Manuskript Beitrag: Geschredderte NSU-Akten – Fünf Jahre blockierte Aufklärung Sendung vom 1. November 2016 von Ulrich Stoll Anmoderation: Es ist ein bedrückendes Jubiläum. Vor ziemlich genau fünf Jahren, am 4. November 2011, hat der NSU sich selbst enttarnt. Die Polizei fand in einem brennenden Wohnmobil zwei Tote und ihre Hinterlassenschaft: Beweise für zehn Morde und Bekennervideos. Seit dem Suizid von Böhnhardt und Mundlos versuchen zwölf Untersuchungsausschüsse und ein Gericht Licht in das Dunkel des NSU zu bringen. Wer gehört noch zum Nationalsozialistischen Untergrund? Was wusste der Verfassungsschutz? Wie tief waren V-Männer verstrickt? Doch vieles, was zur Aufklärung beitragen könnte, wurde von Staats wegen vernebelt. Ulrich Stoll über vernichtete Akten, verweigerte Zeugen und ein großes Versprechen der Bundeskanzlerin. Text: 23. Februar 2012. Trauerfeier für die vom Nationalsozialistischen Untergrund Ermordeten. Die Kanzlerin gibt den Hinterbliebenen ein Versprechen: O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin, am 23.02.2012: Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Vor fünf Jahren fanden Ermittler in diesem Wohnmobil zwei Tote. Die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten sich nach ihrer Mordserie selbst getötet. Davor hatten sie zehn Menschen erschossen und konnten fast 14 Jahre unentdeckt im Untergrund leben. Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und Uwe Mundlos fuhren nach den Morden immer wieder unbeschwert in den Urlaub. Polizei und Verfassungsschutz waren unfähig, die Untergetauchten zu finden und die Mordserie zu stoppen. Beate Zschäpe - die einzige Überlebende des NSU-Trios steht wegen zehnfachen Mordes vor Gericht. Zu Prozessbeginn hofften Angehörige wie Ismail Yozgat auf Aufklärung. Sein Sohn Halit war das neunte Mordopfer des NSU. O-Ton Ismail Yozgat, Vater von NSU-Opfer Halit Yozgat, am 17.11.2011: Ich will nicht, dass Eltern um ihre Kinder weinen müssen. Wir möchten einfach nur leben, wir wollen nichts anderes. Aber ich mag Deutschland und die Deutschen. Doch Ismail Yozgats Vertrauen in die Deutschen wurde nachhaltig erschüttert. Es kam heraus, dass ein Beamter des Verfassungsschutzes in Yozgats Internetcafé war, genau zu dem Zeitpunkt als die tödlichen Schüsse fielen: der Verfassungsschützer Andreas Temme - hier bei einer nachgestellten Tatortbegehung. Er behauptet bis heute, nichts von den Schüssen mitbekommen zu haben. Ermittelnde Polizisten halten das für wenig glaubhaft. So gerät der Geheimdienst in Verdacht, die Aufklärung der NSUMorde zu behindern. Oberlandesgericht München. Hier sollen seit dreieinhalb Jahren die Morde aufgeklärt werden. Die Angehörigen der Opfer wollen wissen, welche Rolle spielten die Geheimdienste. Ismail Yozgats Anwältin zieht eine bittere Bilanz der Aufklärung. O-Ton Doris Dierbach, Nebenklage-Anwältin der Familie Yozgat: Unser Mandanten haben immer und auch mit einer großen Überzeugung in diesem Land gelebt. Das tun sie auch nach wie vor, aber die Zweifel in die Seriosität der Institutionen sind natürlich größer geworden. Das Vertrauen, was da mal bestanden hat und was vor fünf Jahren größer war, das hat einfach Schaden genommen. Das liegt auch an ihm - Lothar L. Der Geheimdienstmann war beim Bundesamt für Verfassungsschutz zuständig für Rechtsextremismus. L. ließ gerade eine Woche nach dem Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos