ist dies beispielsweise im Rahmen einer neuen Versorgungsform
ein geeigneter Ansatz.
Interessenkonflikt
Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anspruch auf Medikationsplan
10. Maxwell SR, Cameron IT, Webb DJ: Prescribing safety: ensuring that
new graduates are prepared. Lancet 2015; 385: 579–81.
Die beiden Untersuchungen adressieren insgesamt
zwei wesentliche Stellschrauben der AMTS: technische Unterstützung sowie zusätzliches Know-how
und patientennahe Leistungserbringung durch Apotheker. Seit dem 1. Oktober diesen Jahres hat jeder gesetzlich Versicherte mit mindestens drei Medikamenten Anspruch auf einen Medikationsplan, zunächst in
Papierform, ab 2018 in elektronischer Form. Dies
wird automatisch zu einem Zusammenrücken von
Ärzten und Apothekern führen, vom Gesetzgeber beabsichtigt und von den Berufs- und Fachverbänden in
den entsprechenden Dokumenten unterstützt (5). Der
Medikationsplan wird quasi zu einem Medium der interprofessionellen Kommunikation. Dies sollte jedoch
nicht davon ablenken, dass die Verordnung in der Verantwortung des Arztes liegt. Unabdingbare Voraussetzungen sind hierfür Kenntnis über Erkrankungen und
Lebenssituation des Patienten und Berücksichtigung
von Leitlinien, basierend auf einer fundierten Ausbildung in Klinischer Pharmakologie und Pharmakotherapie (10).
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LITERATUR
1. Möller H, Aly AF: Definitionen zu Pharmakovigilanz und Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS). Z Evid Fortbild Qual Gesundh wesen
(ZEFQ) 2012; 106: 709–11.
2. Moßhammer D, Haumann H, Mörike K, Joos S: Polypharmacy—an
upward trend with unpredictable effects. Dtsch Arztebl Int 2016;
113: 627–33.
3. Craig P, Dieppe P, Macintyre S, Michie S, Nazareth I, Petticrew M;
Medical Research Council Guidance: Developing and evaluating
complex interventions: the new Medical Research Council guidance. BMJ 2008; 337: a1655.
4. Köberlein-Neu J, Mennemann H, Hamacher S, Waltering I, Schaffert
C, Rose O: Interprofessional medication management in patients
with multiple morbidities—a cluster-randomized trial (WestGem
study). Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 741–8.
5. Kassenärztliche Bundesvereinigung, Bundesärztekammer, Deutscher Apothekerverband: Vereinbarung gemäß § 31a Abs. 4 Satz 1
SGB V über Inhalt, Struktur und Vorgaben zur Erstellung und Aktualisierung eines Medikationsplans sowie über ein Verfahren zur Fortschreibung dieser Vereinbarung (Vereinbarung eines bundeseinheitlichen Medikationsplans – BMP). www.kbv.de/media/sp/Medikati
onsplan.pdf (last accessed on 16 October 2016)
6. Johansson T, Abuzahra ME, Keller S, et al.: Impact of strategies to
reduce polypharmacy on clinically relevant endpoints: a systematic
review and meta-analysis. Br J Clin Pharmacol 2016; 82 532–48.
7. Smith SM, Wallace E, O’Dowd T, Fortin M: Interventions for
improving outcomes in patients withmultimorbidity in primary care
and community settings. Cochrane Database of Systematic Reviews
2016, Issue 3. Art. No.: CD006560.
8. Greißing C, Buchal P, Kabitz H-J, et al: Medication and treatment
adherence following hospital discharge—a study of an intervention
aimed at reducing risk associated with medication change. Dtsch
Arztebl Int 2016; 113: 749–56.
9. Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ): Checklisten für
das ärztliche Schnittstellenmanagement zwischen den Versorst
gungssektoren. 1 edition March 2012. www.aezq.de/mdb/edocs/
pdf/info/checklisten-schnittstellenmanagement.pdf (last accessed
on 16 October 2016).
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Petra A. Thürmann
Klinische Pharmakologie
Universität Witten/Herdecke
Philipp Klee-Institut für Klinische Pharmakologie
HELIOS Universitätsklinikum Wuppertal
Heusnerstraße 40
42283 Wuppertal
[email protected]
Zitierweise
Thürmann PA: Medication safety—models of interprofessional collaboration.
Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 739–40. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0739
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The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 44 | 4. November 2016