Akten von V-Leuten schreddern, die zum Umfeld des NSU gehörten. Und das, obwohl kurz zuvor ein Aktenlöschverbot angeordnet worden war. Schon 2013 wollte ein Untersuchungsausschuss klären, warum Lothar L. die Akten vernichtete. Der stellte das Schreddern von Akten als Routinevorgang dar, ließ die NSU-Aufklärer wie Petra Pau auflaufen. O-Ton Petra Pau, DIE LINKE, MdB, NSU- Untersuchungsausschuss: Wir konnten im ersten Ausschuss nicht aufklären, warum er am 11.11. das Schreddern von zentralen V-Mann-Akten angeordnet hat. Inzwischen wissen wir, dass er uns sowohl bei seinem Auftritt im ersten NSU-Untersuchungsausschuss als auch jetzt im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss belogen hat. Das belegt eine Vernehmung des Verfassungsschützers Lothar L. durch die Bundesanwaltschaft im Oktober 2014. Dort äußert sich L. erstaunlich offen über die Aktenvernichtung: „Mir war … völlig klar, dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen interessieren wird. Vernichtete Akten können ... nicht mehr geprüft werden.“ Die Anwälte der NSU-Opferfamilien wussten bislang nichts von dieser brisanten Aussage. Jetzt fordern sie Ermittlungen gegen Verfassungsschützer Lothar L. O-Ton Antonia von der Behrens, Nebenklage-Anwältin der Familie Kubasik: Dieses Eingeständnis, dass er die Akten vernichtet hat, damit sie eben nicht mehr geprüft werden können, ist aus meiner Sicht ganz klar Strafvereitelung, Urkundenunterdrückung, da kommen verschiedene Delikte in Betracht. Deswegen hätte die Bundesanwaltschaft dieses Vernehmungsprotokoll auch an die Staatsanwaltschaft Köln weiterleiten müssen, die nämlich für Ermittlungen gegen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz zuständig sind. Doch die Bundesanwaltschaft will offenbar nicht, dass Lothar L. zur öffentlichen Aufklärung beiträgt, verhindert sogar, dass der Verfassungsschützer im Münchner NSU-Prozess aussagt. Bundesanwältin Annette Greger lehnte einen Antrag auf Vernehmung des Verfassungsschützers ab. Sein Motiv, die Akten zu schreddern, sei nicht prozessrelevant: „Daher spielen die Aktenvernichtung als solche wie auch das Motiv des Zeugen, das von den Antragsstellern ins Blaue hinein und entgegen aller bislang vorliegenden Erkenntnisse spekulativ behauptet wird, … keine Rolle.“ Dabei kannte Bundesanwältin Greger L.s Motiv: Er hatte den Bundesanwälten ja gestanden, die Akten ganz bewusst vernichtet zu haben – um Nachfragen zur Verwicklung des Verfassungsschutzes zu verhindern. O-Ton Antonia von der Behrens, Nebenklage-Anwältin der Familie Kubasik: Dieses Verhalten der Bundesanwaltschaft ist ganz typisch für das Verfahren: Sie versuchen, alles aus dem Verfahren herauszuhalten, was mit dem Verfassungsschutz zu tun hat. Denn wenn sie uns diese Vernehmung gegeben hätten, dann wäre ganz klar gewesen, aus unserer Sicht zumindest, dass er als Zeuge im Verfahren hätte aussagen müssen. Die Rolle von Verfassungsschützer L. ist noch dubioser. Im NSUUntersuchungsausschuss hatte er behauptet, mit dem NSU-Trio und Thüringer V-Leuten aus deren Umfeld sei er nicht befasst gewesen. Dagegen spricht dieser V-Mann-Bericht vom November 2001, unterschrieben von M. – Lothar L.s Klarname. Der V-Mann mit den Decknamen „Teleskop“ war ein Mitglied der Thüringer NaziSzene. V-Mann „Teleskop“ berichtet über einen mutmaßlichen NSU-Unterstützer - Ralf Wohlleben. Und: Der V-Mann erwähnt die „flüchtigen Rohrbombentäter“ – also, das damals flüchtige Trio Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt. Hatte Lothar L. also doch mit V-Leuten aus dem NSU-Umfeld zu tun? O-Ton Petra Pau, DIE LINKE, MdB, NSUUntersuchungsausschuss: Dieser V-Mann ist zentral, weil er hatte Kontakte zu einem Unterstützer des NSU-Kerntrio. So muss also Herr L. auch etwas über das Trio erfahren haben und nicht, wie er im ersten Ausschuss ausgesagt hat, dass er erst nach dem 4.11.2011 erstmals die Namen Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe gehört hat. In Thüringen finden wir den Mann, der sich hinter dem Decknamen „Teleskop“ verbirgt. Wir wollen von ihm wissen, was er dem Verfassungsschützer Lothar L. meldete. O-Ton Frontal 21: Kann ich Sie mal was fragen, ich bin vom ZDF. O-Ton ehemaliger V-Mann „Teleskop“: Ja? O-Ton Frontal 21: Sie waren ja V-Mann des BfV unter dem Decknamen „Teleskop“. O-Ton ehemaliger V-Mann „Teleskop“: Nee, dann dürfen Sie mich nicht fragen. O-Ton Frontal 21: Doch, ich wollte Sie danach fragen. Ex-V-Mann „Teleskop“ schweigt, auch auf schriftliche Nachfrage. V-Mann „Teleskop“, einer von vielen Spitzeln des Verfassungsschutzes im Umfeld des NSU-Trios. Bis heute ist nicht aufgeklärt, warum die Behörden den NSU nicht stoppen konnten - trotz dieser vielen Hinweisgeber. Einige schweigen vor Gericht, andere wurden gar nicht erst als Zeugen zugelassen. O-Ton Antonia von der Behrens, Nebenklage-Anwältin der Familie Kubasik: Wir haben viele Hinweise darauf, dass es eine Gruppe um das Trio herum gab; Unterstützer, denen sehr wohl bekannt war, was sie planen oder die zumindest das auf jeden Fall wissen mussten. Zu diesen Unterstützern gehören eben auch V-Leute und dieses Wissen muss über die V-Leute weitergetragen worden sein an die verschiedenen Verfassungsschutzämter. Das Vertrauen in den Verfassungsschutz ist dahin. Doch selbst die staatlichen Aufklärer - die Bundeanwaltschaft - vernichtete NSU-Akten. Ende 2014 ließ sie Notizbücher eines Thüringer Neonazis schreddern. Es geht um Jan W. Er sollte für den NSU Waffen besorgen. W. ist Beschuldigter im NSU-Verfahren. Beweismittel zu ihm dürfen nicht vernichtet werden. Doch genau das tat die Bundesanwaltschaft – angeblich aus Versehen: „Den an der Vernichtungsanordnung beteiligten Staatsanwälten des GBA (…) war aber im Zeitpunkt der Vernichtungsanordnung nicht bewusst, dass Jan W. im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex steht.“ O-Ton Antonia von der Behrens, Nebenklage-Anwältin der Familie Kubasik: Diese Vernichtung von Asservaten von Jan W. hat uns tatsächlich fassungslos gemacht. Wir können uns da keinen Reim drauf machen, was das Motiv ist, dass aber nicht bekannt war, wer Jan W. ist, ist fast nicht vorstellbar. O-Ton Petra Pau, DIE LINKE, MdB, NSUUntersuchungsausschuss: Frau Merkel hat rückhaltlose Aufklärung im gesamten NSUKomplex versprochen. Die Ämter für Verfassungsschutz behalten uns Zeugen vor, schreddern Akten, sorgen dafür, dass wichtige Zeugen überhaupt nicht zur Aussage kommen. Das heißt, sie treiben die Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Meineid. Fünf Jahre verhinderte Aufklärung. Für die Angehörigen der NSUOpfer bleiben Merkels Worte ein leeres Versprechen. O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin, am 23.02.2012: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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